Tichys Einblick
AfD gegen Bundestag vor Verfassungsgericht

Die Glaubwürdigkeit des Parlaments steht auf dem Spiel

Seit 2017 verweigern die anderen Bundestagsfraktionen der AfD den Posten eines Vizepräsidenten, seit 2021 auch den Vorsitz in drei Ausschüssen. Das mag nach der Geschäftsordnung richtig sein. Der Außeneindruck ist verheerend. Nun treffen sich die Streitparteien vor dem Bundesverfassungsgericht.

IMAGO / Metodi Popow
Man kann niemanden zu einer Wahl zwingen. Von diesem demokratischen Recht machen die Fraktionen im Bundestag regelmäßig Gebrauch – wenn es darum geht, der AfD-Fraktion den Posten eines Bundestagsvizepräsidenten vorzuenthalten. Bereits seit 2017 spielt sich im deutschen Parlament immer dasselbe Spiel ab: die AfD stellt einen Kandidaten auf, die anderen Fraktionen lehnen ihn ab. In der Vergangenheit auch, wenn der AfD-Kandidat zum dritten Mal aufgestellt wird und die Blauen gezwungenermaßen eine neue Personalie aufstellen.

Bis zum Einzug der AfD galt das fair play, dass jede Fraktion einen Vize stellen darf. Es geht dabei nicht nur um Anerkennung. Sondern auch um einen Sitz im Bundestagspräsidium. Dieses Gremium hat keine unwichtige Stellung im Bundestagsbetrieb: wöchentlich sprechen die Mitglieder über interne Angelegenheiten des Hauses wie etwa die Verwaltung und Personal, aber auch über PR, Verträge und Parteienfinanzierung. An diesen Sitzungen nimmt derzeit kein AfD-Mitglied teil.

Die Geschäftsordnung des Bundestags hat seit 2017 eine Lücke offenbart. Denn die Urheber gingen davon aus, dass selbstverständlich immer auch ein Fraktionsvertreter zum Vizepräsidenten gewählt würde. Dass dies nicht passieren könnte, und so Fraktionsabgeordnete als Vertreter des Souveräns benachteiligt würden, hat man sich wohl nicht so vorgestellt. Dass die Abstimmung der Mehrheit, also die urdemokratische Methode, die Rechte der politischen Minderheit beschneidet, könnte als Beispiel eines Paradoxons dienen; aber es ändert nichts daran, dass der Vorgang von der Geschäftsordnung gedeckt ist. Und: Fraktionslose haben schließlich auch keine Vertretung im Präsidium.

Das Parlament als Herzkammer der Demokratie zeigt, dass die selbst festgelegte Arbeitsweise des Hauses schwerer wiegt als die Demokratie als solche. Daraus folgen allerdings zwei wesentliche Beobachtungen. Erstens: Wenn die Abgeordneten Vertreter des Souveräns sind, dann ist „der Souverän“ offenbar ein Wesen mit Abstufungen. Wie anders kann es sein, dass einige Vertreter mehr Rechte genießen als andere?

Zweite Beobachtung: Mit seinem Verhalten untergräbt der Bundestag seinen Anspruch, die Vertretung aller Deutschen zu wollen, wenn er über die Diskriminierung einer Fraktion auch deren Wähler diskriminiert. Ob das gemäß Geschäftsordnung oder juristischem Wege untermauert sein mag, ist dabei zweitrangig. Denn das Ansehen des Parlaments geht nicht von Paragrafen, sondern von dem Bild aus, das das deutsche Parlament mit diesem Vorgang bietet. Man will der AfD schaden, schadet aber damit dem Ansehen der Legislative – und dieser Ansehensverlust macht sich nicht nur bei den betroffenen AfD-Wählern breit.

Am Freitag war demnach Murmeltiertag. Der AfD-Kandidat Gereon Bollmann erhielt nur 84 Ja-Stimmen, 578 Bundestagsabgeordnete stimmten gegen ihn, 15 enthielten sich. Auch den Kandidaten für das Parlamentarische Kontrollgremium konnte die AfD nicht durchsetzen. Dort ist sie – wie im Bundestagspräsidium – nicht vertreten. Offenbar folgten die Abgeordneten dabei weniger ihrem persönlichen Gewissen, denn der ideologischen Überzeugung, gemeinsam ein „starkes Signal“ zu senden.

Geistig ist das nur einen Fingerschnipp von der Aktion auf der Leipziger Buchmesse entfernt, als die Masse Plakate erhob, um ihre Loyalität zur Demokratie zu bekunden. Dass solche Aktionen vielfach nicht das Gefühl von Gemeinschaft stiften, sondern eher Assoziationen mit ideologischen Massenbewegungen wecken, die Andersartige und Andersdenkende ausschließen, scheint man entweder nicht wahrzunehmen – oder geflissentlich zu ignorieren. Beides ist ein alarmierendes Zeichen.

