Tichys Einblick
Studien zur Seenotrettung im Mittelmeer

Was für und was gegen Kurz‘ Kritik an den NGO-Schiffen spricht

Sebastian Kurz hat mit seiner erneuten Kritik die Fragwürdigkeit der so genannten Seenotrettung im Mittelmeer wieder aufgeworfen. In den Medien klammert man sich an Studien, die vermeintlich die NGOs stützen. Argumente und eine Studie, die anderes nahelegen, werden umschifft.

MATTHEW MIRABELLI/AFP via Getty Images

Die Worte des österreichischen Bundeskanzlers im Bild-Interview sorgen weiter für Aufregung. Denn er widersprach da offen und unmissverständlich der in deutschen und europäischen Medien dominierenden Meinung: Indem er deutlich macht, „dass die Menschen, die in Griechenland gerade ankommen, größtenteils Wirtschaftsflüchtlinge sind und nicht Flüchtlinge im Sinne der Genfer Konvention“ bestreitet er auch die Deutung, dass Push-Faktoren, also die Zustände in den Herkunftsländern entscheidender als die Pull-Faktoren, nämlich die Anreize der Zielländer sind. „Wenn wir diese Menschen jetzt alle weiter nach Deutschland oder anderswo hinbringen, dann ist das genau das Geschäft der Schlepper. Denn das bedeutet, dass sich immer mehr Menschen auf den Weg machen, weil sie wissen, es funktioniert. Es führt dazu, dass immer mehr Menschen im Mittelmeer ertrinken.“ Besonders empörend finden viele Kurz’ konkrete Behauptung: „Private Seenotrettung führt zu mehr Toten“. 

Die darüber Empörten wissen ebenso wie Kurz, dass es hier nicht um Spitzfindigkeiten geht, sondern um das „Framing“, also die Deutung und Bewertung der Zuwanderungspolitik und der Aktivitäten von NGOs wie „Sea Watch“ und „Mission Lifeline“. Wenn sich Kurz’ Deutung – er sprach schon 2017 von einem „NGO-Wahnsinn“ – durchsetzt, die auch Frontex-Chef Fabrice Leggeri im Juli 2018 in einem Interview bekräftigte – die Schlepper wüssten, „dass die europäischen Schiffe kommen, die Leute wenige Meilen vor der Küste an Bord nehmen und 200 Kilometer weiter nach Europa bringen“ – , dann stehen Carola Rackete und Co nicht mehr als edle Lebensretter da, sondern als Helfer von Menschenschmugglern, die nicht nur nach Europa, sondern auch in Todesgefahr locken.

Nicht nur Politiker, sondern auch NGOs und Aktivisten und augenscheinlich auch Journalisten versuchen darum, ihr Handeln und Schreiben als von der reinen Wahrheit diktiert, als wissenschaftlich begründet und damit alternativlos darzustellen. Da kommen dann „Studien“ ins Spiel. Interessen oder Überzeugungen sollen scheinbar die reine wissenschaftlich fundierte, „empirisch“ belegte, unbestreitbare Wahrheit werden. Und es finden sich zu diesem Thema (wie zu wohl fast jedem) Wissenschaftler, die die Nachfrage bedienen. 

Kein Beweis
Breit zitiert, als Beleg wertlos: Oxford-Studie verteidigt NGO-Schiffe
Zum Thema „Seenotrettung“ von Migranten im Mittelmeer gibt es schon einige solcher Studien. Die meisten, zumindest die, die man durch Internet-Suchmaschinen am schnellsten findet, scheinen den NGOs und den über Kurz Empörten Recht zu geben. Eine der am meisten genannten, zum Beispiel beim Spiegel unter der Überschrift „Mehr Retter, mehr Flüchtlinge – warum das so nicht stimmt“ vorgestellte, stammt von Matteo Villa, Migrationswissenschaftler am „Italian Institut for International Political Studies“. Er kommt zum Schluss: „Der Pull-Faktor existiert nicht.“ Die Methode, mit der er darauf kommt: Er hat für die Zeit von Anfang Januar bis Ende Juni 2019 erfasst, wie viele Migranten von der libyschen Küste ablegen und an welchen Tagen dieses Halbjahres Boote privater Seenotrettungsorganisationen in der Nähe waren. Und, so der Spiegel: „An den 31 Tagen mit NGOs in der Nähe schickten Schlepper im Schnitt 32,8 Menschen aufs Meer. An den 150 Tagen, an denen keine NGOs in der Nähe der libyschen Küste fuhren, legten im Schnitt 34,6 Menschen ab.“ 

