Tichys Einblick
Erdogans Blockade

Türkei in der Nato: Auf solche „Freunde“ kann man verzichten

Der Widerspruch des türkischen Machthabers gegen den Beitritt Schwedens und Finnlands könnte das westliche Bündnis in eine reale Existenzkrise zwingen. Nicht die beiden Beitrittswilligen, sondern Erdogans Türkei ist das Problem der Nato. Sie hat in ihr längst nichts mehr verloren.

Recep Tayyip Erdogan, Präsident der Türkei bei einer Rede in Ankara, 18.05.2022

IMAGO / Xinhua

In Sachen Freundschaft gibt es zahlreiche mehr oder weniger kluge Sprichwörter. Eines lautet, dass man in der Wahl seiner Freunde vorsichtig sein solle. Hübsch ist auch: Zeige mir Deine Freunde, und ich sage Dir, wer Du bist.

In Sachen Nato erleben die 29 Freunde gerade, dass sie sich diese Spruchweisheiten rechtzeitig hätten bewusst machen sollen. Denn einer der insgesamt 30 „Freunde“, die sich verpflichtet haben, sich gegenseitig zu verteidigen, stellt gegenwärtig unter Beweis, dass sein Freundschaftsbegriff etwas, sagen wir: speziell ist.

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Recep Tayyip Erdogan, seines Zeichens autokratischer Präsident der Türkei, lässt bislang keinerlei Bereitschaft erkennen, die beitrittswilligen Skandinavier aus Schweden und Finnland in das nordatlantische Verteidigungsbündnis aufzunehmen. Vielmehr scheint sich seine grundsätzliche Ablehnung Tag für Tag zu verhärten – trotz diplomatischer Versuche nicht nur der Beitrittswilligen, zu einer einvernehmlichen Lösung im Sinne der Nato-Gemeinschaft zu kommen.
Die Türkei – schon immer ein fragwürdiger Partner

Der grundlegende Dissens, der das Verteidigungsbündnis in eine reale Existenzkrise zwingen könnte, liegt deutlich tiefer als in jenen Vorwürfen einer angeblichen Terror-Unterstützung durch die Skandinavier. Er offenbart einerseits die innenpolitische Schwäche des Türken, dessen Wolkenkuckucksheime eines neo-osmanischen Erfolgsreichs langsam zu verblassen beginnen, weshalb er mit martialischen Auftritten seine nationalislamischen Anhänger durch anti-westliche Konfrontation hinter sich zu scharen sucht.

Gleichzeitig offenbart nach Jahren der Loslösung der Türkei von den Werten der Nato durch Islamisierung der Gründung Atatürks die Tatsache, dass das Land am Bosporus in der westlichen Wertegemeinschaft schon lange nichts mehr zu suchen hat.

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Ein schwieriger, ja problematischer Partner war die Türkei schon immer. Ginge es nach den Statuten des Bündnisses, hätte sie darin als Mitglied noch nie etwas zu suchen gehabt. Denn die hehren Ziele einer Wertegemeinschaft auf den Grundlagen von Freiheit und Demokratie waren den Türken nach 1945 fast immer schon abhold. Fragwürdige, wackelnde Demokratien lösten sich mit Militärherrschaft ab, welch letztere jedoch zumindest sicherstellten, dass die zweitgrößte Armee innerhalb der Nato eng vor allem an die USA angebunden blieb.

Das allerdings sollte sich unter Erdogan grundsätzlich ändern. Als der Islamnationalist Anfang des Jahrtausends in der Türkei auf damals noch demokratischem Weg an die Macht kam, schien das den meisten Partnern durchaus nicht unangenehm. Manch Christdemokrat wie jener CDU-Kurzzeitgeneral Ruprecht Polenz feierte die AKP sogar in fundamentaler Fehleinschätzung als türkische CDU.

Das türkische Militär von Nato-Kräften säubern

Der Muslimbruder fraß Kreide – und begann sehr gezielt und durchdacht sein Säuberungswerk in der Nato-affinen Generalität. Erdogan hatte stets vor Augen, wie frühere politische Führer vom türkischen Militär im Handstreich entmachtet und in Einzelfällen sogar zum Tode verurteilt worden waren. Das sollte ihm nicht passieren.

Nachdem er unter jeweils fadenscheinigen Vorwürfen all jene Nato-treuen Führungsoffiziere beseitigt hatte – manche schmoren bis heute in den Kerkern des Despoten –, machte er 2016 mit einem sorgsam inszenierten Pseudoputsch abschließend reinen Tisch auch im militärischen Mittelbau. Seitdem ist das türkische Militär „sauber“ – jenes Offizierskorps, welches an der Seite der Nato gestanden hatte und im Konfliktfall stehen würde, ist Geschichte. Die Nato, die sehr wohl die Protokolle und damit die Details des angeblichen Putsches in ihren gut geschützten Safes hat, nahm es hin und machte gute Miene zum bösen Spiel.

