Tichys Einblick
Corona-Update 04.01.2020

Corona-Bilanz 2020: Das nie eingetretene Katastrophenszenario

Die zweite Welle hat ihren Zenit wohl erreicht - Zeit für ein Resümee. Hat das Corona-Geschehen den Lockdown retrospektiv gerechtfertigt? Außerdem: Das Impfversagen in Deutschland und Europa.

Die Zahl der amtilch gemeldeten SARS-CoV-2 Neuinfektionen war zuletzt rückläufig. Vergleicht man die Zahl der Neu-Infizierten allerdings mit der Zahl der durchgeführten Tests, sieht man, dass über die Feiertage einfach viel weniger getestet wurde, das ist also nicht wirklich aussagekräftig –  zeigt jedoch abermals, wie willkürlich die Infektionszahlen des RKI sind, da sie schlicht von der Zahl der durchgeführten Tests abhängen.

Dennoch zeigt der Blick auf die härteren Zahlen der Toten und Intensivpatienten, dass die Zweite Welle ihr exponentielles Wachstum beendet hat und wir uns dem Zenit zumindest nähern.

Viel schlimmer wird es auch in dieser Welle wohl nicht mehr. Das Corona-Jahr 2020 ist vorbei. Zeit, sich also von immer neuen Horrorszenarien zu verabschieden und zu schauen: Was ist tatsächlich passiert? Und was hat konkret die Einführung eines Lockdowns gerechtfertigt? 

2020 sind nach den offiziellen Zahlen des statistischen Bundesamtes (die allerdings erst bis zur 48. Kalenderwoche, also Anfang Dezember vorliegen) 876.688 Menschen gestorben, das sind gegenüber dem Vergleichszeitraum 2019 15.426 Tote mehr. Vergleicht man die Todeszahlen, ist allerdings zu beachten, dass aufgrund der immer weiter alternden Bevölkerung eine jährliche Erhöhung des Todeszahlen vorprogrammiert ist, seit 2004 stieg die Zahl der jährlichen Toten im Durchschnitt um fast 10.000 jährlich. 

Und 2019 war ein relativ mildes Jahr, das schwere Grippejahr 2018 brachte im Vergleichszeitraum (jeweils bis zur 48. KW) sogar fast 2.500 Tote mehr als 2020. Auch diese Zahlen zeigen, was verschiedene Studien bereits vermuten ließen: Wir haben 2020 wahrscheinlich keine, auf jeden Fall aber keine außergewöhnliche Übersterblichkeit. Laut Daten von EuroMomo, das Todeszahlen aus verschiedenen europäischen Ländern vergleicht, erreichte Deutschland in 2020 in keiner einzigen Kalenderwoche einen „substantial increase“ im Vergleich zu den Vorjahren, während das bei der schweren Grippewelle 2018 mehrmals der Fall war.

Bei der Krankenhausbelegung sieht es ähnlich aus: Die durchschnittliche Zahl an Intensivbetten jeweils aus den Jahren 2016, 2017 und 2018 wurde im Jahr 2020 in keiner einzigen Woche (!) übertroffen, die durchschnittliche Krankenhausbelegung 2020 liegt also deutlich unter denen der Vorjahre. Daten der Initiative Qualitätsmedizin zufolge gab es 2020 insgesamt weniger Hospitalisierungen wegen schwerer Atemwegserkrankungen als 2019.

Heft 01-2021
Tichys Einblick 01-2021: Wer schützt unsere Demokratie vor Corona?
2020 gab es insgesamt 33.791 gemeldete Corona-Tote, nach der bis dato größten Obduktionsreihe ist bei etwa 14% der gemeldeten Coronatoten in Deutschland Corona nicht die hauptsächliche Todesursache – wir sind also wohl bei maximal 29.000 tatsächlichen Toten. Das RKI schätzt die Toten der Grippesaison 2017/2018 auf allein 25.000 – und auch das ist nichts Einmaliges, in der Saison 2016/2017 schätzt man 22.900 und in der Saison 2014/2015 21.300 Grippetote. Das RKI selbst nennt die geschätzten Todeszahlen für die Grippesaison „konservative Schätzwerte“. Die Zahl der Corona-Toten 2020 ist abdeckend, weil alle Toten im Verdacht auf Corona getestet werden. Die Coronatoten mit der Zahl der Grippetoten (auch wenn das nur Schätzwerte sind) zu vergleichen, ist also absolut zulässig. 

