Tichys Einblick
#Nichtmituns aber was dann?

Abkehr von Demokratie und Freiheit

Um die Integration steht es noch viel schlechter, als die Mehrheit und vor allem jene Deutschen, die auf einer Demo gegen Terror anstelle der Muslime ihre Schilder für den Frieden und die multikulturelle Gesellschaft hochhalten, wahrhaben wollen.

© Carsten Koall/Getty Images

Zehntausend sollten kommen zur islamischen Demo gegen Gewalt und Terror. Am Ende waren es, drückt man beide Augen großzügig zu, allenfalls 800 bis 1.000, die sich vor der aufgebauten Bühne auf dem Kölner Heumarkt einfanden, um gemeinsam mit den Initiatoren unter dem Motto #NichtMitUns ein Zeichen gegen den islamistischen Terror zu setzen. Man trat mit der Absicht an, das aufzuzeigen, was die Islamlehrerin Lamya Kaddor in den letzten Jahren nahezu in jeder öffentlich-rechtlichen Talkshow äußerte: Die Mehrheit der Muslime ist friedlich und integriert. In Berlin waren es dann eine Woche später wohl um die 100 Teilnehmer, die ein „Zeichen des gegenseitigen Respekts, des friedlichen Miteinanders zwischen Muslimen und Andersgläubigen“ setzen wollten. Zeitgleich kam es zu einer Demonstration, die sich offen gegen Israel richtet: Am Al-Quds-Tag ruft der Iran jährlich zur Eroberung Jerusalems auf: Die Juden sollen ins Meer getrieben werden. Al-Quds ist der arabische Name für Jerusalem – nichts da mit friedlich und Respekt und Miteinander.

Es gibt keine Verpflichtung, zu Demonstrationen zu gehen, die selbsternannte Islam-Vertreter ausrufen. Aus dem Scheitern einer Politaktivistin kann man nicht unbedingt schließen, welche Haltung unter Muslimen hierzulande für die Mehrheit steht und welche nicht. Aber die Zeichen mehren sich. Wer Energie findet, zu Tausenden in Europa auf die Straße zu gehen, um gegen Karikaturen zu demonstrieren, wer es zu jeder Großveranstaltung eines türkischen Politikers landauf, landab schafft, anzureisen, wer sich die Mühe macht, Shuttle-Busse aus kleineren Städten (wie z.B. aus meiner Heimatstadt) zur nächsten Wahlurne zu organisieren, um in einem Land, in dem man nicht einmal lebt, für die Diktatur zu stimmen, der hätte es, wenn er gewollt hätte, auch im Ramadan zu einer Demonstration gegen den islamistischen Terror geschafft. Zumindest, wenn er im Umland lebt. Was fehlt, ist nicht die körperliche Kraft, es ist der Wille, die Überzeugung, ein Zeichen setzen zu wollen und vor allem auch ein Zeichen setzen zu müssen.

Kein Aufstehen
In Leitmedien und im Islam: Die Selbstkritik fällt aus
Der andere Teil – und das ist in der Tat noch schlimmer – sieht, was der Terror mit der eigenen Religion und Kultur zu tun hat. Es ist jener Teil, der vielleicht selbst nach außen friedlich lebt, aber mit dem, was andere im Namen des Islams anrichten, sympathisiert, duldet, in vielen Fällen den Hintergrund abgibt, der Terror erst ermöglicht. Ein besonders drastisches Beispiel für derartige Sympathien ist der Fall von Salah Abdeslam. 120 Tage konnte sich der mutmaßliche Hauptdrahtzieher der Pariser Anschläge vom 13. November 2015 damals im Brüsseler Stadtteil Molenbeek verstecken. Es sind nicht nur Muslime aus arabischen Ländern, sondern leider auch Muslime mitten unter uns, die nach Terroranschlägen durch Geschmacklosigkeiten und offene Sympathien gegenüber den Terroristen auffallen. Die in den sozialen Medien oder teils sogar auf offener Straße feiern. In Deutschland sind diese offenen Sympathiebekundungen zwar noch eine Seltenheit, aber die Ansätze sind bereits erkennbar. Wer die Kommentarleisten der großen Nachrichtenseiten und muslimische Gruppen in den sozialen Medien hierzulande studiert, dem wird auffallen, dass sich neben Beileidsbekundungen in immer stärkerem Maße auch Kommentare von Muslimen finden, denen das Mitgefühl längst abhanden gekommen ist. Selbst Schuld seien wir aufgrund der Interventionen „des Westens“ im Nahen Osten. Weil wir Waffen liefern und weil unsere Medien „sowieso alle nur lügen“, wenn es um den Islam und Muslime geht. Nicht wenige zweifeln darüber hinaus an, dass es sich bei den Tätern „überhaupt um Muslime handelt“. „Inszeniert“ sei das alles, um Hass auf Muslime zu schüren. Die Parallelgesellschaft manifestiert sich eben schon lange nicht mehr nur anhand verschleierter Frauen und eigenen Stadtteilen mit ausnahmslos arabischen und türkischen Geschäften, sondern ebenso auch am Medienkonsum und den daraus resultierenden vollkommen konträr zur Mehrheitsgesellschaft verlaufenden Wahrnehmungen über Politik und Gesellschaft.