Das Problem dabei: Villa untersucht und widerlegt ganz offensichtlich nur einen tagesaktuellen Pull-Faktor und auch diesen eben nur in einer sehr kurzen Zeitperiode von sechs Monaten. Die grundsätzliche Entscheidung eines einzelnen Migrationswilligen, sich zuerst auf die lange, gefährliche Reise nach Libyen und dann in die Hände beziehungsweise auf das Schlauchboot einer dortigen Schlepperorganisation zu begeben, ist aber, wie jeder Migrationsforscher weiß und der Alltagsverstand nahelegt, keine ad-hoc-Entscheidung. Weniger die akute Anwesenheit von NGO-Schiffen, über die einzelne Migranten vermutlich ohnehin nicht genau informiert sein dürften, sondern die Glaubwürdigkeit, mit der die Schlepper ihnen die Anwesenheit dieser Schiffe in Aussicht stellen können, dürfte ein Faktor sein. Wie das konkret funktioniert, war auch schon im italienischen Fernsehen zu sehen – und hier auf TE zu lesen.  

Eine oft und auch im erwähnten Spiegel-Artikel genannte Studie ist die auf TE schon gründlich thematisierte Studie der Universität Oxford und der Scuola Normale Superiore in Florenz von 2017. Die Spiegel-Autoren kommen korrekterweise zum Fazit: „Die Erhebung, die zu den meistzitierten gehört, scheint einen kurzfristigen Pull-Effekt zu widerlegen. Doch sie untersucht nur Korrelation, keine Kausalität. Aber ob Seenotrettung langfristig zu mehr Migration führt, können die Soziologen nicht beantworten.“ Also kann dies auch nicht ausgeschlossen werden, müssten die vier Spiegel-Autoren in ihrem als „Fakten-Check“ gekennzeichneten Artikel eigentlich ergänzen. Aber dann hätte ja die schöne Überschrift nicht mehr gepasst. 

Schwache Kritik
Gerald Knaus wirft Sebastian Kurz Untätigkeit bei „Flüchtlings-Problem“ vor
Die Süddeutsche Zeitung macht es sich in einem erstaunlich faktenarmen Beitrag vom Juli 2019 noch einfacher. Zunächst stellen die Autoren Gilbert und Kastner fest: „Zwar kamen dieses Jahr in absoluten Zahlen weniger Menschen übers Mittelmeer als früher.“ Könnte das womöglich auf die restriktivere, NGO-feindliche Politik der italienischen Regierung zu Zeiten des Innenministers Matteo Salvini zurückzuführen sein? Wirkt also die Abwesenheit der NGO-Schiffe demotivierend? Statt die Frage auch nur zu stellen, verweisen die SZ-Autoren Gilbert und Kastner lieber auf den gestiegenen Anteil von Toten unter denen, die die Überfahrt wagten: „2015 kam einer von 269 Migranten ums Leben. 2018 starb einer von 51 Geflüchteten, und in diesem Jahr schon einer von 42.“ Die absoluten Totenzahlen nennen sie nicht: Laut Internationaler Organisation für Migration (IOM) kamen nach dem traurigen Höhepunkt von 5.143 Ertrunkenen im Jahr 2016 in den folgenden Jahren nur 3.139, beziehungsweise 2.299 und im vergangenen Jahr nur 1.291 Migranten im Mittelmeer ums Leben. Stattdessen beenden Gilbert und Kastner ihren Artikel mit dem zuvor gerade nicht belegten Satz: „Je weniger Rettungsschiffe kreuzen, desto mehr Menschen sterben.“ Nach dieser verqueren Logik wäre es wohl auch ein Erfolg der „Seenotrettung”, wenn wieder mehr ertränken, sofern nur die Gesamtzahl der Migranten auf dem Mittelmeer umso größer würde. 