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Das Militärbündnis nahm es auch hin, als der Türke fast schon offen an die Seite der radikalislamischen Milizen trat, die in Syrien und dem Irak zum Völkermord an Jesiden, Christen und Kurden angetreten waren. Denn – fast schon pervers – das Bündnis meinte, im Kampf gegen den militanten Arm der Muslimbruderschaft auf diese Türkei, die längst jenseits jeglicher europäischer Traditionen von Menschenrecht und Demokratie agierte, nicht verzichten zu können.
Die Legende von der Unverzichtbarkeit

Diese Legende der Unverzichtbarkeit ist es, die vor allem bei der Nato-Führungsmacht ständig alle moralischen und werteorientierten Grundsätze über Bord werfen lässt. So, wie die USA im Kalten Krieg meinten, die Türkei als südöstliche Flanke der Nato gegen die UdSSR unbedingt zu brauchen, so war es in den ersten beiden Dekaden des 21. Jahrhunderts der Kampf gegen den IS, bei dem die Türkei angeblich benötigt wurde. Was allerdings einer gewissen Absurdität nicht entbehrte, weil, wie die Cumhuriyet 2015 aufgedeckt hatte, die Türkei selbst die Islam-Terroristen mit Waffen beliefert hatte.

Die Nato schwieg hier ebenso wie beim inszenierten Putschversuch von 2016 – und sie schwieg auch, als die Türkei wider die Grundsätze der Nato in Syrien einfiel, dabei die bis dahin friedliche Region Afrin gleichsam durch ihre Islamterroristen übernehmen ließ und im Norden Südkurdistans einen türkisch kontrollierten, sogenannten Sicherheitsstreifen einrichtete.

Erdogans Politik unterscheidet sich in vielem nur unwesentlich von der Putins. Träumt der eine von einem imperialen Großrussland unter seiner Führung, schwelgt der andere in der Wahnvorstellung der Wiedergeburt des Großosmanischen Reichs. Skrupel kennen sie beide nicht. Menschen sind für sie bestenfalls Instrument zur Erfüllung eigener Psychosen.

Die zunehmende Entfremdung führt in den Bruch

Die zunehmende Entfremdung unter den immer ungleicher werdenden „Freunden“ eskalierte zurückhaltend. War Barack Obama noch in der Lage gewesen, die Übernahme der kurdischen Grenzstadt Kobane durch die IS-Terroristen zu verhindern, indem er Erdogan zwang, die kurdische YPG über türkisches Staatsgebiet in die eingekesselte Stadt ziehen zu lassen, so tanzt Erdogan seitdem seinen westlichen Partnern auf der Nase herum.

– Deutsche Parlamentarier durften ihre Soldaten auf türkischen Nato-Stützpunkten nicht mehr besuchen. Die Bundeswehr verlegte deshalb nach Jordanien. 

– Der Kauf russischer Waffensysteme erboste die US-Administration in einem Maße, dass moderne Nato-Waffen nicht mehr an die Türkei geliefert wurden.

– Erdogans Vorgehen gegen die nordsyrischen Kurden, die im Kampf gegen den IS an der Seite der USA stehen, tat ein Weiteres.

– Um die EU, deren Mitgliedschaft der Türkei faktisch mittlerweile ausgeschlossen ist (auch wenn es keiner offen sagt), zumindest finanziell zu erpressen, inszenierte Erdogan Attacken sogenannter Migranten auf die griechische EU-Außengrenze und förderte das Schlepperunwesen in der Ägäis.

– Zudem lässt Erdogan keinen Zweifel daran, dass als Ergebnis des spätmittelalterlichen Überfalls türkischer Elitereiter auf das griechisch-römische Byzanz zumindest die Ägais-Inseln sowie Teile Nordgriechenlands und Bulgariens von ihm als türkisches Staatsgebiet beansprucht werden. Türkische Provokationen gegen den EU-Nachbarn gehören zur Tagesordnung in Ankara.

Erdogans Selbstbewusstsein und Putins Triumph

Mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine schwoll des Muslimbruders Brust weiter an. Nach wie vor verfügt er über die Kontrolle über die Meerenge zwischen Mittel- und Schwarzem Meer. Er kontrolliert also, ob Russland seine Schwarzmeerflotte substantiell verstärken kann. Deshalb meint er nun, die Nato wie einst die Merkel-EU am Nasenring durch die Arena führen zu können. Es geht dem kleinen Sultan nicht um Finnland und Schweden. Es geht ihm auch nicht darum, dass die Skandinavier beim türkischen Genozid an den Kurden eher an der Seite der Kurden stehen. Für ihn geht es jetzt ums große Ganze.

Antalya
Erdogan als Retter der Ukraine? Unwahrscheinlich
Schien es anfangs noch so, als wolle Erdogan lediglich auf dem Basar der Möglichkeiten ein paar Zugeständnisse und Waffenlieferungen erpressen, deutet sein Verhalten zunehmend darauf hin, dass er die Nato an sich an die Wand fahren möchte. Scheitert das Bündnis am Veto des im orientalischen Islam verankerten Mitglieds Türkei mit der Absicht, die kulturell westeuropäischen Staaten Schweden und Finnland aufzunehmen, ist sie faktisch am Ende. Die Blamage könnte für beide Seiten nicht größer sein: für die beiden abgelehnten Beitrittskandidaten und die Nato und deren 29 Länder, die die Skandinavier wiederholt zum Beitritt eingeladen haben.

