Tichys Einblick
Merkels Plan?

Doch noch GroKo? Wie sich alles fügen könnte

Unerwartet könnte sich auf dem Gabentisch statt des mit Ökopapier verschnürten schwarz-grün-gelben Päckchens nun das kleine Lackschwarze mit frisch gesteifter, knallroter Schleife finden.

© Patrik Stollarz/AFP/Getty Images

Können Sie, lieber Leser, sich noch an die langen Gesichter der SPD-Oberen am Wahlabend erinnern? Sicherlich. Und sie werden sich gedacht haben: „Ist ja klar, bei so einem schlechten Wahlergebnis!“

Selbstverständlich – das war ohne Zweifel eine heftige Klatsche. Die tat so richtig weh – vor allem dem gefallenen Heiligen der Hundert Prozent. Aber dennoch war die Trauer über die Abstrafung nur die halbe Wahrheit. Denn ob bei Sigmar Gabriel, Thomas Oppermann, Heiko Maas oder Katharina Barley – mehr noch als der Stimmenverlust der Partei schmerzte der anstehende Verlust von Ministeramt und Luxusprivilegien. Dabei hätte es doch gerade noch gereicht, die Große Koalition, in der sich Sozial- und Christdemokratie so bequem eingerichtet hatten, fortsetzen zu können!

Doch der im elsässischen Straßburg gestählte neue Chef wollte nun endlich doch ein Zeichen setzen. Und so setzte er im Eiltempo – die Wahllokale waren noch nicht richtig geschlossen und gerade erst die niederschmetternden Trends über die Sender gelaufen – die seine neue Linie durch: „Wir gehen jetzt in die Opposition!“ rief er seinen überraschten Genossen zu. Und wie das bei Sozialdemokraten so ist, wollte man nun an diesem traurigen Abend seinem gerade kläglich gescheiterten Vortänzer nicht noch mit Widerworten in den Rücken fallen.

Trauer trugen Gabriel und Co

Für Martin Schulz, der als selbsternannter Europapolitiker von Welt gestartet und als Buchhändler von Würselen hart gelandet war, stellte die der Abschied von der Macht im Spreebogen selbstverständlich kein Problem dar. Er war schon vor dem Wahltag nichts anderes als ein früherer EU-Parlamentspräsident und SPD-Vorsitzender – und beides würde er auch nach dem Wahltag sein, wenn es für seine Regierungsmehrheit nicht reichte. Finanzielle Verluste standen also nicht ins Haus – und außerdem war Schulz nun auch Bundestagsabgeordneter. Eine wenn auch nicht ganz so üppige Apanage wie dereinst in Straßburg war also gesichert.

Genossen ade
Scholz oder Schulz ist schnurz
Die wahre Trauer aber trugen andere. Zum Beispiel dieser Maas. Dessen ideologischer Kampf gegen alles, was er rechts von sich selbst wähnte, würde nun auf Sparflamme heruntergekocht. Oder dieser Gabriel, der seinen Kopf mit dem Schulz-Kandidatenvorschlag rechtzeitig aus der Schlinge der Selbstvernichtung gezogen hatte. Er hatte gerade begonnen, sich im Außenamt so richtig wohl zu fühlen. Noch vor der Rente ein wenig auf Steuerzahlerkosten in der Welt herumreisen und einen auf wichtig machen – das war etwas für einen Gymnasiallehrer aus dem verträumten Goslar.

Aber was sollten sie machen? Das Heft in der Hand hatte der gescheiterte Kandidat und 100-Prozent-SPD-Chef. Also fügte man sich – verzichtete aber vorsorglich auf den im Sinne politischer Hygiene notwendigen und angesichts der Kündigung der Regierungszusammenarbeit zwingenden Schritt, umgehend seinen Rücktritt von den Ministerämtern zu erklären. Und Mutti, die sich an ihre lieben Sozis so gewöhnt hatte, verzichtete großmütig darauf, die abtrünnigen Parteigenossen stante pede in die regierungspolitische Wüste zu schicken.

