Tichys Einblick
Serie: America First - und wo bleiben wir?

Alles eins und nichts

Moral ist nichts Universelles – schon gar nicht in einer multikulturellen Gesellschaft, in der allein aus religiösen Unterschieden viel mehr noch als in der homogenen Gesellschaft unterschiedliche Vorstellungen von Moral existieren.

Seit der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten ist klar, dass die Globalisierung neu verhandelt wird. „Amerika first“ ist nur der Aufschlag zu einem neuen Interessenausgleich – wirtschaftlich, politisch und auch kulturell. Das bedeutet: Jeder ist gefragt, was er will, was er bringt, was er ist. Für die Deutschen heißt das: Sprecht für euch – nicht für weniger und auch nicht für mehr. Eine Reihe von Beiträgen stellt die Frage nach „diesem unserem Land“, wie es Helmut Kohl nannte. Heute lautet die Frage, was Deutschland ausmacht, was seine Begabungen, seine Interessen und seine errungenen Rechte sind. Auch die Bundeskanzlerin hat sich in diese Debatte eingeschaltet: Ihr Volk – das sind diejenigen, die hier leben. Wer also sind die Deutschen, wer ist dieses Volk? Heute schreibt Anabel Schunke dazu.

Wie kann man das, was in Deutschland gerade passiert, in Worte fassen. Jetzt, wo sich fernab von Sommermärchen, Sonnenscheindemokratie und Exportweltmeisterschaften angesichts akuter Terror-Bedrohung und Integrations-Mammutaufgabe zeigt, wie viel Substanz tatsächlich noch hinter dem Begriff „Deutsch“ steckt. Das niederschmetternde Ergebnis: Nicht mehr viel und schaut man auf das Verhalten von führenden Politikern und Justiz, scheint das zumindest durchaus so gewollt.

Was sich hier zeigt, ist nicht nur die innere Leere eines Volkes, dass selbst nicht mehr so genau weiß, wer es ist und was es eigentlich ausmacht, sondern vor allem die Leere einer politischen Spitze und medialen Beliebigkeitsöffentlichkeit, die es sich offenbar zur Aufgabe gemacht haben, auch noch dem letzten verbleibenden Teil der Deutschen, der sich auch noch als solcher definiert, sein „Deutschsein“ abzugewöhnen, indem man ihm nicht nur in den letzten Monaten das Recht auf Gefühle bezüglich bestimmter Themen abgesprochen hat, sondern auch das Recht, sich überhaupt als eigenständige Gruppe zu definieren und damit auch von anderen abzugrenzen.

Volk sind alle …

Kurzerhand wurde der Begriff des „Volkes“ von Bundeskanzlerin Merkel umdefiniert. Zum „deutschen Volk“ soll nun ab sofort jeder gehören, der hier lebt. Also auch all jene, die gerade erst vor wenigen Wochen oder Monaten ihren Fuß auf deutschen Boden gesetzt haben, über keinen deutschen Pass verfügen und noch nicht einmal die deutsche Sprache verstehen, geschweige denn sprechen. Ein durchaus praktischer Zug, spart man sich damit doch die längst lästig gewordene Diskussion um die ohnehin schwierige eigene nationale Identität. Um das, was das Deutschsein eigentlich ausmacht und die Leitkultur, in die man sich als Einwanderer wenn möglich noch vor einigen Monaten hineinintegrieren sollte. Deutsche – das sind ab jetzt einfach alle. „Das Volk ohne Eigenschaften“, wie Dirk Schümer die Deutschen Anfang des Jahres in einem seiner Essays auf WELT Online treffend nannte, steht damit dank weltweit einzigartigem Schuldkomplex und darauffolgender unkontrollierter Einwanderung nicht mehr nur im kulturellen, sondern ergänzend dazu auch endlich im rhetorischen Sinne kurz vor seiner Vollendung. Nie wieder böse Worte wie „Deutsche“, „Nation“ oder „Identität“ und den Integrationskurs für die Hunderttausenden mehrheitlich jungen Männer aus dem islamischen Kulturkreis spart man sich damit auch.

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Das ruft zunächst mitunter auch Empörung hervor. Zumindest im kleinen Teil der Bevölkerung, dem die eigene kulturelle Identität und die in diesem Land bis vor kurzem noch gelebten Werte etwas bedeuten. Und dennoch ist es nichts anderes als die logische rhetorische Fortführung der kulturellen Auflösung der Deutschen. Waren Deutsche vor einigen Monaten zumindest noch die, die in Abgrenzung zu den Neuankömmlingen „schon länger hier leben“, wurde nun auch diese Diskriminierung der neuen Bürger konsequent hinweggefegt, zumindest wenn sie von Deutschen ausgeht und nicht von Angehörigen anderer Nationen. Da ist es dann auch nicht so wichtig, dass das Grundgesetz eine Gleichsetzung von Volk und Bevölkerung nicht vorsieht. Dass man es damit nicht so genau nimmt, wurde bereits während der Migrationskrise eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Oder wurde die Gültigkeit von Artikel 16a inzwischen wieder hergestellt?

… oder niemand …

Mit dem Aufregen ist es so eine Sache. Gemeinhin verlangt der Deutsche da schon, dass man ihn von medialer Seite ein wenig darauf hinweist, worüber er sich jetzt im Einzelnen genau aufzuregen hat. Sarah und Pietro Lombardi, falsch verlesene Oscar-Gewinner oder eben doch Merkel oder Schulz, das sind die Themen. Die Schwerpunktsetzung der Medienvertreter gibt es vor und an die halten die Menschen sich auch gemeinhin. Und so kann es dann auch schon einmal passieren, dass man angesichts der ganzen Empörung gegenüber Trump vergisst, vor der eigenen Haustüre zu kehren. Mit dem Finger auf andere zeigen, ist angenehmer.

