Tichys Einblick
Erdogan und die Rumelien-Türken

Wie die Türkei muslimische Minderheiten auf dem Balkan für ihre Zwecke einsetzt

Erdogan baut fünfte Kolonnen auf in Bulgarien, Nordmazedonien, dem Kosovo und Albanien. Der Verband der »Rumelien-Türken« fordert eine stärkere Anbindung der türkischsprachigen und muslimischen Minderheiten des Balkans an die Türkei. Griechenland stellt sich dem entgegen.

IMAGO / Depo Photos

Sabri Mutlu ist der Vorsitzende der »Konföderation der Rumelien-Türken«. Rumelien hieß einst der europäische Teil des Osmanischen Reiches, also die Länder, die wir heute als Balkan zusammenfassen. Die »Konföderation« ist im Grunde ein Vertriebenenverband in der Türkei, der seine Arme aber heute wieder nach Südosteuropa ausstreckt.

Im an der Schwarzmeerküste gelegenen Samsun traf sich Mutlu im Februar mit angeschlossenen Vereinen und NGOs, um an die etwa vierhundertjährige Anwesenheit von Türken auf dem Balkan zu erinnern. Vor allem dankte Mutlu dem heute führenden Kemalisten, Kemal Kilicdaroglu von der CHP, dessen Strategie er dann wiedergab. Sie ist schnell zusammengefasst: Die Türkei soll die Region als ihren Hinterhof ansehen und dort mithilfe türkischstämmiger und muslimischer Bevölkerungsteile durch eigene Parteien und Nichtregierungsorganisationen den eigenen Einfluss ausbauen. Daneben sollen – ähnlich wie in den Vereinbarungen mit der EU – auch hier Städte- und Gemeindepartnerschaften der Sache weiterhelfen. Der türkische Fernsehsender TRT plant bereits Programme in verschiedenen Landessprachen.

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Die griechische Öffentlichkeit beobachtet diese Bemühungen mit Argwohn und unguten Erinnerungen. Denn auch im griechischen Westthrakien ist gemäß dem Lausanner Vertrag von 1923 eine muslimische Minderheit verblieben, deren Mitglieder häufig enge Beziehungen zur Türkei pflegen und von Ankara entsprechend vereinnahmt werden. Dass das Misstrauen begründet ist, zeigen Fälle wie eine im letzten Winter aufgedeckte Spionage-Mission. Ein thrakischer Muslim, der Koch auf der Fährlinie zur Grenzinsel Kastellorizo war, trug dem türkischen Konsulat auf Rhodos mutmaßlich strategische Informationen zu. Als Kontaktmann im Konsulat diente ein weiterer griechischer Muslim.

Der muslimisch-griechische Koch soll die Bewegungen der Marine in der Ägäis auf Photos festgehalten haben. Dabei handelt es sich um sensible Informationen – zumal in einem Umfeld, in dem die Türkei immer wieder mit Bohr- und Forschungsschiffen in umstrittene Gebiete vorstößt. Aus diesem Grund gab es binnen weniger Monate drei Generalmobilmachungen der griechischen Streitkräfte. Zweimal unterbrach der griechische Verteidigungsminister Nikos Panajotopoulos einen offiziellen Arbeitsbesuch im Ausland und befand sich dabei zufällig an den beiden Rändern Europas: einmal in Zypern, einmal in Portugal. Die Griechen sind in Fragen der territorialen Integrität penibel geworden, seit der Nachbar im Osten Anspruch auf zahlreiche Felsen in der Ägäis stellt und diese Ansprüche neuerdings mit Erzählungen von einer »Blauen Heimat« unterfüttert, die – ungeachtet der griechischen Inseln – weit in die Ägäis hineinrage.

Die Gefahr der politischen Unterwanderung

Hinzu kommt die wichtige Rolle der griechischen Marine bei der Abwehr illegaler Einreisen, die so hintertrieben werden soll. An der Landesgrenze versucht die Türkei indes mit allen Mitteln und unter Einsatz einer paramilitärisch ausgebauten Gendarmerie, illegale Migranten über die Grenze zu bringen. Deutliche Hinweise auf ein ähnliches Verhalten zur See, gibt es immer wieder, wobei türkische Küstenschützer ihre griechischen Kollegen mutwillig in die Irre führen, um Migrantenbooten den Weg zu den griechischen Inseln zu bahnen.

Das Beispiel der beiden türkischen Agenten, beide Muslime aus dem griechischen Thrakien, zeigt die Risiken, die in einer aktiven Unterwanderung auch alteingesessener Minderheiten liegen. Indem die Türkei versucht, die Auslandstürken an sich zu binden, verschafft sie sich »fünfte Kolonnen« im nahen Ausland und strebt offenbar die Bildung eines am Ende auch politisch zu nutzenden weiteren Einflussbereichs an. Dabei sieht man auch andere muslimische Bevölkerungsgruppen, gleich ob Albaner, Bosnier, Roma oder Pomaken, als Teil der eigenen Klientel. Muslimische Roma aus dem griechischen Thrakien berichten von den Unterwanderungsversuchen der türkischen Agenten.

In Nordmazedonien sind 33 Prozent der Bevölkerung Muslime; die Türkischstämmigen bilden hier mit knapp vier Prozent die drittgrößte Minderheit. Im Kosovo bilden Muslime, meist albanischer Herkunft, mit 95 Prozent die überwältigende Mehrheit, daneben gibt es auch hier eine Minderheit türkischstämmiger Muslime. In Bulgarien leben rund neun Prozent Türkischstämmige, die auch bereits durch eine Partei, die DPS, vertreten sind, die schon seit einigen Jahren an der Regierung beteiligt ist. Vielleicht ist der bulgarische Staatspräsident seinem türkischen Amtskollegen auch deshalb so zugetan.

