Tichys Einblick
"Prinzipienreiterei" und Inflationsfatalismus

Umfallen mit Ankündigung: Der einsame Lindner und die Schuldenbremse

Christian Lindner, Markus Söder und Hendrik Wüst bereiten schon ihren Abschied von der Schuldenbremse vor. Sie schwenken auf die Linie derer ein, die das Feuer der Inflation mit Benzin in Schach halten wollen. Dahinter zeigt sich die reine Ratlosigkeit vor den Trümmern der Schuldenpolitik.

Finanzminister Christian Lindner und Bayerns Ministerpräsident Markus Söder, 02.06.2022

IMAGO / Bernd Elmenthaler

Wie prinzipienfest Christian Lindner als Finanzminister ist, hat er im ersten Jahr seiner Amtszeit schon ausgiebig bewiesen (siehe hier und insbesondere hier). Insofern könnte man seine jüngste Aussage vielleicht als Ankündigung des nächsten Umfallens werten. „Ich habe gesehen, dass es einsamer um mich wird, nachdem auch Markus Söder jetzt gesagt hat, die Schuldenbremse sei eine Prinzipienreiterei“, sagte Lindner bei The Pioneer. Entsprechend halbherzig geht es weiter: „Ich bin der Meinung, wir sollten die Schuldenbremse achten und auch zu ihr möglichst im nächsten Jahr zurückkehren.“ Bei solcher dreifachen Relativierung – Meinung, sollten, möglichst – wird es wohl notgedrungen doch nichts mit der Schuldenbremse. Starke Worte benutzt er nur da, wo es unkonkret wird: „Man muss schnell und hart handeln, damit sich die Inflation nicht dauerhaft verfestigt.“

METZGERS ORDNUNGSRUF 07-2022
Ludwig Erhard: „Inflation ist Folge einer verbrecherischen Politik“
Lindners politische, nun ja, Instabilität ist bemerkenswert. Noch erstaunlicher war allerdings der Satz des bayrischen Ministerpräsidenten vom Mittwoch, auf den er sich bezog. Er sei zwar, sagte Söder, eigentlich für die Einhaltung der Schuldenbremse, „aber wenn es zu einer fantastisch großen, schlimmen Krise kommt? Einer Dimension, die über das hinausgeht, was wir denken? Dann kann doch Prinzipienreiterei nicht die Lösung für ein Land sein.“

Offenkundig ist für Söder wie für den Großteil der Ampel-Regierenden eine andere Antwort auf eine „fantastisch große, schlimme Krise“ als noch mehr schuldenfinanzierte Staatsausgaben gar nicht vorstellbar. Es ist absurd: Die aktuelle Inflationskrise, die höchstwahrscheinlich noch fantastisch größer und schlimmer werden wird, als sie schon ist, wurde durch die klimapolitisch gewollte Energieverknappung ausgelöst und durch den verbrecherischen Angriffskrieg Putins extrem beschleunigt. Aber der Urgrund dieser Inflation wie jeder anderen in der Weltgeschichte ist eine geld- und finanzpolitisch betriebene Schaffung von immer neuem Geld, das nicht ausreichend durch reale Werte gedeckt ist und den Staaten eine ausufernde Verschuldung ermöglichte.

Ludwig Erhard hat pointiert ausgedrückt, was heute fast alle Politiker lieber vernebeln: „Die Inflation kommt nicht über uns als ein Fluch oder als ein tragisches Geschick; sie wird immer durch eine leichtfertige oder sogar verbrecherische Politik hervorgerufen.“ Erhard war genau das, was Söder heute einen „Prinzipienreiter“ nennt. Inflation wird eben genau dadurch verhindert: durch das Einhalten des Prinzips einer stabilen Geld- und Haushaltspolitik.