Ein im Artikel der Süddeutschen zitierter Migrationsforscher sagt, es gebe „keinen einzigen Beleg“ dafür, dass von Rettungsschiffen, die zwischen Afrika und Europa kreuzen, Menschen zur Migration animiert würden. Zumindest mittlerweile stimmt das nicht mehr. Die Ökonomen Claudio Deiana, Vikram Maheshri und Giovanni Mastrobuoni haben ein mathematisch formuliertes (für Laien wie den Autor dieses Artikels daher kaum überprüfbares) Modell der irregulären Migration entwickelt, in dem sie die Wirkung der Rettungseinsätze auf die Schmuggelaktivitäten zwischen Libyen und Italien berechnen zu können glauben. 

Ergebnis: „Im Rückblick auf Daten aus fast einem Jahrzehnt zu den Überfahrten, stellen wir fest, dass die Rettungsoperationen zweifellos direkt Leben retteten, dennoch umgekehrte unbeabsichtigte Folgen gehabt haben können, die beachtet werden müssen. Erstens haben diese Operationen, indem sie das Risiko der Überfahrt minderten, wahrscheinlich mehr Migranten verleitet, die Überfahrt zu wagen, was wiederum mehr Menschen dem Todesrisiko während der Fahrt aussetzt. Zweitens  haben diese Operationen, dadurch dass sie die Kosten der Nutzung unsicherer Boote für die Schmuggler reduzierten, einen großflächigen Austausch weg von seetüchtigen Holzbotten hin zu schwachen Schlauchbooten veranlasst. Dadurch wurde der Nutzen der Rettungsoperationen zu einem Teil von den Menschenschmugglern eingesteckt.“ 

Weder der Süddeutschen noch dem Spiegel, der Zeit oder den öffentlich-rechtlichen Sendern, die über die Oxford-Studie und die von Villa berichtet hatten, war die Studie von Mastrubuoni bislang eine Meldung wert. Aber die NZZ berichtete im Dezember ausführlich darüber.

Sozialstaat als Pull-Faktor
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Die Autoren – Mastrubuoni gilt als renommierter Fachmann für die Ökonomie des Verbrechens – sind übrigens unverdächtig, politische Anhänger einer „Abschottung“ zu sein. Sie empfehlen den europäischen Regierungen schließlich nichts anderes als das, was die Berliner Regierung selbst auch gerne fordert oder verspricht: „Fluchtursachen“ in den Herkunftsländern eindämmen durch wirtschaftliche Hilfe und Schaffung von mehr legalen, „regelbasierten“ Einwanderungswegen. Aber vor allem erkennen sie – so fragwürdig eine mit ökonometrisch-mathematischen Methoden geführte Studie zu einem solchen Thema auch sein mag – vor allem eins, was die Retter selbst und ihre politischen und publizistischen Unterstützer in ihrer reinen Gut-Böse-Gesinnungsethik leider meist ausblenden, nämlich die „klare Evidenz, dass Migration und Schmuggel strategische Entscheidungen sind, getroffen von umsichtigen Handelnden unter angespannten Bedingungen.“  

Und was denken die Bürger des Landes, das für viele der Migranten das Traumziel jenseits des Mittelmeeres ist? Die kurze Antwort lautet den Pressemeldungen zufolge: Die Deutschen „unterstützen“ zu 75 Prozent die Rettungsaktivitäten der NGOs, laut Emnid-Umfrage vom Juli 2018, nur 38 Prozent denken, dass diese dem Geschäft der Schlepper nützen. Aber der zweite Teil der Umfrage macht deutlich, dass die Mehrheit der Befragten nicht die tatsächlichen NGO-Aktivitäten und Ziele befürworten, sondern sich eine andere Praxis der privaten Seenotrettung im Mittelmeer wünschen. Denn nur 42 Prozent der Befragten wollen, dass die Geretteten nach Europa gebracht werden – was die NGO-Schiffe tun – und 43 Prozent wollen, dass die Geretteten zurück nach Afrika gebracht werden – was die von den NGOs kritisierte libysche Küstenwache tut, und was auch Salvini, Kurz und andere Kritiker der NGOs befürworten. 

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