Ausgehend von der wöchentlichen Übersterblichkeit lässt sich errechnen, dass die Grippewelle 2018 in ihrer schlimmsten Woche mindestens 7.000 Todesopfer gefordert hat, die schlimmste Corona-Woche 2020 forderte hingegen nur 4.291 Todesopfer. 

Die Corona-Pandemie hat also nie ein Ausnahmeszenario erreicht und ist unterm Strich nicht wesentlich gefährlicher als die schweren Grippewellen der letzten Jahre. Der Lockdown, der zweifelsohne nur als kurzfristige Ausnahmemaßnahme denkbar ist, fällt damit von vornherein als Lösung weg – wir müssten ihn sonst jährlich ausrufen. 

Wir haben aber trotzdem ein erhebliches Problem, das ja nicht dadurch nichtig wird, weil es vorher schon da war. Insofern hat die Corona-Angst bei allen fatalen Folgen schon einen positiven Nebeneffekt: Sie macht uns auf ein Problem aufmerksam, das seit Jahren besteht, aber niemanden zu interessieren schein. Die desolate Lage unseres Gesundheits- und insbesondere unseres Pflegesystems.

Fast eine Million Heimbewohner gibt es in Deutschland, unter den über 90-Jährigen liegt die Quote der Pflegebedürftigen bei über 70%, bei den 85-90 Jährigen bei rund 50%. In Hessen sind 86% der Corona-Toten im Dezember Heimbewohner, in Schleswig-Holstein insgesamt sogar 89%. Wir haben also ein großes (Corona-) Problem in den Pflegeheimen. Und es betrifft substanziell eben nur diese ganz bestimmte Bevölkerungsgruppe. 

Man hat es versäumt, im Sommer Testkapazitäten aufzubauen, um die Pflegeheime effektiv zu schützen. Mit fadenscheinigen Argumenten wird der Einsatz von Schnelltests gebremst, obwohl genau diese das einzig leistungsfähige Werkzeug sind, Pflegeheime vor einem Ausbruch zu schützen. Jetzt im Dezember laufen Teststrategien an – doch es ist zu spät. Das Pflegepersonal ist unterbesetzt, den jetzt verabschiedeten Pflichten, die Bewohner und das Personal regelmäßig zu testen, kann oft nicht nachgekommen werden. Zusätzliche Hygienemaßnahmen sind nicht mehr leistbar, es fehlt auch an Schutzmaterial. 

Die Krankenhäuser sind in ähnlicher Verfassung. Intensivstationen laufen seit Jahren nur noch durch 24h-Stundenschichten und Arbeitszeiten, die gegen alle Arbeitsschutzgesetze verstoßen würden. Fernfahrer, Lagerarbeiter und viele andere Berufe dürfen weit weniger am Stück arbeiten als Chirurgen und Intensivpfleger.

Anstatt, wie es die Politik jetzt tut, eine erneute Verlängerung des Lockdowns zu beschließen, sollte man die unglaublichen Ressourcen und Gelder, die man damit verbrennt, in die Pflegeheime und Krankenhäuser stecken. Damit könnte man wirklich Leben retten. 


Das Impfdesaster

Eine andere große Hoffnung ist der Impfstoff. Die Risiken und Vorteile wurden in unserer letzten Ausgabe abgewogen. Und solange die Gerüchte von direkter Impfpflicht oder Impfpflicht durch die Blume von Restriktionen und Privilegien nicht Realität werden, ist dagegen gar nicht so viel einzuwenden: Die Entscheidung, was das größere Risiko ist – die Nebenwirkungen des Impfstoffs oder eine mögliche Corona-Infektion – muss doch jeder frei für sich selbst entscheiden dürfen.