Auf der Suche nach neuen Partnern

Manch einer mag sich da schon gefragt haben, wieso eigentlich beide Seiten derart inkonsequent sind. Wenn ich, wie die Schulz-SPD es am Wahlabend laut verkündet und die künftige Fraktionsvorsitzende Andrea Nahles mit der Ankündigung, es den bisherigen Partnern „ab Morgen“ so richtig in „die Fresse“ zu geben, eindrucksvoll unterstrichen hatte, die Zusammenarbeit mit sofortiger Wirkung aufkündige, dann räume ich meinen Schreibtisch aus, packe meine sieben Sachen ein und gehe. Weil nämlich andernfalls mein frisch gekündigter Partner käme und mich unsanft vor die Tür setzte. Dass beides nicht geschehen ist, ließ daher schon in der Nachwahlwoche Fragen nach dem eigentlichen Inhalt dieser Kündigung aufkommen.

Die verlassenen Christsozialdemokraten machten sich also auf, neue Partner zu suchen. Da man mit den Schmuddelkindern von der AfD nicht spielen wollte, blieben nun nur noch die Vertreter der Kleinparteien FDP und Grüne. Doch so eine richtig innige Liebe schien nicht nur auf sich warten zu lassen – es wurde auch ein wenig kühler.

Was sind schon Fakten
Es geht um die Flüchtlingspolitik - nicht um Breitbandnetze
Der eine zu nassforsch, die anderen zu weit weg von dieser Welt, und dann noch eine CSU an den Hacken, der es im Moment ausschließlich darum geht, bei den anstehenden Landtagswahlen ihr absolutes Bayern irgendwie zu retten – da war der Weg nach Jamaika selbst bei bekifften Reggae-Rhythmen ein recht steiniger. Also stellte man den staunenden Bürger, dessen befragte Mehrheit nun plötzlich ebenfalls ihre Liebe für die Karibik entdeckte, vorsorglich schon einmal darauf ein: Vor Weihnachten wird das schwer. Aber vielleicht dann doch – mit einem hübsch geschnürten Paket aus Ökopapier in tannengrün auf gräulich-schwarzem Grund und gelben Happy-Sternchen auf dem Gabentisch. Gefüllt mit den Wohltaten von Diesel-Aus bis Weltklimarettungsplan, Zuwanderungsgesetz und Pseudo-Obergrenzen, ausgabewilligen Finanzministern und ein paar kleinen Steuergeschenken, die durch die Hintertür schnell wieder eingesammelt werden würden.
Von Kröten und Schauläufern

Aber ach, auch wenn die ersten Kuschelrunden der neuen Viererbande harmonisch abliefen – die dicken Brocken standen immer noch bevor, und vor eine Einigung hatte der Koalitionsgott noch viele Kröten gestellt, die wechselseitig zu schlucken sein würden. Vor allem die CSU fürchtete, dass die eine oder andere dieser Kröten derart warzig sein würde, dass sie ihr im Halse stecken bleiben müsste – und der eher auf Weißwurst und Radi statt auf Pinkel mit Grünkohl ausgerichtete Bayer bei der Landtagswahl sich anderen zuwenden könnte, weil er einen an dicken Kröten würgenden Seehofer dann doch nicht mehr an seinem Tisch haben wollte.

Während also die Jamaikaner in spe zum Schaulaufen antraten, tat der SPD-Oppositionelle Schulz alles, um seinen fundamentaloppositionellen Kurs festzuzurren. Der immer wieder verhinderte Bundesminister Thomas Oppermann durfte seinen Trostpreis als Fraktionschef an die Hoffnungsträgerin und Fresse-Hauerin Nahles abtreten. Damit er nicht mehr ganz so bedröppelt dreinschaute, gab es jetzt für ihn dann noch den Trost-Trostpreis als Vizepräsident des hohen Hauses. Nicht allerdings, ohne ihm dabei schnell noch ein blaues Auge zu verpassen, damit er sich nun auch so richtig darüber freuen kann, nicht gleich auf die Hinterbank strafversetzt worden zu sein.

Auch den Hubertus Heil hatte der Martin aus Würselen bereits vergrault – das Stehaufmännchen aus der Hannover-Mafia von Altbundeskanzler Schröder war dem Rauschmiss zuvor gekommen und hatte nach der Schlappe schnell seinen Verzicht auf die Fortsetzung des Amtes unter Schulz bekannt gegeben.