Zeitenwende
Die Inflation ist Dynamit für die Politik
Nun ist sozusagen Zahltag. Die Folge der jahrzehntelangen Leichtfertigkeit der verantwortlichen Regierungspolitiker (inklusive ihrer geldpolitischen Kollegen in den Notenbanken) ist nicht länger zu verstecken. Aber ein Eingeständnis, „eine leichtfertige oder sogar verbrecherische Politik“ betrieben zu haben, kommt für sie natürlich nicht in Frage. Lieber spekuliert man auf die ökonomische Ahnungslosigkeit einer Öffentlichkeit, die im Gegensatz zu früher lebenden Deutschen keine Inflationserfahrung mehr hat und stattdessen gewohnt ist, dass auf jegliche Krise mit „Rettungspaketen“ reagiert wird, die mit großen Gesten des Pragmatismus aus Schulden geschaffen wurden, die wiederum nur durch Fiat-Geld aus dem Nichts möglich werden. Ein politischer Wetterfrosch wie Markus Söder macht sich diese Ahnungslosigkeit besonders geschickt zunutze.

Und sein Amtskollege Hendrik Wüst (CDU) in Düsseldorf, der mit den notorisch neuverschuldungsfreundlichen Grünen regiert, lässt sich auch nicht lumpen: „Erst die nächste Konjunkturprognose und die dann folgende Steuerschätzung werden zeigen, ob wir 2023 ohne neue Schulden auskommen, wie die Schuldenbremse das grundsätzlich verlangt, oder ob es eine Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts gibt.“ Was für ein Gleichgewicht das sein soll, das nur durch neue Schulden wiederhergestellt werden kann, erklärte er nicht. Wüst und Söder werfen Nebelkerzen.

Und so ist also eingetreten, was Ludwig Erhard in „Wohlstand für Alle“ befürchtete: „Wenn erst einmal eine zu leicht inflationistischem Trend hinführende Politik akzeptiert ist oder auch nur keinen Widerstand mehr findet, dann gibt es kein Halten mehr …“

Zeit zum Lesen
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Wäre es der deutschen und europäischen Politik ernst mit der Eindämmung der Inflation, die natürlich nur auf der Ebene der gesamten Eurozone erfolgversprechend sein könnte, dann müsste sie in Kauf nehmen, was Thorsten Polleit eine „Stabilisierungsrezession“ nennt. Das bedeutete letztlich eine Schrumpfung der Wirtschaft auf ein Niveau, wie es ohne die künstlichen Impulse der Politik des lockeren Geldes und der Staatsexpansion der letzten drei bis fünf Jahrzehnte bestünde. Das käme nicht nur einer enormen Bewährungsprobe der gesellschaftlichen Stabilität gleich, sondern auch einem Eingeständnis der grundlegenden Falschheit der luftigen Politik des illusionären Wirtschaftswachstums in diesen Jahrzehnten. So etwas kommt für Politiker nicht wirklich in Frage.

Die deutsche Politik von Ampel bis Unionslandesregierungen scheint sich also letztlich auf ein schuldenpolitisches Weiter-so zu einigen – im Einklang mit anderen Eurozonenmitgliedern. Die ökonomischen Folgen werden langfristig mindestens genauso schlimm sein wie die einer Stabilisierungsrezession, denn letztlich läuft dieses Weiter-so auf eine irgendwann fällige Währungsreform hinaus. Aber – so vermutlich das politische Kalkül – das kann man noch lange hinauszögern, und vor allem die Verantwortung dafür dürfte besser zu vernebeln sein – jedenfalls bis über die eigene Politikkarriere hinaus.

Beim ein oder andern deutschen Politiker, der sich noch einen Rest an Sinn für nationale Interessen erhalten hat, könnte auch eine andere Spekulation eine Rolle spielen, nämlich eine Art zynischen Euro-Fatalismus der Party bis zum bitteren Ende: Wenn mittel- bis langfristig in der Währungsunion ohnehin kein ausreichender Halt gegen die Inflationierung mehr zu finden ist, weil die Mehrheit der Staaten sich hemmungslos verschuldet, und die Währung irgendwann ohnehin ganz zusammenbricht, steht ein Staat, der noch stabil wirtschaftete, am Ende besonders dumm da, weil er für alle mithaftet, aber nicht in den Genuss der schuldenfinanzierten Ausgaben kam.