Hendryk M. Broder sprach einst in einem Interview mit WeltN24 über die Erdogan-Anhänger hierzulande von Menschen, die auf einem anderen Planeten lebten, genau das bringt es auf den Punkt. In der Tat handelt es sich um Leute, die mittlerweile nicht nur in Bezug auf die Ausübung ihrer Kultur und Religion, sondern auch in Bezug auf ihre generellen politischen Ansichten nicht mehr erreichbar scheinen. An denen jegliche Informationen deutscher Medien abprallen und nur das zählt, was im türkischen Staatsfernsehen, auf linken Verschwörungsseiten und in der eigenen islamischen Community berichtet und erzählt wird. Der Riss hierbei könnte nicht tiefer sein und zeigt einmal mehr, wie wenig gemeinsame Lebenswelt zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen auch hierzulande tatsächlich existiert. Erkannt wird die Tragweite des Problems dennoch nicht. Dafür ist man immer noch zu sehr mit dem vermeintlich „abgehängten Wutbürger“ beschäftigt. Die einst vornehmlich „linke“ Kritik an Auslandseinsätzen und Waffenlieferungen hat sich tief in die Mitte der Gesellschaft getragen und ist längst hipper Konsens in sämtlichen Medien und unter sämtlichen „Stars“. Sie ist auch nicht gänzlich unbegründet, aber in der Sache unterkomplex. Vor allem aber nährt sie das Selbstverständnis vieler auch hier lebender Muslime als Opfer des Westens, die für alles, was passiert, von Terror bis Krieg in den Heimatländern, nichts können. Und schon gar nicht der Islam – selbst wenn die innerislamischen Konflikte älter sind als jede US-Intervention.

Wie wenig viele hier lebende Muslime mit unseren, im Grundgesetz verankerten Werten, den Ansichten der Mehrheitsgesellschaft, mit dem, was als gesellschaftlicher Konsens eigentlich lange Zeit nicht mehr verhandelbar war, zu tun haben, zeigt sich jedoch noch mehr an anderer Stelle und wirft erneut die Frage auf, mit wem wir eigentlich in diesem Land zusammenleben und welche Gefahren von ihnen für die Stabilität der liberalen Demokratie ausgehen.

Dokumentation
Drohungen und Verwünschungen als Reaktion auf die „liberale Moschee“
Seyran Ates kennt sich mit Anfeindungen aus. Bereits 1984 wurde sie bei einem Attentat in der Frauenberatungsstelle für türkische und kurdische Frauen, die Opfer von häuslicher Gewalt wurden, in der sie während ihres Jurastudiums arbeitete, lebensgefährlich verletzt. Ihre Klientin Fatma E. starb. Erschossen während der Beratungszeit, von einem Mann, der später als Mitglied der nationalistischen türkischen Gruppe der Grauen Wölfe identifiziert wurde und als Auftragskiller gearbeitet haben soll. Der Mann wurde freigesprochen und lebt bis heute unbehelligt in Kreuzberg. Seither veröffentlichte Ates mehrere Bücher zum Thema Islam und sah sich im Laufe ihres Lebens immer wieder gezwungen, für gewisse Zeit abzutauchen. Es dürfte sie also nicht überraschen, dass sie auch jetzt zur Gründung ihrer liberalen Moschee erheblichen Anfeindungen und Drohungen ausgesetzt ist.

Was Ates und andere liberale Muslime und Islamkritiker nicht überraschen dürfte, ist dennoch kaum zu ertragen. Denn die Kritik kommt nicht nur, wie zu erwarten, aus arabischen Ländern, sondern eben auch aus Deutschland. Es wirft nicht nur die Frage nach den fragwürdigen Ansichten derer auf, mit denen wir hier zusammenleben, sondern auch die grundsätzliche Frage, wie liberal und demokratisch ein Land überhaupt noch ist, in dem man fürchten muss, von anderen Einwohnern mit dem Tod bedroht zu werden, nur, weil man es wagt, eine Moschee zu gründen, in der Männer und Frauen gemeinsam beten dürfen, keine Verpflichtung zum Tragen eines Kopftuchs herrscht und es eine Imamin gibt. Sicherlich, eine weibliche Priesterin wäre bis heute in der katholischen Kirche ebenfalls ein Skandal, aber würden sie deshalb Hunderte ernstzunehmender Morddrohungen aus der Mitte der Gesellschaft erreichen? Wohl kaum.