Sieger wäre dann Wladimir Putin, der einen phänomenalen Triumph über das ihm verhasste Verteidigungsbündnis feiern könnte. Ein Triumph, der ihn nicht einmal eine einzige Patrone gekostet hat.

Oder doch? Am vergangenen Wochenende wurde ein türkisches Flugzeug beobachtet, welches aus Nato-Gebiet über Belarus Richtung Russland flog. Wer darin saß, welches das Flugziel war, blieb unbekannt. Könnte es sein, dass der Türke, dessen islamischer Ideologie der christlich-aufgeklärte Westen seit eh ein Dorn im Auge ist, über Mittelsmänner mit Russland Geheimverhandlungen geführt hat?

Gibt es türkisch-russische Geheimabsprachen?

Spätestens seit Molotow und Ribbentrop wissen wir, dass geheime Abkommen sehr weitreichende Konsequenzen haben können. Zahlt Moskau dafür, dass Erdogan die Nato erodiert? Beispielsweise damit, dem Türken in Syrien und Irak freie Hand zu lassen, nachdem Putin bereits russische Einheiten aus Nahost in die Ukraine verlegen lassen musste, deren Stellungen umgehend von den Terrorkämpfern des schiitischen Mullah-Regimes in Teheran übernommen wurden? Oder durch eine langfristige Lieferzusage sibirischen Öls zu günstigen Konditionen? Vielleicht auch mit beidem? 

Erdogans Hybris wähnt sich dem Russen ebenbürtig und intellektuell überlegen. Denn während Putin am vorläufigen Ende seiner imperialen Wahnvorstellungen diese mit einer stetig wachsenden Konfrontation zu Nato und Westeuropa sowie einem verlustreichen Waffengang bezahlen musste, hat sich Erdogan seine Etappenziele stets billig unter dem Murren seiner Partner organisiert.

Erdogan träumt von einer neuen Weltordnung, in deren Mittelpunkt Russland, China und sein Großosmanisch-Islamisches Reich stehen. Die Despoten dieser Länder sollen Euroasien unter sich aufteilen – vielleicht noch ergänzt um Indien.

Die USA betrachtet der Muslimbruder spätestens seit deren Unterstützung für den Ägypter A’Sisi gegen Erdogans Geistesverwandten Mursi und durch die engen Bindungen zu Israel und den arabischen Despoten als im Kern gegnerische Macht. Hier ist er sich mit seinen gefühlten Verbündeten einig: Die Amerikaner sollen sich auf ihren Doppelkontinent beschränken und sich aus dem Rest der Welt heraushalten.

Im Hintergrund steht Merkel
Die EU offenbart Erdoğan, dass er sie nicht ernst nehmen muss
Die Europäische Union ist für den Türken ebenfalls längst Geschichte. Er geht davon aus, seine islamischen Getreuen längst erfolgreich an den Pforten der Macht der beiden wichtigsten EU-Staaten platziert zu haben. Dort wird dieser türkischen Machtphantasie in einer Gemengelage aus wirrer Identitätspolitik und Multikulti-Weltideologie längst schon jeder Teppich ausgerollt. Lediglich die ehemaligen UdSSR-Satellitenstaaten widersetzten sich bislang erfolgreich der kontinuierlichen Unterwanderung der aus Ankara gelenkten oder unterstützten Islam-Verbände. Doch in Erdogans künftiger Weltordnung werden diese früheren Pufferstaaten zwischen dem Neurussischen Reich und den islamisierten Ländern Westeuropas erneut erst jede Bedeutung und dann auch ihre Souveränität verlieren.
Nato-Beitritt auch um den Preis eines Nato-Austritts

Der Nato-Beitritt der beiden Skandinavier steht insofern gegen alles, was sich Erdogan erträumt. Die Nato wird Farbe bekennen müssen: Will sie sich von einem unsicheren Kantonisten, der sich geistig längst schon vom gemeinsamen Wertekonsens und den politischen Nato-Zielen verabschiedet hat, in den Abgrund schubsen lassen – oder wird sie dann doch mehrheitlich die Aufnahme Schwedens und Finnlands nebst Statuten-Änderung gegen eine Stimme durchsetzen und den Großtürken vor die Alternative stellen, sich entweder damit abzufinden, oder aber seine Nato-Mitgliedschaft aufzukündigen.

Möglich, dass das einen vorübergehenden Verlust in der militärischen Schlagkraft des Bündnisses zu Folge haben könnte. Möglich auch, dass die Abwicklung der verwobenen Strukturen manches Problem mit sich bringt. Doch letztlich gilt angesichts der Alternative auch hier die Erkenntnis eines deutschen Sprichworts. Es lautet: Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.

Sachlich betrachtet ist die Türkei der Nato schon seit Jahren nur noch ein Klotz am Bein. Ist der Klotz bereit, noch weiter mitzugehen, so darf er sich nicht ständig schwerer machen. Ist er dazu nicht bereit, ist es an der Zeit, ihn abzulegen.