Türkische Satelliten auf dem Balkan?

Sabri Mutlu, der Vertreter der Rumelien-Türken, möchte den »Auslandstürken« ein offizielles Dokument verschaffen, durch das ihre türkische Herkunft belegt würde. Ein solches Dokument, in Massen ausgegeben, könnte dann als Hebel bei der Durchsetzung von Minderheitenrechten dienen, an denen wiederum die türkische Außenpolitik in der Region ansetzen könnte. Am Ende besäße die Türkei halbe oder richtiggehende Satellitenstaaten in der Region. Es ist kein Geheimnis, dass dies für die Perlenschnur aus Nordmazedonien, Kosovo und Albanien schon weitgehend zutrifft.

Seine Forderungen fasst Mutlu in einem Satz zusammen, der die Neuigkeit seines Ansatzes verschleiert: »Das türkische, muslimische und osmanische Gleichgewicht, das es fünf Jahrhunderte lang auf dem Balkan gab, muss auch heute erhalten werden.« Als ob der osmanische Einfluss auf dem Balkan sich im 20. Jahrhundert bruchlos erhalten hätte. Vielmehr soll er heute neu aufgebaut werden – als Element einer hegemonialen Außenpolitik in der Region.

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In Griechenland wird dieses Ziel nicht leicht zu erreichen sein, unter anderem weil sich die muslimische Minderheit geographisch auf die Region Ostmakedonien-Thrakien konzentriert. Es handelt sich laut dem Lausanner Vertrag ausdrücklich um eine muslimische, keine türkische Minderheit. Darauf wird die griechische Regierung auch weiterhin bestehen. Zweifel kommen aber auf angesichts der Rolle der Pakistanis und der anderen muslimischen Neu-Einwanderer, die sich teils schon in Verbänden organisiert haben.
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Dagegen behauptet der türkische Außenminister bei seinem jüngsten Besuch in Westthrakien immer wieder, in der griechischen Grenzprovinz gebe es eine »türkische Minderheit«. Ständig sprach Mevlüt Cavusoglu von seinen »Landsleuten«, den »Türken Westthrakiens«, schließlich sogar von zwei »türkischen Mittelschulen« – alles unter der Beobachtung zahlreicher Medienvertreter, die in seinem Schlepptau angereist waren. Der Staatsfunk TRT schrieb von »150.000 muslimischen Türken«, die dort seit Jahrhunderten lebten. Laut offiziellen Zahlen leben aber nur um die 100.000 Muslime in der griechischen Provinz, darunter verschiedene Volksgruppen.

Die slawophonen Pomaken und muslimische Roma im griechischen Thrakien erteilten Cavusoglu eine deutliche Absage. Nicht erwünscht, persona non grata sei er in ihren muslimischen Gemeinschaften. Er solle sich lieber für die türkisch-osmanischen Verbrechen der Vergangenheit entschuldigen oder kurdische Dörfer in der Türkei besuchen.

Heikel für Griechenland: 2008 hat auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte das Recht einer Vereinigung von Muslimen in Thrakien anerkannt, sich selbst als »Türkische Vereinigung« zu bezeichnen. Dies stelle »keine Bedrohung für eine demokratische Gesellschaft« dar. Die griechischen Behörden wussten die Wiedergründung der Vereinigung unter dem kontroversen Namen seither dennoch zu verhindern. Der Gerichtshof des Europarats ist freilich dafür bekannt, die Europäische Menschenrechtskonvention konsequent über die Interessen der Mitgliedsstaaten zu stellen.

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Nicht vergessen werden darf in diesem Zusammenhang, dass sich die Türkei ihrer Verpflichtungen aus dem Vertrag von Lausanne auf widerrechtlichem Wege entledigt hat, als sie die Vertreibung der christlichen Bewohner Konstantinopels im »Pogrom von Istanbul« vom 6./7. September 1955 geschehen ließ. Historiker vermuten, dass der türkische Staat an dem Pogrom, zu dessen Opfern auch Juden und Armenier gehörten, sogar selbst mitwirkte. Im Hintergrund stand das Bestreben der damaligen Regierung von Adnan Menderes, die bis dahin angeblich unterdrückte Religion des Islams zu »befreien«. In der Folge wanderte die christliche ebenso wie die jüdische Minderheit Konstantinopels, die gemäß dem völkerrechtlichen Vertrag von 1923 eigentlich ein Bleiberecht in der Stadt hatte, fast geschlossen aus.

Auch heute hat sich die Lage sprachlicher und religiöser Minderheiten in der Türkei nicht grundlegend verbessert. So fehlen sprachliche Rechte ebenso wie beispielsweise die Möglichkeit für das orthodoxe Patriarchat, die Priesterschule in Chalki (Konstantinopel) wieder zu eröffnen. Und noch immer werden christliche Kirchen entweder in Moscheen umgewandelt oder dem Verfall preisgegeben, ebenso wie jahrhundertealte Klosterbauten.

Den Islamisten der Erdogan-Türkei geht es um die Dominanz des Islams in allen Lebensbereichen. Dazu gehört natürlich auch die Außenpolitik des Landes, die erkennbar von der Idee des Kalifats und der islamischen Glaubensgemeinschaft angetrieben wird. Niemand sollte sich wundern, wenn europäische Länder sich zusammentun, um ihrerseits Armenier, Griechen oder Kurden zu unterstützen. Denn, so unterschiedlich diese Gruppen sein mögen, ihre Anliegen wirken in der heutigen Türkei in dieselbe Richtung einer Liberalisierung und Wiederöffnung zum Westen.

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