Verrat? Und wenn, an wem?
Rätselraten um Mimoun Azizi: False-Flag-Operation, Widerruf oder Zwang?
Der Fall Seyran Ates belegt besonders eindrucksvoll, wie es um die Akzeptanz der im Grundgesetz verankerten und damit für alle hier Lebenden verbindlichen Werte einer Vielzahl hier lebender Muslime steht. Die in Artikel 3 des Grundgesetzes verankerte Gleichberechtigung von Mann und Frau ist damit nicht nur etwas, was angesichts für jeden sichtbarer Symbole wie dem Kopftuch im konservativen Islam de facto nicht existiert, sondern etwas, was man anderen trotz der in Artikel 4 verankerten Religionsfreiheit, auf die man sich selbst immer wieder gerne bezieht, wenn es darum geht, eigene Forderungen durchzusetzen, gar nicht erst zugesteht. Etwas, was nicht nur in der eigenen Religionsausübung und Kultur nicht stattfindet, sondern bei anderen durch das Aussprechen von Morddrohungen und sogar den Vollzug (man denke da an die auch in Deutschland immer wieder begangenen Ehrenmorde) aktiv verhindert gehört. Daraus folgt, dass es sich hierbei nicht nur um eine stille Ablehnung unserer unveräußerlichen liberalen Grundwerte für sich im Privaten geht, sondern um eine aktive und offene Bekämpfung jener Werte. Durch Personen, die hier seit Jahrzehnten leben oder gar hier geboren wurden.

Damit wird ersichtlich: Um die Integration steht es noch viel schlechter, als die Mehrheit der Bevölkerung und vor allem jene Deutschen, die auf einer Demo gegen Terror anstelle der Muslime ihre Schilder für den Frieden und die multikulturelle Gesellschaft hochhalten, immer noch wahrhaben wollen. Es wirft in zweiter Instanz die Frage auf, wie man mehr als 1,5 Millionen aus dem islamischen Kulturkreis, aus Ländern, gegen die die Türkei wie eine blühende Demokratie erscheint, integrieren will, wenn es in mehr als 50 Jahren nicht einmal bei den anderen gelungen ist. Bei Menschen mit Migrationshintergrund, deren hier geborene Kinder und Enkel häufig noch konservativer und in der Ausübung ihrer Religion noch radikaler sind, als sie selbst es jemals waren.

Justice delayed is justice denied
Ruine Rechtsstaat?
Wir leben mit anderen in einem Land, von denen nicht wenige, wenn sie nicht offen mit dem Terror sympathisieren, ihn zumindest rechtfertigen und relativieren. Denen es in der ganz großen Mehrheit kein Anliegen ist, für ein friedliches Miteinander und die multikulturelle Gesellschaft auf die Straße zu gehen. An denen also jegliche jahrelangen und medial breit gestützten Bestrebungen zum guten Miteinander vollkommen vorbeigehen, während die Deutschen immer noch brav ihre Schilder alleine hochhalten und sich einreden, dass die Ohrfeige, die sie gerade wieder erhalten haben, doch nicht so schmerzhaft ist, wie es auf den ersten Blick erscheint. Wir leben mit jenen, die gegen andere Morddrohungen aussprechen, weil sich diese das Recht herausnehmen, nach den in unserem Grundgesetz verbrieften Rechten und Werten zu leben. Die ihnen ein Leben in Freiheit, wie wir sie genießen, mitten unter uns in der vermeintlich liberalen Demokratie Deutschland unmöglich machen und deren Anzahl in den letzten Jahren gerade aufgrund unseres Appeasements gegenüber dem konservativen Islam dramatisch gestiegen ist.

Damit haben wir letztlich nicht nur den wenigen liberalen Muslimen und ihren Reformbestrebungen einen Bärendienst erwiesen, sondern auch uns selbst und der gelebten Freiheit in diesem Land. Denn was sind unsere Werte und unsere im Grundgesetz verankerten Rechte noch wert, wenn ein Ausleben in der Praxis schon jetzt in manchen Aspekten nicht mehr möglich ist? Wie viel radikalen Islam, wie viel Übergriffe auf „Ungläubige“, spärlich besuchte Demos gegen den Terror und Morddrohungen gegen Reformer und Kritiker verträgt eine Demokratie, bevor sie keine mehr ist, bevor sich ihr eigentlicher Sinn entleert hat? Dies ist die Debatte, die endlich geführt werden muss.