Tichys Einblick
Viele Meinungen sind Vielfalt

Wie beim Impfen die Demokratie auf dem Spiel steht

Der Staat könnte und sollte die Spannung ums Impfen oder Nichtimpfen durch einen konsequent liberalen Kurs entschärfen. Doch die herrschenden Kräfte haben sich dagegen entschieden. Das ist gefährlich.

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Goethes Faust hatte zwei Seelen in der Brust. Ich fühle mich beim Impfen noch zerrissener. Da sind die Stimmen der medizinischen, epidemiologischen, psychologischen, ethischen Argumente, die FÜR die Impfung sprechen. Doch da sind zugleich medizinische, epidemiologische, psychologische und ethische Argumente, die GEGEN die Massenimpfung sprechen. Obendrauf kommen noch Gründe, die FÜR die Politisierung der Covidimpfung sprechen. Jedoch zusätzlich mindestens genausoviele Gründe, die GEGEN die Politisierung der Impfung sprechen. Und mit jedem guten Artikel, den ich lese, kommen auf der einen oder anderen Seite noch Argumente dazu.

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Was für ein wildes Stimmengewirr in mir, in das nur schwer eine Ordnung zu bringen ist. All diese Stimmen sind aber nicht nur in mir, sondern finden sich auch gesellschaftlich wieder und bringen sich in ganz unterschiedlichen Gruppen und Grüppchen zu Gehör. Das ist lebendiger Pluralismus in meinem Inneren. Das ist demokratische Vielfalt in der Gesellschaft.

Otto von Bismarck bringt diesen Zusammenhang von innerseelischem und gesellschaftlichem Pluralismus genial auf den Punkt: „Faust klagte über die zwei Seelen in seiner Brust. Ich beherberge aber eine ganze Menge, die sich zanken. Es geht da zu wie in einer Republik.“

Dieser Zank und diese Ambivalenzen im Seeleninneren und in der Gesellschaft sind gewiss nicht leicht auszuhalten. Aber ein Staat könnte diese Spannungen entschärfen durch einen konsequent liberalen Kurs: „Leute, unser gesellschaftlicher Streit ist wichtig und hilfreich. Diese Coviderkrankung ist so neu, dass wir noch gar nicht allzu Sicheres und allzu viel über dieses Virus und seine Mutationen sagen können. Die Gen-Impfung ist ebenfall neu und noch nicht genügend in Wirksamkeit und Nebenwirkungen erforscht. Seid bitte nicht so naiv zu meinen, dass man da schon nach 18 Monaten gesellschaftlich eine einheitliche Linie gefunden haben könnte. Darum zankt tüchtig und evidenzbasiert weiter. Das ist Wissenschaft, das ist Demokratie. Wir sind selber gespannt, wohin die Antworten in Zukunft gehen werden. Bis dahin wollen wir mit einigen grundlegenden Infektionsschutzgesetzen Vorsicht walten lassen. Und wenn die Covid-Skeptiker und die Covid-Hardliner mit diesen gesetzlichen Not-Maßnahmen im gleichen Maße unzufrieden (!) sind, dann haben wir bei den grundlegenden Infektionsschutzgesetzen die goldene Mitte gefunden auf dem Weg hin zu besseren Lösungen in der Zukunft, wenn unser Wissen über das Virus und seine Bekämpfung fundierter sein wird.“

Total Jugendlich – denkt die Regierung
Der neueste Impfkampagnen-Flopp der Bundesregierung: „Also gib dir den Stich“
Unsere Regierung samt den klassischen Parteien CDU-SPD-Grüne-Linke-FDP hat allerdings im Gezänk der Stimmen einen anderen, einen antiliberalen Weg eingeschlagen. Unsere Regierung hat von oben herab bestimmt, welche Stimme gut, solidarisch und richtig ist, und welche Stimmen falsch, „covidiotisch“ und unsolidarisch sind. Aus dieser gottangemaßten Haltung heraus ist aus dem demokratisch und wissenschaftlich fruchtbaren Streit der Argumente eine eintönige Dauerschleife der Monotonie geworden: „Impfen ist Liebe“, „Pandemie der Ungeimpften“, „Nichtgeimpfte sind Sozialschädlinge“, „wir impfen in die Freiheit“, bis hin zum „Impfen macht frei“ (Thomas Huber, Landtagsabgeordneter der CSU, wohl in geistiger Umnachtung und Geschichtsvergessenheit).