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Aber Merkels endgültige Auflösung des Begriffes des Volkes birgt neben sprachlichen und integrativen auch noch andere Vorteile. So liefert er nicht zuletzt auch die argumentative Grundlage für zweifelhafte Begründungen der Justiz, wie eine dieser Tage publik wurde. Malik Karabulut, ehemaliges Vorstandsmitglied des Türkischen Elternbundes Hamburg hatte die Deutschen vor einigen Monaten kurz nach der Armenien-Resolution des Deutschen Bundestages u.a. als „Köterrasse“ beschimpft. Der Straftatbestand der Volksverhetzung sei gemäß der Hamburger Staatsanwaltschaft jedoch nicht erfüllt. Die Begründung liest sich einmal mehr wie die Beschreibung zu Schümers Begriff des „Volkes ohne Eigenschaften“, denn damit der Straftatbestand der Volksverhetzung erfüllt ist, muss es sich „um eine Gruppe handeln, die sich durch irgendein festes äußeres oder inneres Unterscheidungsmerkmal als äußerlich erkennbare Einheit heraushebt.“ Für die Bezeichnung „Deutsche“ treffe das nicht zu, da diese sich nicht „als unterscheidbarer Teil der Gesamtheit der Bevölkerung abgrenzen lässt“.

Hätte sich bis vor Kurzem noch der eine oder andere über eine solche Begründung der Staatsanwaltschaft erzürnen können, ist man angesichts der jüngsten Aussagen der Kanzlerin hier durchaus gewillt, Einsicht zu zeigen. Wenn das deutsche Volk von bayrischer Dirndl-Trägerin bis hin zur afghanischen Burkaträgerin ab sofort jeder ist, dann hat die Staatsanwaltschaft Hamburg sehr wohl Recht, wenn sie einräumt, dass es sich bei den Deutschen nicht um eine klar zu identifizierende Gruppe handelt.

… vielleicht einige besonders oder eben nicht

Nun wirft eine solche Definition der Deutschen oder des deutschen Volkes jedoch auch Probleme auf. Wenn jeder zu dieser nicht zu identifizierenden Nicht-Gruppe gehört, die nicht beleidigt werden kann, wie sollen dann ab sofort noch Diskriminierungsvorwürfe ausgesprochen werden können? Aber die deutsche Justiz wäre ja nicht die deutsche Justiz, wenn sie in ihrer Begründung nicht auch dafür eine Lösung parat hätte.

„Bei allen Personen mit deutscher Staatsbürgerschaft handelt es sich um die Bevölkerungsmehrheit und daher nicht um einen Teil der Bevölkerung“. Weil es sich also nicht „um einen verhältnismäßig kleinen, hinsichtlich der Individualität seiner Mitglieder fassbaren Kreis von Menschen handelt“, könne das Kollektiv der Deutschen nicht beleidigt werden, so ergänzend die WELT.

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Will heißen: Alles und jeder, der hier wohnt, darf sich zwar sehr wohl zu den Deutschen zählen, beleidigt werden dürfen schlussendlich aber nach wie vor nur jene, die „schon länger hier leben“ oder zu keiner gesonderten Minderheit innerhalb dieser immer größer werdenden Mehrheit der nicht anhand von bestimmten Merkmalen zu identifizierenden Deutschen gehören. Deutlicher kann man die eigene Bevölkerung nicht diskriminieren, in dem man hier das Recht, eine Diskriminierung geltend zu machen, aberkennt, während man zeitgleich jedem anderen ermöglicht, zu dieser Mehrheit zu gehören und trotzdem weiterhin jene Sonderrechte zu genießen, die er auch vorher schon genossen hat. „Ermöglichung von Rosinenpickerei“ würde der eine dazu sagen, „Verhohnepiepelung“ der andere. Die Frage, die sich daraus ergibt, ist jene der Stabilität eines Landes, dessen Volk damit de facto keine Identität und keine eigenen an diese Identität geknüpften Rechte mehr besitzt. Was es mit jenen macht, denen jedwede nationalen und kulturellen Bezugspunkte Stück um Stück abgenommen werden.

Fakt ist: Ein moralischer Impetus allein reicht nicht aus, um eine Gesellschaft, ein Volk zusammenzuhalten. Vor allem, weil diese Form der Moral zumeist nur von dem Teil der Deutschen gelebt wird, der „schon länger hier lebt“. Weil Moral nichts Universelles ist – schon gar nicht in einer multikulturellen Gesellschaft, in der schon allein resultierend aus religiösen Unterschieden viel mehr noch als in der homogenen Gesellschaft unterschiedliche Vorstellungen von Moral existieren.

Menschen brauchen Bezugspunkte, identitätsstiftende Elemente. Sie sind es, die Orientierung geben. Erst recht in einer Welt, die zunehmend unübersichtlicher geworden ist. Wer Nation und Kultur als Orientierungspunkte nimmt, wer nicht nur Gefühle, sondern vor allem auch das Recht aberkennt, sich überhaupt als eigenständige Gruppe zu definieren und damit von anderen abzugrenzen, der verspielt nicht nur jeglichen Zusammenhalt und Loyalität innerhalb einer Gesellschaft, indem er sie der Beliebigkeit preisgibt, der nimmt auch das wesentlichste Instrument zur eigenen Identitätsbildung und den Einwanderern jegliche Möglichkeit zur Integration. Ein solches Volk ist kein Volk mehr. Nicht mal eines ohne Eigenschaften.