Um seine neue Linie nun auch in der Öffentlichkeit zu dokumentieren, verschrieb der Gescheiterte der SPD den Seinen einen neuen Linkskurs und frönte dem „Mut zur Kapitalismuskritik“. Sozialistisch back to the roots also, während sich die politischen Gegner zu den Klängen von Toots and the Maytals nach Jamaika jamten.

Wurzelsozialismus versus Kapitalistenkuscheln

Dieser kapitalismuskritische Wurzelsozialismus aber war nun etwas, was in den Reihen der Sozialdemokratie traditionell nur denen schmeckt, die ihre Karriere noch vor sich haben. Spätestens, wenn der gemeine Sozi seine Zunge in die Honigtöpfe der Macht gesteckt hat, wird ihm schnell bewusst: Macht kommt von Machen und nicht von Träumen. Zum Machen aber braucht man Geld und gute Freunde. Das wiederum findet sich am ehesten in der Wirtschaft. Und wie das nun einmal so ist – diese Wirtschaft ist kapitalistisch und findet es nicht prickelnd, immer wieder den Sündenbock für die verfehlte Politik verirrter Sozialdemokraten geben zu sollen.
Deshalb meldete sich nun der vom früheren Stamokapler zum wirtschaftsfreundlichen Hanseaten mutierte Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg zu Wort. Weltoffen und dynamisch wie seine Stadt legte der ob seines absoluten Mangels an jeglichem Charisma früher als „Scholzomat“ belächelte Sozi aus dem niedersächsischen Osnabrück ein als Grundsatzpapier bezeichnetes Werk mit dem programmatischen Titel „Keine Ausflüchte! Neue Zukunftsfragen beantworten! Klare Grundsätze!“ auf den Tisch. Darin forderte er allem anderen voran erst einmal die „schonungslose Betrachtung der Lage“. Wer sich ein wenig in Parteijargon auskennt, der weiß: So beginnen Sätze, die mit dem Rücktritt des Verantwortlichen enden. Außerdem legte der Hanseat, der weiß, wie wichtig gut gefüllte Pfeffersäcke für die Sozialdemokratie sind, großen Wert darauf, diesen ganzen Linksrutsch-Unsinn in Bausch und Bogen vom Tisch zu fegen. Klar, dass ihm bei dem Verfassen sein langjähriger Thinktankler und gut vernetzter Medienexperte Carsten Brosda hilfreich zur Seite stand.

Der Paulus zieht die Strippen

Es war unschwer zu übersehen: Hier hatte jemand den Fehdehandschuh in den Ring geworfen und die sozialdemokratische Machtfrage gestellt. Nun weiß ein jeder, der den Olaf ein wenig kennt: Zum Kämpfen tritt er nur an, wenn er sich seines Sieges ziemlich sicher ist. Nervenaufreibende und Ressourcen-zehrende Grabenkämpfe sind seine Sache nicht. Also wird er sich zuvor hinter den Kulissen der Unterstützung mächtiger Freunde versichert haben. Freunde wie Sigmar Gabriel und Heiko Maas, Katarina Barley und Brigitte Zypries. Und selbstverständlich dem mächtigen Obermauschelexperten der Sozialdemokratie, den vom Kapitalisten-fressenden Saulus zum erzkapitalistischen Paulus gewandelten Ex-Kanzler Gerhard Schröder.

Merkel sortiert aus, wer sie stört
Jens Spahn
Der durfte nun auch wieder einmal seine Qualitäten ausspielen und hatte in enger Abstimmung mit seiner Nachfolgerin Angela Merkel den wilden Mann vom Bosporus davon überzeugt, die Geisel Peter Steudtner ziehen zu lassen. Über den Preis, den Deutschland für dieses Entgegenkommen zahlen muss, schweigen sich die Beteiligten beredt aus. Doch das war nur ein Nebenkriegsschauplatz. Denn eigentlich hatte Schröder noch einen ganz anderen Auftrag in der maßgeschneiderten Jackettasche. Er sollte im Auftrag seiner langjährigen Freunde aus Niedersachsen und Hamburg ganz vorsichtig ausloten, ob denn die ewige Kanzlerin noch grundsätzlich zur Heimkehr in der Schoß der GroKo bereit wäre, sollte sich der etwas übereilte Beschluss der Aacheners als doch nicht ganz so zweckmäßig erweisen. Und da Merkel grundsätzlich lieber an dem festhält, was sie kennt und beurteilen kann, als sich einen Haufen quengelnder Regierungsneulinge ans Bein zu binden, fiel die Antwort verhalten positiv aus. Nur – darüber waren sich alle Beteiligten einig – durfte darüber selbstverständlich nicht ein Sterbenswörtchen an die Öffentlichkeit. Dort musste erst einmal der Beweis erbracht werden, dass Jamaika bei allem guten Willen der Beteiligten dann doch nicht der Stoff sein würde, aus dem die Träume sind.
Merkel und ihr Lieblingssozi