Doch diesen Impfstoff, den sehr viele Menschen offensichtlich haben wollen, ausreichend zu besorgen, ist der EU nicht gelungen – obwohl Biontech ein deutsches Unternehmen ist und mit deutschen Steuermitteln unterstützt wurde. Israel impft an einem Tag mehr Menschen als Deutschland bisher insgesamt. 

Uns predigt man, es gehe bei allem um Leben und Tod – da fragt man sich schon, warum die Regierung dann nicht so viele Dosen wie möglich gekauft, sondern gezögert hat. Man schmückt sich gerne mit den Lorbeeren anderer: Den Impfstoff zu entwickeln, ist das Werk einer Gentechnik-Firma nicht von Jens Spahn, und diesen Imfstoff so schnell so weitläufig verfügbar zu machen, ist das Werk eines US-Pharmakonzerns und nicht der EU. In ihrer eigenen Logik müsste das Zögern etliche Menschenleben kosten – und wäre konsequenter Weise ein Rücktrittsgrund für etliche Verantwortliche. 

Impf-Nationalismus
Angela Merkel: Die nackte Kaiserin
Jetzt hat die EU zwar insgesamt zwei Mrd. Impfdosen bestellt (also vier für jeden EU-Bürger) und es sind trotzdem nicht genug vorrätig. Die Kosten von rund 12€ pro Impfdose von BionTech, so sickert durch, seien zu hoch gewesen, man setzte daher eher auf Produkte von AstraZeneca, die deutlich günstiger waren. Als ob das Geld, was zur Beschaffung des Impfstoffs notwendig ist, auch nur in der gleichen Dimension stünde, was ein weiterer Lockdown-Tag die deutsche Wirtschaft kostet. 

Abzuwarten bleiben allerdings die Auswirkungen der Anforderung an den BionTech-Impfstoff, dass er bei längerer Lagerung auf -70 Grad gekühlt werden muss. Das kann nur mittels spezialisierter Technik erreicht werden und es ist fraglich, ob es nicht zu Unterbrechungen der Kühlkette kommt. Die größte Sorge ist hierbei, dass eine solche Unterbrechung nicht bemerkt und am Ende ein nicht wirksamer Impfstoff verabreicht wird. Ab Ende Januar will BionTech es aber möglich machen, dass neue Produktionen weniger intensiv gekühlt werden müssen. Weitere Impfstoffe von CureVac, Moderna und AstraZeneca haben ebenfalls geringere Kühlanforderungen. 

Es ist gut, dass wir einen Impfstoff haben, doch das grundsätzliche Problem kann er nicht lösen. Denn einerseits können wir mit ihm im besten Fall im Herbst Corona hinter uns lassen, andererseits kommt dann eine neue Grippewelle, und wenn kein Umdenken stattfindet, geht der nächste Lockdown von vorne los. Dann muss wieder ein neuer Impfstoff entwickelt werden, was wieder mindestens ein Jahr dauert. Aus diese Spirale kommt man nicht mehr heraus. Die Verantwortlichen müssen intelligentere und spezifischere Lösungen für die geschilderten Problemfelder finden.

Und wir müssen unsere Indikatoren überdenken: Die WHO kann jetzt theoretisch nach eigener – geänderter – Definition jede Infektionskrankheit zur Pandemie ausrufen, bei der viele Menschen in vielen Ländern infiziert werden, in Deutschland haben wir uns an einen Maßstab von 50 bzw. 200 Infizierten pro 100.000 Einwohner gebunden, der allein schon deshalb willkürlich ist, weil wir mindestens 50% der Infektionen überhaupt nicht erkennnen. Maßgeblich sollte doch vielmehr die Gefahr und Letalität einer Erkrankung sein. 

Dass man am Jahresanfang in den Lockdown gegangen ist, kann man der Politik vielleicht nicht vorwerfen – keiner wusste etwas über dieses Virus. Aber dass sie nach einem Jahr immer noch keinen anderen Weg sieht, zeugt von fest aufgesetzten Scheuklappen, die verheerende Konsequenzen für Wirtschaft und Gesellschaft bedeuten. 

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