Tichys Einblick
Geheimoperation vor Bornholm

Gesagt, getan: USA und Norwegen hinter dem Angriff auf Nord Stream?

Nun sollen es also doch die USA gewesen sein. Das behauptet Investigativlegende Seymour Hersh. Mit norwegischer Hilfe sollen sie Minen an die Nord-Stream-Pipelines gelegt haben, die erst viel später gezündet wurden. Was plausibel erscheint, muss noch nicht stimmen. Die US-Regierung weist den Vorwurf zurück.

IMAGO / Xinhua

Olaf Scholz ist angeblich sauer. Nicht unbedingt wegen dieser Sache, aber jedenfalls wegen der Panzer, die nun doch nicht aus Polen und den USA kommen, sondern zuerst von Deutschland an die Ukraine geliefert werden sollen, wenn auch nicht gleich morgen. Im Bundestag sagte Scholz: „Kampfpanzer, U-Boote, Flugzeuge – wer fordert noch mehr? Markige innenpolitische Statements und Kritik an Partnern und Verbündeten auf offener Bühne“, das schade der Geschlossenheit des westlichen Bündnisses.

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Um markige Statements und Kritik an Partnern ging es auch bei der anderen Sache, obwohl es eigentlich eher noch eine deutliche Warnung gewesen war, die ein Bündnispartner am 7. Februar 2022 an Scholz gerichtet hatte. Aber auch Kritik an vergangenen Entscheidungen seiner SPD steckte darin. Und nun hätte Olaf Scholz eigentlich zweimal Grund, um sauer zu sein. Wenn nämlich die Geschichte stimmt, die Seymour Hersh, legendärer Investigativjournalist zu Vietnamkrieg und Watergate und einstiger Beiträger der New York Times und des New Yorker, auf seinem brandneuen Substack-Profil veröffentlichte.

Darin geht es um den Angriff auf die vier Nord-Stream-Pipelines, der am 26. September letzten Jahres einen Gasstrudel auf der Oberfläche der Ostsee, kurz vor der dänischen Insel Bornholm, erzeugte. Die Mutmaßungen, wer dahinter stecken könnte, schossen gleich darauf ins Kraut. Viel war die Rede von den Russen, die aber, wie Hersh bemerkt, kein klares Motiv hatten und sich außerdem einige Monate nach dem Attentat „Kostenvoranschläge für die Reparatur der Pipelines einholten“.

Biden hat es „nicht kapiert oder ignoriert“

Dagegen hatte das Weiße Haus, wer auch immer darin saß, nie hinter dem Berg gehalten mit seiner kritischen Sicht auf Nord Stream 1 und die hinzugebauten Pipelines von Nord Stream 2, die die Menge an günstigem russischem Gas auf dem deutschen Markt verdoppelt hätten. Die Planungen für die verdeckte Operation an den Röhren gingen laut Hershs Quelle bis zum Dezember 2021 zurück. Seitdem wusste die CIA, dass der Angriff Russlands auf die Ukraine kommen würde. Jake Sullivan, nationaler Sicherheitsberater von Präsident Biden, berief das Treffen einer neuformierten Taskforce ein, die sich aus Militärberatern des Präsidenten, Leuten der CIA, des Außen- und Finanzministeriums zusammensetzte. Sullivan bat sie um Vorschläge, wie man auf den kommenden Einmarsch reagieren sollte.

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Wie Hersh berichtet, begann damit eine Serie von streng geheimen Treffen in einem sicheren Raum im Eisenhower (früher: Old) Executive Office Building, das sich direkt neben dem Weißen Haus befindet. Laut Hershs Quelle, die offenbar in diese Treffen einbezogen war, wurde den Teilnehmern bald klar, dass Sullivan es auf die Zerstörung der beiden Nord-Stream-Pipelines abgesehen hatte. Der Auftrag dazu kam angeblich direkt aus dem Weißen Haus.

Anfang 2022 war die „Möglichkeit“ schließlich gefunden, mit der sich die Pipelines sprengen ließen. Die CIA-Arbeitsgruppe berichtete Sullivan. Am 7. Februar fiel dann jener denkwürdige Biden-Satz, in dem sich der greise Präsident mit Hang zu sinnfreier Redseligkeit als ungewöhnlich schneidig erwies: „Wenn Russland einmarschiert … wird es kein Nord Stream 2 mehr geben. Wir werden ihm ein Ende setzen.“

Hersh deutet diese Worte, die Biden beim Antrittsbesuch von Olaf Scholz aussprach, als Ankündigung des Sabotageplans der CIA. „Es war, als würde man eine Atombombe in Tokio auf den Boden legen und den Japanern sagen, dass wir sie zünden werden“, erzählt seine Quelle, fügt allerdings hinzu, dass der Plan eigentlich nicht für die Ohren der Öffentlichkeit bestimmt gewesen war. Das habe Biden „einfach nicht kapiert oder ignoriert“. Entweder der US-Präsident war eine Art Terrorist, der seine Tat öffentlich androht – oder ein seniler Mann, der nicht mehr wusste, was er sagen darf und was nicht. Man kann sich die am wenigsten beschädigende Version aussuchen.

