Tichys Einblick
Alles war ganz anders

Ermordung von Samuel Paty: Schülerin gibt zu, gelogen zu haben

Die Vorgeschichte von Samuel Patys Ermordung gleicht immer mehr einem absurden Roman. Nun stellt sich heraus: Am Ursprung der Bluttat stand die Notlüge einer Dreizehnjährigen. An der Einordnung der Tat ändert das nichts.

IMAGO / Le Pictorium

»Tout est pardonné« – »alles ist vergeben«. So titelte ein überlebender Redakteur der attackierten Satirezeitschrift Charlie Hebdo in einer paradoxen Erleichterung seines Schmerzes, kurz nach dem mörderischen Attentat vom 7. Januar 2015. Im Fall des letzten schweren Attentats auf die französische Republik kann man nun etwas anderes formulieren: »Tout était different« – »alles war ganz anders«.

Der Geschichts- und Geographielehrer Samuel Paty war am 16. Oktober von einem 18-jährigen Tschetschenen auf offener Straße enthauptet worden, ganz in der Nähe seiner Mittelschule im Pariser Vorort Conflans-Sainte-Honorine. Zuvor hatte eine Schülerin Patys, Z. Chnina, auch sie tschetschenischer Herkunft, berichtet, der Lehrer habe im Unterricht die Mohammed-Karikaturen von Charlie Hebdo zeigen wollen und dazu die muslimischen Schüler gebeten, den Klassenraum zu verlassen. Laut eigenen Angaben begann die Schülerin daraufhin einen Streit mit dem Lehrer und wurde für zwei Tage vom Unterricht ausgeschlossen.

Tatsächlich hatte Paty muslimischen Schülern freigestellt, ihr Gesicht abzuwenden, falls sie den Anblick der Karikatur vermeiden wollten. Für den Geschichtslehrer stand schon damals fest, dass die Schülerin anhand von Gerüchten »eine Geschichte erfunden« hatte. Das hat sie jetzt zugegeben.

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Aber der Reihe nach: Der Vater der Schülerin, Brahim Chnina, hatte – von seiner Tochter entsprechend unterrichtet – seine Empörung auf Facebook geteilt, seine Glaubensbrüder und -schwestern aufgerufen, gegen dieses Verhalten eines Lehrers zu protestieren, an die Schule zu schreiben oder an das »Collectif contre l’islamophobie en France« (CCIF), die Schulaufsicht, gar an den Präsidenten! Paty habe das Bild eines nackten Mannes gezeigt, das den Propheten darstellt. Zwei Videos entstehen – eines vom Vater selbst –, in denen Paty ein »Gauner« und »krankhaft« genannt wird. Ein militanter Islamist und staatsbekannter Gefährder, Abdelhakim Sefroui, unterstützt Chninas Aufruf. Am Ende teilt auch die Große Moschee von Pantin in der Pariser Banlieue eines der Videos, das zu diesem Zeitpunkt schon eifrig auf WhatsApp geteilt wird. Später kommuniziert sogar der Attentäter über WhatsApp mit Vater und Tochter Chnina, bevor er sich zu seiner Bluttat entschließt.
Es bleibt dabei: Das Attentat steht für die Ablehnung der Republik

Der Figaro spricht von einer schrecklichen Verkettung von Zufällen, die zur Enthauptung Patys geführt habe. Nun kommt aber noch ein Zufall mehr hinzu: Die dreizehnjährige Schülerin hat zugegeben, gelogen zu haben. Sie sei an dem fraglichen Tag gar nicht in der Schule gewesen, sagte nun ihr Anwalt dem privaten Nachrichtenkanal BFM TV. Vielmehr war sie schon zuvor wegen ungebührlichen Verhaltens vom Unterricht ausgeschlossen worden, und eben das wollte sie ihrem Vater verheimlichen, zumal sie den Vergleich mit ihrer eifrigeren Zwillingsschwester fürchtete.

