Tichys Einblick
Der Wahltag als Vereinigungsparteitag:

Biedermann und die Kommunisten

Wir erleben die Moralisierung der Wahlen. Was Luisa Neubauer fordert, ist im Grunde die Einführung einer unumschränkten Herrschaft einer Klimaschutz-Front aller Parteien. Der Generalsekretär einer sich liberal nennenden Partei hat offenbar nichts dagegen.

Screenprint: ZDF/Markus Lanz

Was Deutschland benötigt, hat Deutschland nicht, nämlich eine liberale Partei. Hinsichtlich der Freiheit ist die FDP ein Totalausfall. Freiheit, Eigentum und Wohlstand stehen zur Disposition. Und dabei ist Liberalität, Aufklärung, politische Rationalität wichtiger denn je in einer Zeit, in der nach den Worten von Luisa Neubauer die Wahl „eine moralische Frage“, eine „Gewissensfrage“ ist. Wir erleben einen Siegesszug totalitaristischer Politikvorstellungen, die Kevin Kühnert euphemistisch „utopisch“ nennt. Denn wer die Wahl, die eine politische Angelegenheit ist, zu einer moralischen macht, sorgt dafür, dass der, der „falsch“ wählt, unmoralisch ist und so durch Marginalisierung, durch Ausgrenzung, durch das Stellen an den gesellschaftlichen Pranger und durch wirtschaftliche Vernichtung bestraft und aussortiert wird. Das sind Zustände, die aus der Geschichte wohlbekannt sind.

Die Parteien haben in der Vorstellung des moralischen Wahlrechts nicht mehr, über Alternativen in der gesellschaftlichen Entwicklung zu streiten, sondern unisono im Bund mit den Medien die „Menschen“ auf einen Systemwechsel, auf tiefe Einschnitte in der Art, wie sie leben, einzustimmen. Luisa Neubauer setzt ihre anfechtbare Vorstellung als allgemeingültig und erwartet, dass alle ihrer Vorstellung folgen. Was Neubauer fordert, ist im Grunde die Einführung einer Ein-Parteien-Diktatur, und zwar die unumschränkte Herrschaft der Klimapartei. Das kennt man von Orwell, oder von der SED, in deren Vorstellung die Nationale Front als Höchstverwirklichung von Demokratie auftrat. Dass der sogenannte Klimaschutz nur eine totalitäre Mobilisierungsideologie für den vollständigen Systemwechsel, für die Abschaffung des Kapitalismus ist, hat Neubauer in einem Taz-Interview schon einmal eingestanden.

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Wenn das Mitglied der Grünen und Führungskraft von Fridays for future dekretiert, dass die Hauptaufgabe jeder demokratischen Partei der „Klimaschutz“ sei, dann heißt das im Umkehrschluss, dass Parteien, die der Neubauerschen Klimapokalyptik nicht bedingungslos folgen, keine demokratischen Parteien mehr sind. Was das für eine Partei bedeutet, wenn sie als nicht demokratisch eingestuft wird, dürfte jedem klar sein. In letzter Konsequenz fordert damit das Mitglied der Grünen Partei, Luisa Neubauer, dass Parteien, die nicht ihre Einschätzung des sogenannten Klimaschutzes teilen, sich nicht mehr an der Wahl beteiligen dürfen. Das nennt man Diktatur. Statt der Nationalen Front scheint Luisa Neubauer, ein anderer „demokratischer Block“, die Klimaschutz-Front vorzuschweben, mit Blockparteien, die sich den Neubauerschen Forderungen nach „Klimaschutz“, nach einer neuen Art der Politik, nach einer „radikalen Klimaschutzpolitik“ beugen. Diesen Forderungen widersprach Volker Wissing von der FDP bei Markus Lanz nicht.

Erstaunlich, dass es weder einem Moderator des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, der früher einmal auf Qualitätsjournalismus stolz war, bevor er die aktivistische Wende eingeleitet hat, noch zwei Politikern gelingt, den Unfug, den Luisa Neubauer im Stakkato von sich gibt, und den Kevin Kühnert resigniert milde als „postfaktisch“ charakterisierte, zu widersprechen. So schätzte die Klimaaktivistin in der 28. Minute bei Markus Lanz ein, dass die Erneuerbaren „praktisch komplett“ eingebrochen seien. Heißt das etwa, dass die vielen Subventionen, die schamlos überhöhten Energiepreise für die Katz waren? Dass wir die Kernkraftwerke abschalten und aus der Kohleverstromung aussteigen, hin zu einer Energieversorgung, die „praktisch komplett“ eingebrochen ist? Wenn Neubauers Behauptung stimmt – und weder die Vertreter der SPD, noch der FDP widersprechen – würde das bedeuten, dass die Parteien, die eben jene Energiewende vollziehen und aus nichterneuerbaren Arten der Energiegewinnung aussteigen wollen, sich „praktisch“ von der Energieerzeugung in Deutschland verabschiedet haben, denn die „Erneuerbaren“, wenn sie praktisch eingebrochen sind, kämen dann ja nicht mehr ihn Betracht. Energiepolitisch ginge diese Reise ins Nirvana, hin zu Energien, die „praktisch komplett“ eingebrochen sind. Genauer kann man es nicht sagen: Was den Bürgern theoretisch als Alternative vorgegaukelt wird, funktioniert praktisch nicht.