Damit stand die Linie fest. Merkel, die ohnehin in Olaf Scholz ihren Lieblingssozi hat – was auf Gegenseitigkeit beruht – wird weiter nach Jamaika paddeln und dabei auf zunehmend mehr Balken stoßen, die das Wasser der Koalitionsgespräche dann entgegen aller gängigen Spruchweisheiten doch hat. Und die SPD muss auf dem Parteitag ihren Verlierer Schulz aus dem Rennen nehmen. Daran wird derzeit gearbeitet. Fest an der Seite des Scholz stehen bereits die Niedersachsen und die Saarländer. Wer in den vergangenen Tagen genau hinschaute, dem blieb nicht unverborgen, dass sich zwischen Maas und Gabriel eine neue Freundschaft Bahn gebrochen hat. Auch die Schleswig-Holsteiner sowie die ostdeutschen Landesverbände und selbst der Südwesten mochten mit Schulz nie so recht warm zu werden. Und so wird es einsam um den gefallenen Messias – wenn dann noch die Westfalen, die der Rheinländerin Hannelore Kraft der Verlust der Macht am Rhein anlasten, ihre traditionelle Aversion gegenüber den zwangsvereinigten Frohnaturen vom Rhein reaktivieren, dann sieht es ganz schlecht aus für den West-Westdeutschen.

Die Wiederkehr der Macht des Klerus
Die Wahl des Bundestagspräsidenten – Dokument der Abkehr vom Laizismus
Steht dann erst der 1958 geborene Olaf Scholz oder vielleicht auch der gebürtige Hamburger und gleichaltrige Stephan Weil an der Spitze der Sozialdemokratie, dann lässt sich beim Scheitern von Jamaika schnell die Karte mit der staatsbürgerlichen Verantwortung der SPD aus dem Ärmel ziehen – und die derzeit recht unglücklichen Bundesminister der SPD können doch noch ein fröhliches Weihnachtsfest feiern, weil sie nun ihre schönen Ministeretagen nicht gegen die beengten Verhältnisse in den Abgeordnetenbüros tauschen müssen.

Während sich dann unerwartet auf dem Gabentisch statt des mit Ökopapier verschnürten schwarz-grün-gelben Päckchens nun das kleine Lackschwarze mit frisch gesteifter, knallroter Schleife findet und die erneut schnell befragte Bürgermehrheit jetzt wieder die Groko als Traumlösung loben wird, fällt das Weihnachtsfest für Özdemir-Eckardt und Lindner nicht ganz so freudig aus. Aber was soll es – Opposition liegt den Ökos, und die FDP wollte sich da ja auch mal richtig ausleben.

Ein wenig traurig sein wird auch Andrea Nahles, denn das mit dem „In-die-Fresse-geben“ wird sie nun noch etwas verschieben müssen. Aber sie wird schnell Trost finden in der Weisheit jenes großen Sozialdemokraten Franz Müntefering, der als Urvater der Merkel-Kolchose einst feststellte: „Opposition ist Scheiße!“

Und die Schmuddelkinder von der AfD? Nun, denen könnte Mutti Angela auch kein schöneres Geschenk auf den Gabentisch legen als dieses rot umschleifte. Dann sind sie nicht nur Oppositionsführer im Bundestag und Gauland-Weidel dürfen unmittelbar nach der großen Merkel ans Rednerpult – wenn sie sich nicht ganz dumm anstellen, werden sie dann in vier Jahren auch die 20-Prozent-Marke reißen. Denn dass die GroKo mit einem rundum kaum erneuerten Personal und einem aussortierten Wolfgang Schäuble nun eine Politik machen wird, die näher an den Sorgen der Bürger ist – das werden Merkel und Co. schon zu verhindern wisssen.