Mit Karacho weiter in die Sackgasse
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Wenn sich das Zentrum von Macht und Geld und Politik dermaßen geschlossen auf die eine Seite schlägt, dann gibt es natürlich in Medien, Kultur und Gesellschaft genügend Trittbrettfahrer. Und die Mehrheit der Mehrheit wird immer größer. Das heißt aber noch lange nicht, dass die Meinungen der minderheitlichen Stimmen unberechtigt oder falsch sind. Gesundheitsfragen werden nun mal nicht demokratisch entschieden, sonst gäbe es schon lange keinerlei Krankheit mehr.

Damit ist aus Otto von Bismarcks innererseelischer und gesellschaftlicher Vielfalt folgendes Credo geworden: „Wir beherbergen nur eine einzige Seele in unserer Brust. Es geht da zu wie im Totalitarismus.“

Dieser Totalitarismus spricht auch aus den Worten von Bundesjustizministerin Christine Lambrecht: „Alle (!) Argumente und Fakten sprechen für die Impfung.“ Die fachfremde Bundesjustizministerin brandmarkt die kritischen Argumente von zum Teil hochkarätigen Fachwissenschaftlern als völlig unberechtigt. Alle Liebhaber der Wissenschaft, der Demokratie und des Rechtsstaates sollten die Alamrglocken hören.

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Wo aber nur eine einzige Stimme als „Staatswahrheit“ herrschen darf, da müssen alle anderen Gegenstimmen unterdrückt werden. Gerne auch mit dem Mittel der Lüge, wenn etwa Karl Lauterbach von der „nebenwirkungsfreien Impfung“ spricht. Gerne auch mit dem Mittel der Gewalt, neudeutsch „Nudging“ (= „Schubsen in die richtige Richtung“). Spätestens wenn die ärmeren Impfskeptiker die täglichen Tests selber bezahlen müssen, werden sie dadurch so gewalttätig „geschubst“, dass sie blutig auf die Nase fallen. So brutal sieht das harmlos klingende „Nudging“ in der Realität aus; die Impfskeptiker werden aus der Öffentlichkeit ausgestoßen und in das Ghetto der Menschen zweiter Klasse abgeschoben. Schöne neue Welt!

Schneller als man denkt, geht in Systemen mit totalitären Zügen im Namen der Solidarität die Solidarität vor die Hunde. Schneller als man denkt, wird in totalitären Systemen im Namen des Gesundheitsschutzes die Gesundheit geschädigt, zumal wenn jetzt Altergruppen durchgeimpft werden, wo das Risiko durch die Impfung wesentlich höher sein könnte als das Risko durch das Virus.

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Deutschland steht mit dem Auslaufen der kostenfreien Testungen für Nichtgeimpfte vor einer entscheidenden Weichenstellung, die noch wichtiger ist als die Frage nach Impfung oder Nichtimpfung: Wollen wir weiter viele Stimmen in unserer Brust haben, die miteinander zanken, aber gerade so niemanden ausschließen, sondern alle zu Wort und zu ihren Grundrechten kommen lassen? Oder wollen wir in ein neues Miteinander mit totalitären Mustern, wo gleichgeschaltet in die eine Richtung gegangen werden muss und Andersdenkende verketzert und ausgesondert werden?

Wie immer in der Geschichte kommt auch dieses Mal der Totalitarismus im Namen des Guten – als „Wissenschaft“, als „Freiheit“, als „Sieg über die Pandemie“, als „große Transformation“, als „das neue Normal“, als „Gesundheitsschutz“, als „Weltrettung“.

Vielleicht werden wir eines Tages sehnsüchtig an den guten alten Faust denken, der zumindest zwei Seelen in seiner Brust haben durfte.

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