Bemerkenswert ist, dass diese Wendung der Dinge erst jetzt ans Licht der französischen Presse kommt. Denn im Figaro heißt es, dass die Ermittler der Anti-Terror-Polizei schon »recht bald« nach der Tat durch die Vernehmungen der Mitschüler herausgefunden hatten, dass Z. Chnina an der betreffenden Unterrichtsstunde gar nicht teilgenommen hatte. Jetzt gab die Schülerin selbst zu, sie habe da »über eine Sache« gelogen. Ihr Vater will die Geschichte keinen Moment lang angezweifelt haben.

Viele erkannten in der Enthauptung des Geschichtslehrers ein Symbol für die Ablehnung der republikanischen Werte durch den politischen Islam – gerade so, wie der Mord an einem katholischen Priester in Saint-Étienne-du-Rouvray im Juli 2016 (während der Messe) ein Symbol für den radikalen Glaubenskampf der Islamisten war. Die ältere Tat hatten zwei 19-jährige Franko-Algerier begangen. Beide Terrorakte mögen auf einer Aneinanderreihung zufälliger Geschehnisse beruhen. Am Ende zeigt sich in ihnen – wie unter einem Brennglas – die wachsende Bedeutung des radikalen Islams in Frankreich.

Ein Freitagsgebet für die Gleichheit der Frauen?

Im Gefolge der furchtbaren Tat hat die französische Regierung eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, die anderenfalls vielleicht nicht (oder nicht so bald) gekommen wären. Innenminister Gérald Darmanin kündigte die Ausweisung von 231 Gefährdern an, 180 davon bereits in Haft. Die Große Moschee von Pantin, die sich an der virtuellen Hetzjagd auf Samuel Paty beteiligt hatte, wurde zeitweilig geschlossen, aber nach einigen lauen Worten des Bedauerns nur drei Monate später wieder geöffnet. Einer der Imame sagte etwas von mangelnder »Einordnung« der Kritik an Paty und seiner Befürchtung einer »Diskriminierung« der muslimischen Schüler, da Paty sie des Klassenzimmers verwiesen habe. Der Hauptimam der Moschee soll in einem »fundamentalistischen Institut« im Jemen ausgebildet worden sein.

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Daneben wurden mehrere islamische Vereine – auch das »Kollektiv gegen Islamophobie« (CCIF) – aufgelöst. Der französische Staat versucht insgesamt, wehrhafter gegen die islamistische Agitation zu werden. Am Ende folgte so auch das kürzlich beschlossene Gesetz gegen den muslimischen »Separatismus« aus diesem Terrorakt. Es umfasst unter anderem das Verbot des Heimunterrichts, die stärkere Überwachung von Vereinen, neue Kompetenzen zur Schließung von Moscheen für die Départements. Imame sollen ab 2024 nur noch in Frankreich ausgebildet werden. Im Freitagsgebet sollen die Werte der Republik, darunter natürlich auch die Gleichheit der Geschlechter, hochgehalten werden. Zum Teil sind das schon tragikomische Pointen, die offensichtlich etwas herbeizaubern sollen, das so bald nicht kommen wird.

Unterdessen erhält ein weiterer Pädagoge aus dem Pariser Vorort Trappes, der zum »Widerstand gegen die islamistische Gefahr« aufruft, Morddrohungen und steht unter Polizeischutz». Viele Kinder werden zum Hass auf Frankreich erzogen«, sagt der Philosophielehrer Didier Lemaire.

Im südfranzösischen Var hat eine Schule davon Abstand genommen, sich den Namen Samuel Patys anzuheften. Das Collège »Les Eucalyptus« in dem Dorf Ollioules bei Toulon schreckt vor dem neuen Namen – zum Teil verständlicherweise – zurück. Die Mathelehrerin und Gewerkschaftsvertreterin Sandra Olivier meint, dass der Name nur »Traurigkeit« rund um die Mittelschule verbreiten würde. Doch daneben bedeute er auch, »unnötige Risiken« einzugehen. Würdigungen seien eine gute Sache, aber nicht zum Preis der Unsicherheit. Der konservative Bürgermeister Robert Beneventi (Les Républicains) will nun einen anderen Ort finden, um ihn nach Paty zu benennen. Doch es bleibt wohl überall beim selben Dilemma: Mut ist kostbar geworden im Frankreich dieser Tage.

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