Die Abstimmung am Freitag fiel dabei in eine bemerkenswerte Woche. Denn nicht nur im Bundestagspräsidium, auch in den Ausschüssen versuchen die anderen Fraktionen die AfD aus dem Betrieb zu halten. Während in der Legislatur 2017 bis 2021 AfD-Vertreter durchaus noch den Vorsitzenden in einigen Ausschüssen stellten – so etwa Peter Boehringer im Haushaltsausschuss – war das ab 2021 nicht mehr der Fall.

Anders als beim Bundestagsvizepräsidenten könnte es beim verweigerten Ausschussvorsitz ein Nachspiel geben. Denn üblicherweise werden die Vorsitzenden nicht gewählt. Stattdessen werden sie nach Stärke der Fraktion zugeteilt. Die Ausschüsse für Inneres, Gesundheit und Entwicklung fallen dementsprechend an die AfD. Das gerade ein AfD-Vorsitzender im Innenausschuss als „heikel“ aus der Perspektive der anderen Parteien gilt, ist nachvollziehbar – arbeitet doch das Innenministerium und der Verfassungsschutz direkt und indirekt gegen die AfD an.

Gegen den Brauch der Zuteilung hatten zwar die Parteien schon bei der Boehringer-Ernennung im Haushaltsausschuss verstoßen, als es dort zur Wahl kam. Boehringer hatte sich aber damals durchgesetzt. 2021 überließ man nichts dem Zufall und verhinderte den AfD-Vorsitz in den Gremien mit einer Geheimwahl. Die AfD ist deshalb vor das Bundesverfassungsgericht gezogen – und anders als erwartet gibt es Hoffnungszeichen für die Oppositionspartei.

So hat Christine Langenfeld, die Richterin des Zweiten Senats, eine Formulierung aufgenommen, wie sie für den größten Teil der bundesrepublikanischen Geschichte galt und wie sie auch die AfD angeführt hat, um ihre Benachteiligung als Oppositionspartei zu belegen. Langenfeld sprach von einer „langen Tradition der proportionalen Beteiligung aller Fraktionen“. Das grundgesetzlich geschützte freie Mandat vermittle den Abgeordneten das Recht auf gleichberechtigte Mitwirkung auf parlamentarische Arbeit. „Inwieweit aber ein Recht der Fraktionen auf proportionale Besetzung der Ausschussvorsitze besteht und ob dieses Recht unter den Vorbehalt einer Wahl beziehungsweise Abwahl gestellt werden kann, sei allerdings bislang offen“, berichtet die Welt einschränkend.

Der Prozessbevollmächtigte der AfD, Michael Elicker, sprach am Mittwoch von einem „Missbrauch gegenüber der politischen Opposition“, der „sehenden Auges verübt“ werde. Die Antragsgegner – der Bundestag, dessen Präsidentin und die vom Verfahren betroffenen Ausschüsse – halten dagegen: eine Wahl in den Ausschüssen sei stets erlaubt. Sophie Schönberger, Prozessbevollmächtigte der Gegenseite, argumentierte, dass die AfD einen „urdemokratischen Vorgang“, nämlich die Wahl, als Verletzung ihrer Fraktionsrechte verkaufe. Traditionen könnten überdies ohne Verfassungsbruch „geändert werden“.

Am Mittwoch nahm auch der SPD-Justiziar Johannes Fechner Stellung in Karlsruhe. In einer anderen Causa, nämlich der Abwahl des AfD-Vorsitzenden Stephan Brandner im Rechtsausschuss im Jahr 2019, führte er ein anderes Argument an. Er bestätigte zwar, dass jeder Fraktion ihrer Größe entsprechend Ausschussvorsitzende zustünden. Über die Qualifikation der Vorgeschlagenen entschieden aber die Mitglieder. „Die Ausschussvorsitze sind zu wichtig, als dass wir sie mit ungeeigneten Kandidaten besetzen können.“

So habe die AfD keinen wählbaren Kandidaten vorgeschlagen. Das gelte auch für den Gesundheitsausschuss. Dort haben die Parteien mittlerweile alle 5 AfD-Ausschussmitglieder durchfallen lassen. Der Argumentationslinie schloss sich auch der Unions-Justiziar Ansgar Heveling an.

Eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wird erst in ein paar Monaten erwartet. Seinen Schatten wirft das Verfahren aber jetzt bereits voraus. Die Tragweite des Konfliktes scheint noch nicht jedem bewusst zu sein. Dass es nicht so sehr um die Einflussmöglichkeiten der AfD, denn vielmehr um die Glaubwürdigkeit des Parlamentes geht, hat man außerhalb einiger Wagenburgen noch nicht verstanden.

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