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Der deutsche Wähler am Rande der Amnesie

Oder hat das Volk etwa die Pflicht, sich dümmer zu stellen als die Regierenden, damit diese glauben, sie seien schlauer als das Volk?

People pass by voting booths before casting their ballot at a polling station in Berlin, on September 22, 2013, the day of the German general elections.

© PHILIPP GUELLAND/AFP/Getty Images

Soeben hat das Markt- und Meinungsforschungsinstitut YouGov Deutschland GmbH festgestellt, dass sich 39 Prozent der Befragten im Juli 2017 nicht erinnern konnten, wie sie bei der Bundestagswahl vom 22. September 2013 gewählt haben. Offenbar „genießen“ in dieser Zeit pluralistischer Beliebigkeiten sogar ganz persönliche politische Präferenzen ein rapides Verfallsdatum.

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Für dieses Verfallsdatum gibt es Gründe. Erstens haben sich die allermeisten deutschen Parteien programmatisch, ideell und ideologisch bis zur Ununterscheidbarkeit einander angeglichen. Für den deutschen Michel waren sie damals schon, 2013, alle eins; in der DDR hieß das Blockparteien. Für den Wähler des Jahres 2013 war es also einerlei, wen er wählte, er wählte ja immer das Gleiche. Um wieviel mehr gilt das für das Jahr 2017, in dem (fast) alle gegen Diesel, alle für Willkommenskultur und Einwanderungsgesellschaft, alle für Klimaschutz, EU-Schuldenunion und gegen Trump sind? Dass zugleich der Anteil der Wechselwähler auf dem Papier größer geworden ist, kann insofern nicht verwundern – falls der Begriff „Wechselwähler“ dann überhaupt noch einen Sinn hat. Und dass die „Partei“ der Nicht-Wähler (und ungültig Wählenden) immer größer wurde, kann ebenfalls nicht verwundern. Diese „Partei“ ist mittlerweile die mit Abstand größte Partei, aber das scheint die etablierten Parteien nicht sonderlich zu kratzen. Auf Landesebene und bei den EU-Wahlen ist dies mit Wahlbeteiligungen von teilweise unter 50 Prozent längst, bei den Bundestagswahlen seit 2009 der Fall.

Zweitens: Demokratie in Deutschland ist zu einer Stimmungs- und Gute-Laune-Demokratie geworden. Der deutsche Michel lebt „gut und gern“ hier. Es geht ihm (vielen) gut, er wählt zu erheblichen Teilen aus einer Laune heraus. Es entscheiden momentane, politisch korrekte Stimmungen über des Wählers Wahlverhalten. Insofern ist es kein Wunder, dass laut German Longitudinal Election Study, Rolling-Cross-Section-Wahlkampfstudien 18 Prozent der Wahlberechtigten angeben, sie würden sich erst in den Wochen vor der Wahl entscheiden, rund 15 Prozent in den Tagen vor der Wahl und rund 10 Prozent erst am Wahltag selbst. So werden aus den Stimmungen von in der Summe über 40 Prozent Unentschlossenen dann doch noch Stimmen.

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Man könnte drittens auch sagen: Ob er nun wählen geht oder nicht, der deutsche Michel macht alles mit. Er ist ein braver, spießbürgerlicher Untertan. Es stört ihn nicht, dass nicht er qua Parlament der Souverän ist, sondern dass die Regierung den Volkssouverän kontrolliert und qua medial eifrig assistierter Volkspädagogik konditioniert. So steht es zwar nicht im Grundgesetz, aber instinktiv tut der deutsche Michael so, als würde dort stehen: Das Volk hat die Pflicht, sich dümmer als die Regierenden zu stellen, damit die Regierenden glauben, sie seien schlauer als das Volk.

Es ist doch alles egal. Eine vergrünte und sozialdemokratisierte Sponti-Kanzlerin wird auch zukünftig einsame (Nicht)Entscheidungen treffen, sie wird sich da und dort aus einem Brigitte-Plüschsofa heraus zu so grundsätzlichen Fragen wie der „Ehe für alle“ äußern. Sie wird dies nicht im Parlament tun. Sie kann Grenzen öffnen, wie es ihr beliebt; Energiepolitik betreiben, wie es ihr beliebt; sie kann Willkommenskultur trotz Kölner Domplatte und Berliner Breitscheidplatz pflegen. Und es geht ihr einfach so durch, dass sie sich in einem Super-ILLU-Interview über eine absehbare Restzeit für Verbrennungsmotoren äußert und damit einer De-Industrialisierung Deutschlands das Wort redet. (Merkel: „Ich kann jetzt noch keine präzise Jahreszahl nennen, aber der Ansatz ist richtig.“)

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Den deutschen Michel juckt das alles nicht. Er leidet zu erheblichen Teilen unter galoppierend fortschreitender, dauerhafter Amnesie (fachlich: unter dem amnestischen Syndrom). Das ist ein Krankheitsbild, bei dem jeweils für sich das Kurzzeitgedächtnis noch recht gut funktioniert und das Alt- bzw. Langzeitgedächtnis ebenfalls. Die Verbindung von Kurzzeitgedächtnis und Langzeitgedächtnis aber ist auf Dauer gestört. Das Kurzeitgedächtnis mag hellwach sein, aber aus ihm gelangt nichts mehr ins Dauergedächtnis. Der deutsche Michel vergisst einfach, was los war. Er breitet nicht nur den Mantel der Amnesie, sondern auch der Amnestie darüber aus. Und dann wählt er – wenn er überhaupt wählt – irgendeine der verähnelten und verfreundeten Parteien, wahrscheinlich eine, die ihn mit seinem Gewissen besonders ruhig schlafen lässt. Und wenig später hat er sogar dies vergessen. Siehe YouGov-Umfrage!

Allerdings fragt man angesichts eines – obendrein programmatisch reichlich seichten – Bundestagswahlkampfes 2017 schon, warum allein die Logistik der Bundestagswahl um die 80 Millionen kosten muss und warum die Parteien dafür noch einmal eine vergleichbare, größtenteils aus Steuermitteln aufgebrachte Summe für Wahlkampf aufbringen.


Josef Kraus war Oberstudiendirektor, Präsident des deutschen Lehrerverbands, wurde mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet und als „Titan der Bildungspolitik“ bezeichnet. Er hat Bestseller zu Bildungsthemen verfasst und sein jüngstes Werk Wie man eine Bildungsnation an die Wand fährt erhalten Sie in unserem Shop: www.tichyseinblick.shop.