Man kann Kevin Kühnert nicht vorwerfen, dass er sich seiner Duz-Freundin Luisa Neubauer anbiederte, diese Rolle übernahm schon Volker Wissing von der FDP, der tatsächlich in der Art eines Musterschülers versuchte, die Grünen-Funktionärin zu überzeugen, dass die FDP weit besser für den „Klimaschutz“ sei als die SPD. Wer FDP wählen möchte, sollte sich in der Mediathek die Sendung mit Markus Lanz vom 21.09.2021 anschauen.

Während sich der Kanzlerkandidat der SPD vor einer Koalitionsaussage zugunsten der Linken herumdrückt, ist diese Frage für diejenigen, die tatsächlich in der SPD das Sagen haben, längst entschieden. Saskia Esken befürwortet eine Koalition mit den Linken. In Sachen Vereinigung mit den Kommunisten hat die SPD 1946 ja auch hinreichend gute Erfahrungen gemacht.

Politik zeigt sich wirklichkeitsfremd
Wahlkampf im Schrebergarten
Im April hatte Saskia Esken noch der Rheinischen Post gesagt: „Die Kombination aus SPD, Grünen und Linken steht für eine sehr progressive Politik, mehr noch als die Ampel“. Auch Kevin Kühnert, der sich so kurz vor der Wahl eher einer verschämten Wortwahl bedient, spricht sich für Rot-grün-rot aus, wenn es für Rot-grün nicht reichen sollte. Auf die Frage von T-Online –„Das klingt jetzt aber trotzdem so, als hielten Sie eine rot-grün-rote Regierung nach der Wahl für realistisch“ – antwortete Kühnert: „Lassen Sie uns kein Ratespiel daraus machen. Es ist absolut möglich, dass es für Rot-Grün reicht. Dafür kämpfe ich. Aber warum sollten wir eine Koalition pauschal ausschließen, die es in drei Bundesländern schon gibt?“ Schließlich, so argumentierte Kühnert: „Maaßen war in den vergangenen Jahren das größere Sicherheitsrisiko für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, als es Dietmar Bartsch je sein könnte.“

Der Rheinischen Post sagte Kevin Kühnert gerade über die FDP: „Lindner ist ein Spieler, der sogar Superreiche steuerlich entlasten will, gleichzeitig aber kein seriöses Finanzkonzept hat.“ Christian Lindner sei für ihn „ein Luftikus.“ Vergleicht man Kühnerts Aussagen über Dietmar Bartsch von den Linken mit denen über Christian Lindner von der FDP und nimmt man Kühnerts Ansage, dass er alles dafür tun werde, dass CDU/CSU nicht wieder in Regierungsverantwortung kommen, dürfte die Frage der Koalition, wenn die SPD die Wahl gewinnt, klar sein.

Man könnte einwenden, dass Olaf Scholz als Kanzlerkandidat das Sagen hätte. Hat er das? Oder wird er nicht eher der Frühstücksdirektor einer rotgrünroten, einer progressiven Regierung werden? Immerhin könnten über 50 Juso-Mitglieder nach der Wahl als Abgeordnete in den Deutschen Bundestag einziehen. Es ist Kevin Kühnert gelungen, nach der Schulz-Schlappe und dem Abgang von Andrea Nahles die SPD zu einer Juso-Partei umzubauen. Da sich auch die SED immer als progressive Kraft empfand und sich auch so charakterisierte, dürfte es auf dem Boden der Progressivität kein Problem zwischen Jusos und Kommunisten geben.

Untauglich
Die Kandidaten der Parteien im Assessmentcenter bei ARD und ZDF
Machen wir uns nichts vor. Das Parteiensystem implodiert seit Jahren. CDU/CSU und FDP stehen desorientiert im Raum, versuchen sich hilflos anzubiedern, während aktivistische Bewegungen, die nur noch dem Namen nach Parteien sind, die Politik beherrschen. Während der linke Sturm auf die Macht seine Kraft entfaltet, versuchen sich CDU/CSU und FDP im Tänzchen schamloser Greise, die hilflos durch höhere Sprünge, als ihnen gut täte, ihre Juvenilität unter Beweis zu stellen suchen, wo doch von ihnen keine Tänzchen, sondern die Übernahme von Verantwortung erwartet wird. CDU/CSU und FDP haben die Positionen, für die sie gewählt werden würden, geräumt.

Und die Linke? Sie wartet ab. Sie kann abwarten. Auch wenn ihr Baerbock, Habeck und Scholz nicht gewogen sind, so kennt die Linke doch die großen Sympathien, die sie in der Basis der Grünen und in der Juso-SPD besitzt. Sie setzt erklärtermaßen zu Recht auf die Basis der Grünen und auf den Parteiapparat und die neue Bundestagsfraktion der SPD. Wer meint, er wählt Angela Merkel, wenn er sein Kreuz bei Olaf Scholz macht, wird in einer grünen Gemeinwohldiktatur aufwachen. Er hat kein Recht darauf, sich zu empören, dass er getäuscht wurde. Er hätte es wissen können. Niemand hat etwas verheimlicht. Alle haben alles gesagt. Eines stimmt aber, es wird nicht so schlimm kommen, es kommt schlimmer.

Es bleibt dabei: Die Tage bis zur Wahl gleichen der Zeit, in der man das Quietschen der Bremsen hört und auf den erlösenden Aufprall wartet, nur, dass der Aufprall keine Erlösung bringt, sondern das Fahrzeug für lange Zeit ins Schleudern bringen wird.