Die Norweger waren der perfekte „Partner in crime“

Schon im Januar hatte Victoria Nuland, Staatssekretärin im Außenministerium, in einem Briefing gesagt: „Wenn Russland in die Ukraine einmarschiert, wird Nord Stream 2 so oder so nicht mehr vorankommen.“ Die Presse berichtete, vermutlich auftragsgemäß, nicht darüber.

Aber Bidens öffentliche Aussage war anders. Sie veränderte die Geschichte auch in anderer Hinsicht. Hochrangige CIA-Beamte argumentierten, durch die offene Aussprache des Präsidenten sei eine „verdeckte Operation“ des US-Militärs mit Genehmigung des Kongresses unmöglich geworden. Man stufte das Vorhaben folglich zu einer streng geheimen Geheimdienstoperation mit militärischer Unterstützung herab. Nach dem Gesetz bestand nun „keine rechtliche Verpflichtung mehr, den Kongress über die Operation zu informieren“, so Hershs Quelle.

Mehrere CIA-Mitarbeiter warnten vor der Operation. „Das ist kein Kinderkram“, sagte auch Hershs Quelle, es käme vielmehr einer „Kriegshandlung“ gleich, wenn es entdeckt würde. Andere Mitarbeiter von CIA und Außenministerium sagten: „Macht das nicht. Es ist dumm und wird ein politischer Albtraum sein, wenn es herauskommt.“ Und es war ja im Grunde schon herausgekommen durch Bidens öffentlichen Schnitzer. Die CIA-Oberen beschlossen, sich abzusichern, denn bis dahin hatten sie keinen direkten Kontakt zum Weißen Haus gehabt. CIA-Chef Bill Burns wurde zum Präsidenten geschickt und sagte bei seiner Rückkehr nur: „Tut es.“ Biden bewies, so Hershs Quelle, dass er „Eier“ hatte: „Er hat gesagt, er würde es tun, und er hat es getan.“ So könnte es auch gewesen sein.

Dänen und Schweden wurden verschiedene Versionen erzählt

Im März flogen einige Mitglieder der Taskforce nach Norwegen. Das Land war der perfekte „Partner in crime“ für die Operation, hatte ähnlich wie die Staaten ein Interesse daran, den russischen Konkurrenten vom europäischen Gasmarkt zu verdrängen, und ist zudem ein direkter Nachbar Russlands mit einer soliden transatlantischen Verwurzelung: „Sie hassten die Russen, und die norwegische Marine war voller hervorragender Seeleute und Taucher, die seit Generationen Erfahrung in der hochprofitablen Tiefsee-Öl- und Gasexploration hatten.“ Manches klingt zu gut, um wahr zu sein.

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Die norwegische Marine fand den praktischen Ort für den Angriff auf die Pipelines: in den flachen Gewässern vor der dänischen Insel Bornholm. Amerikanische Tiefseetaucher kamen dazu. Die Norweger bestanden darauf, dass einige hochrangige Offizielle in Schweden und Dänemark „in allgemeiner Form über mögliche Tauchaktivitäten unterrichtet“ werden, zumal sie durch die örtliche Nähe etwas davon mitkriegen könnten. Allerdings wurde Dänen und Schweden jeweils eine andere Geschichte erzählt. Es ging nur darum, dass entsprechende Berichte von der Pipeline-Aktion „aus der Befehlskette“ herausgehalten wurden.

Der Plan war nun, im Rahmen der jährlichen Nato-Übung in der Ostsee, die immer im Juni stattfand, Minen an den Pipelines zu plazieren, die später ausgelöst werden könnten. Für die russische Überwachungstechnologie mussten die Sprengkörper durch Anpassung an den ostseetypischen Salzgehalt getarnt werden.

