Tichys Einblick
VERDECKTE EU-ZENTRALISIERUNG?

Empörung über Ex-Verfassungsrichter Voßkuhle und das Aussprechen des Offensichtlichen

Der frühere Verfassungsrichter Andreas Voßkuhle erfährt eisige Reaktionen aus Brüssel und von den deutschen Regierungsparteien. Er hatte moniert, die EU-Kommission wolle „auf kaltem Wege“ in Europa „den Bundesstaat" einführen. Das Offensichtliche kritisch zu benennen, soll als unappetitlich erklärt werden.

Andreas Voßkuhle

IMAGO / Christian Spicker

Man muss wahrlich nicht Verfassungsrichter oder Staatsrechtler sein, um in der Europäischen Kommission und nicht zuletzt dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) ein mächtiges Interesse an der langfristigen Etablierung einer de-facto-Staatlichkeit der EU und der eindeutigen Unterordnung der Nationalstaaten auszumachen. Andreas Voßkuhle hat das Naheliegende und Offensichtliche nun ausgesprochen, als er vor einigen Tagen über diese „tiefere Motivation“ hinter dem Vertragsverletzungsverfahren der Kommission gegen Deutschland sprach und davon, dass diese „auf kaltem Wege“ in Europa „den Bundesstaat“ einführen wolle.

Die empörten Reaktionen in Brüssel und Berlin über den ehemaligen deutschen Bundesverfassungsgerichtspräsidenten zeigen, dass er da ganz offensichtlich an einen wunden Punkt rührt. Die getroffenen Hunde bellen nun. Für besondere Empörung sorgt, dass Voßkuhle von „kollusivem Zusammenwirken“ zwischen den EU-Institutionen und dem EuGH sprach. Das ist der juristische Fachbegriff für ein unerlaubtes Zusammenwirken.

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Die Kommission selbst begründet ihr Verfahren natürlich nicht so. Sondern damit, dass das Bundesverfassungsgericht 2020 unter Voßkuhles Vorsitz ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs verworfen hat. Das verletzt ihrer Ansicht nach den Grundsatz vom Vorrang des EU-Rechts. Voßkuhle und seine Richter-Kollegen hatten ein billigendes Urteil des EuGH zu Krediten der Europäischen Zentralbank an europäische Länder, beziehungsweise die Begründung dafür als „schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar“ bezeichnet.

Das konkrete Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland übrigens ist allein deswegen fragwürdig, weil überhaupt nicht ersichtlich ist, was dabei herauskommen soll. Es richtet sich gegen die Bundesrepublik Deutschland als Ganzes. Aber moniert wird nicht das Handeln der Bundesregierung, sondern ein Gerichtsurteil des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe. Letzteres ist bekanntlich – gemäß dem Prinzip der Gewaltenteilung – unabhängig von der Bundesregierung. Was die Kommission im Rahmen des Vertragsverletzungsverfahrens eigentlich von der Bundesregierung erwartet, bleibt unklar. Soll sie das Gericht abstrafen? Das kann sie gar nicht – Gott sei Dank. Soll das Gericht sein eigenes Urteil zurücknehmen? Undenkbar. Der eigentliche Zweck scheint darum im Verfahren beziehungsweise dessen Öfflichtkeitswirkung selbst zu liegen: ein Rüffel gegen das deutsche Verfassungsgericht.

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Diejenigen, die Voßkuhle nun kritisieren, tun dies letztlich in Form eines Maskentheaters. Sie kritisieren Voßkuhles Worte, werfen ihm das Fehlen „juristischer Argumente“ vor, aber sie widerlegen seine Kritik gar nicht sachlich. Denn jedermann weiß ja, dass es tatsächlich starke Kräfte nicht nur in der Kommission gibt, die das Machtverhältnis zwischen EU und Nationalstaaten zugunsten ersterer verschieben wollen. Und es ist kein Geheimnis, dass der EuGH seit jeher eine Hochburg dieser Tendenz ist. Das ist das eigentliche Konstruktionsproblem dieses Gerichts: Es hat sich nie mit der Rolle eines politisch neutralen Wächters des europäischen Rechts begnügt, sondern stets mehr oder weniger offen eine Ausweitung der Zuständigkeiten der Union (und damit auch seiner eigenen) gegenüber den Mitgliedstaaten betrieben. EuGH-Richter sehen sich eben nicht nur wie andere Verfassungsrichter als Wächter einer bestehenden Rechtsordnung, sondern als Vorkämpfer einer zukünftigen, übernational-europäischen. Dem EuGH ist immer wieder und nicht erst jetzt von Voßkuhle der Vorwurf gemacht worden, selbst politische Ziele zu verfolgen, nämlich ein „Agent der Zentralisierung“ (Roland Vaubel) zu sein. Zurecht.

Wenn ein Gericht nicht mehr nur neutraler Wächter der Rechtsordnung ist, sondern derart offensichtlich zum Treiber eines politischen Ziels wird, ist es nicht verwunderlich und auch nicht verwerflich, wenn es dafür mit politischen und nicht mehr nur juristischen Argumenten kritisiert wird. 

Aber genau das wollen sich der EuGH und die treibenden Kräfte auf ihrem Weg zum europäischen Bundesstaat ersparen. Dieser Weg soll politischer Kritik möglichst enthoben werden, indem er zu einer Angelegenheit des Europäischen Rechts erklärt wird. So ist die scharfe Zurückweisung Voßkuhles durch den früheren EuGH-Richter Jose Luis da Cruz Vilaca einzuordnen, der Voßkuhle vorwarf, seine „Antipathie” gegen den EuGH beruhe auf „keinerlei juristischen Argumenten”, sondern nur auf auf bloßen „Vermutungen über mutmaßliche geheime Absichten” des Gerichtshofes. Voßkuhle wird also auch noch in die Nähe von Verschwörungstheorien gerückt.

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Ähnlich gelagert war auch die Reaktion von Heribert Hirte. Der CDU-Bundestagsabgeordnete und Vorsitzende des Unterausschusses Europarecht, nannte Voßkuhles Wort vom „kalten Weg“ zum Bundesstaat „außerordentlich unglücklich“. Die naturgegebene Spannung zwischen EuGH und nationalen Verfassungsgerichten könne nur durch Dialog gelöst werden „und nicht durch harsche Worte“. Mit dem Vorwurf der „kollusiven Zusammenarbeit“ zwischen europäischen Institutionen und dem EuGH unterstelle Voßkuhle „eine fehlende Unabhängigkeit“ des Gerichts. Das lege „die Axt an die europäische Rechtsgemeinschaft“. Man fragt sich, wie sich Hirte einen Dialog vorstellt, in dem „harsche Worte“ nicht fallen dürfen.

Das Motiv der vereinten Empörung über Voßkuhle ist klar: Widerstand gegen den unerklärten aber unübersehbaren Anspruch des EuGH und den politischen Zug zum europäischen Bundesstaat soll als unangemessen, ja fast als unappetitlich abgestempelt werden. Das Muster kennt man von anderen Politikbereichen. 

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