Tichys Einblick
EU-Politik als "Innenpolitik"

Woran die EU zerbrechen kann

Ein kleiner Satz birgt den Sprengstoff, der bereits zum Brexit führte, und zu weiteren Brüchen in der EU führen kann: „immer tiefere Union“. In Wahrheit bedeutet es: immer mehr Konflikt.

IMAGO/C. Ohde

In der Außenpolitik gelten die Regeln der Diplomatie. Länder versuchen, ihre Interessen durchzusetzen, aber dabei beachten sie klare Umgangsregeln. Der Ton einander gegenüber ist diskret, meistens respektvoll, und selbst im Konfliktfall kodiert: Man fällt nicht mit derben Beleidigungen übereinander her, sondern ist „besorgt“ oder „enttäuscht“, oder fordert den Gegner auf, dies oder das zu tun oder zu lassen.

Innenpolitik hingegen ist ein Blutsport. Da geht es letztlich immer darum, den politischen Gegner zu dämonisieren, als böse und gefährlich darzustellen. Eine andere Waffe ist Spott: Man macht sich über den Gegenspieler lustig, um ihn zu erniedrigen. In der Diplomatie wäre all das kontraproduktiv, aber in der Innenpolitik ist es das Erfolgsrezept schlechthin. Hier geht es nicht nur um Interessen, sondern um Macht. Wer sie hat, verteidigt sie verbissen. Wer sie nicht hat, kann sie nur erringen, indem jemand anders sie verliert. Hier geht es, politisch gesehen, um Leben und Tod.

Zeit zum Lesen
„Tichys Einblick“ – so kommt das gedruckte Magazin zu Ihnen
In der Außenpolitik suchen die Akteure oft nach „Win-win“-Lösungen, also nach Vereinbarungen, die für beide Seiten vorteilhaft sind. In der Innenpolitik gibt es zwischen politischen Gegnern nur „Win-lose“-Situationen. Einer muss verlieren. Deswegen ist der Ton so aggressiv.

EU-Politik wurde lange nach den Regeln der Außenpolitik geführt. Souveräne Nationalstaaten hatten zwar einen institutionalisierten Kooperationsrahmen geschaffen, und einen Teil ihrer Souveränität mit diesen neuen europäischen Institutionen geteilt. Aber in diesem Kontext gingen sie respektvoll miteinander um und suchten immer nach Kompromissen, die für alle einigermaßen zufriedenstellend waren. Wo eine Win-win-Lösung nicht möglich war, verzichtete man auf Entscheidungen. Grundlagen dieses Arrangements waren das Vetorecht und die turnusmäßige Ratspräsidentschaft. Kein Land konnte gezwungen werden, gegen die eigenen Interessen und die seiner Bürger zu handeln.

(Nebenbemerkung: Nach der Interpretation des ungarischen Verfassungsgerichtes ist dieser Souveränitätsabtritt abhängig vom Willen und der Fähigkeit der EU-Institutionen, die Rechte und Interessen der ungarischen Bürger zu schützen. Sind die europäischen Institutionen dazu nicht fähig oder gar nicht willens, darf und muss der Nationalstaat vorübergehend unilateral handeln, ohne deswegen das Prinzip der „geteilten“ Souveränität zu bestreiten.)

Gerade weil keine Entscheidung gegen den Willen auch nur eines Mitgliedsstaates getroffen werden konnte, galten die Umgangsformen der Außenpolitik: höfliche Verhandlungen, um nach Win-win-Lösungen zu suchen.

Das hat sich spätestens seit dem Amtsantritt von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker 2014 geändert. Er machte daraus keinen Hehl: Er wolle sein Amt deutlich „politischer“ führen als seine Vorgänger. Eine Aussage, die kaum vorstellbar war ohne eine vorherige Absprache mit maßgeblichen Kräften in der EU, etwa Deutschland und Frankreich.

Seither ist EU-Politik zu „EU-Innenpolitik“ geworden, in denen die Regeln des innenpolitischen Beinebrechens gelten. Aus einer Union, in der es nur Gewinner gibt, wird eine Arena, in der manche siegen, manche unterliegen und blutend am Boden liegen bleiben.

Das EU-Parlament als Totengräber der Europäischen Idee
Juncker nannte den gewählten Ministerpräsidenten eines Mitgliedslandes (Viktor Orbán) „Diktator“, und Orbán, selbst ein vollendeter Meister innenpolitischer Schachzüge, entfesslte die „Juncker-Kampagne“, mit unvorteilhaften Plakaten über den Kommissionspräsidenten. Im Europaparlament posaunen Parlamentarier Beleidigendes über alles und jeden, über Mitgliedsstaaten, über die EU-Kommission, über einander. Hauptsache Schlagzeile!

„Innenpolitik“ ist die EU-Politik vor allem aus zwei Gründen: Erstens, weil immer mehr wichtige Entscheidungen nicht mehr im Konsens, sondern über Mehrheitsentscheid getroffen werden. Es bedeutet, dass in der EU von heute der Stärkere den Schwächeren zwingen kann, Dinge zu tun, die das betroffene Land und dessen Bürger gar nicht wollen. Und zweitens, weil das Europaparlament immer mehr Einfluss nimmt auf die Entscheidungsfindung. Dort wird nicht in Hinterzimmern zwischen Staatenführern verhandelt, dort gibt es ein Hauen und Stechen, wie es in Parlamenten üblich ist.

In Nationalstaaten ist dieser aggressive Ton nicht schlimm, es hilft vielleicht sogar den Bürgern, Positionen klarer zu erkennen und sich eine Meinung zu bilden. Obzwar gern geklagt wird über „Polarisierung­“ und „Spaltung der Gesellschaft“, wird letztlich der Nationalstaat daran nicht zerbrechen.

Aber die EU kann sehr wohl daran zerbrechen.

Die Selbstbehauptung Ungarns in einem Europa der Selbstaufgabe
Geschrumpft ist sie schon, und zwar genau deswegen: Der Brexit erfolgte, weil die EU sich in ein Gebilde verwandelt, in dem Instrumente entwickelt werden, um Minderheiten zwingen zu können, sich dem Willen der Mehrheit zu fügen. Die Engländer sahen nicht ein, warum sie Geld einzahlen sollen, das ihnen dann zum Teil zurückgegeben wird, aber mit strengen Vorschriften, wie sie es ausgeben sollen. Sie sahen nicht ein, wieso sie sich fesseln lassen sollen an kontinentaleuropäische Mehrheitsentscheidungen und sich juristisch in Abhängigkeit begeben sollen von kontinentaleuropäischen Gerichtsurteilen.

Schuld an all dem ist die Vision einer „immer tieferen Union“, wie sie im Lissabonner Vertrag festgeschrieben ist. Damals war es nur eine nebulöse Formulierung, die niemand wirklich ernst nahm, und deren wahre Bedeutung sich erst in den vergangenen zehn Jahren herauskristallisiert hat. „Immer tiefere Union“ bedeutet „immer mehr Agression“, immer mehr Spannung, immer mehr Konflikt und rethorisches Gift im Umgang miteinander.

Daran kann die EU letztendlich zerbrechen, oder zumindest weitere Mitglieder verlieren. So gesehen ist eine „immer tiefere Union“ gar nicht im Interesse der Union. Es schwächt sie, statt sie zu stärken.

Anzeige