Eigentlich war vorgesehen, dass die Minen kurz nach dem Baltic-Operations-22-Manöver durch einen 48-Stunden-Timer ausgelöst würden. Aber das war den Amerikanern – oder Biden persönlich – am Ende zu eindeutig: Es wäre offensichtlich, dass die USA noch kurz vor den Detonationen mit ihrer Sechsten Flotte an Ort und Stelle waren. Das Weiße Haus erbat sich eine Umdisposition: „Können sich die Jungs vor Ort etwas einfallen lassen, um die Pipelines später auf Kommando zu sprengen?“

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Am Ende fand man auch für diesen extravaganten Wunsch eine Lösung. Man stattete die Minen mit „modernster Signalverarbeitungstechnologie“ aus. Nun konnten sie durch eine Sonarboje aktiviert werden, die in diesem Fall eine komplexe Folge tieffrequenter Töne erzeugte, um eine Fehlzündung durch natürliche oder künstliche Geräusche zu vermeiden. Dennoch gab es ein gewisses Risiko bei diesem Vorgehen. Dr. Theodore Postol, emeritierter Professor am Massachusetts Institute of Technology (MIT), zudem Ex-Berater für Marineoperationen am Pentagon, erklärte die Problematik gegenüber Hersh: „Je länger der Sprengstoff im Wasser ist, desto größer ist das Risiko eines zufälligen Signals, das die Bomben auslöst.“

Das zentrale Geschehen kann man kaum in andere Worten fassen als die, die Hersh gewählt hat: „Am 26. September 2022 warf ein P8-Überwachungsflugzeug der norwegischen Marine bei einem scheinbaren Routineflug eine Sonarboje ab. Das Signal breitete sich unter Wasser aus, zunächst zu Nord Stream 2 und dann zu Nord Stream 1. Wenige Stunden später wurde der Hochleistungs-C4-Sprengstoff ausgelöst und drei der vier Pipelines wurden außer Betrieb gesetzt. Innerhalb weniger Minuten konnte man sehen, wie sich Methangas, das in den stillgelegten Pipelines verblieben war, an der Wasseroberfläche ausbreitete, und die Welt erfuhr, dass etwas Unumkehrbares geschehen war.“

Damit war das Werk vollbracht, auf das mehrere EU- und Nato-Partner um Deutschland herum zuvor jahrelang ohne greifbaren Erfolg hingearbeitet hatten. Deutschland schien unter Angela Merkel immun gegen die Kritik aus Polen und anderen Nachbarländern, dass die Nord-Stream-Pipelines eine gefährliche Stärkung Russlands in Mitteleuropa seien. Die Sprengung durch eine amerikanisch-norwegische Geheimoperation war gewissermaßen der Preis für diese diplomatische Isolation Deutschlands. Sie bleibt dennoch Unrecht und beraubte Deutschland seiner vorletzten kostengünstigen Grundlastenergiequelle.

Blinken: Enorme strategische Chance für die kommenden Jahre

Da man Ähnliches schon seit dem September 2022 ahnen konnte, sind sicher alle Szenarien zum Ausgang dieses internationalen Politkrimis um eine Infrastrukturzerstörung in Berlin und anderen Hauptstädten durchgespielt. Man möchte es zumindest hoffen, auch wenn man sich bei dieser Bundesregierung nie sicher sein kann. Bewiesen ist damit freilich noch nichts, denn überprüfbare Belege liefert Hersh nur sehr wenige, wenn beispielsweise das Zitat des wissenschaftlichen Marineberaters Postol ein solcher Beleg ist und nicht nur eine Es-könnte-so-gewesen-sein-Erzählung des kundigen Experten.

Könnte also doch alles nur ausgedacht sein? Aber dafür ist Hersh auch wieder nicht bekannt, sondern für seine akribisch recherchierten Berichte und Reportagen und für seine über praktisch alle Behörden der USA verteilten anonymen Informanten. Einer von ihnen soll auch hinter der neuesten Geschichte stecken – oder mehrere, denn Hersh berichtet sehr ausführlich über viele Details der Operation.

In einer schwierigen Lage befinden sich nun das Weiße Haus, das natürlich schneidige Dementis an Hersh aussandte („falsch und frei erfunden“), und die US-Regierung der Demokraten allgemein. Als Außenminister Anthony Blinken im September 2022 zu den Folgen der aktuellen Energiekrise Westeuropas befragt wurde, sagte er: „Es ist eine enorme Chance, die Abhängigkeit von russischer Energie ein für alle Mal zu beenden und damit Wladimir Putin den Missbrauch der Energie als Mittel zur Durchsetzung seiner imperialen Pläne zu entziehen. Das ist sehr bedeutsam und bietet eine enorme strategische Chance für die kommenden Jahre, aber in der Zwischenzeit sind wir entschlossen, alles in unserer Macht Stehende zu tun, um sicherzustellen, dass die Folgen all dessen nicht von den Bürgern in unseren Ländern oder in der ganzen Welt getragen werden.“

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