Tichys Einblick
Richtungswechsel überall?

Lateinamerika ist nicht mehr links

Mit der Wahl in Brasilien rückt das größte Land des Kontinents scharf nach rechts. Die sozialistische Welle ist vorbei. Doch Jair Bolsonaro bleibt eine spalterische Figur.

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Teils erschüttert, teils begeistert haben die Brasilianer auf den Ausgang der Präsidentenwahl vor zwei Wochen reagiert, die Jair Bolsonaro eine deutliche Mehrheit bescherte. Bolsonaro gilt als rechter Populist oder noch schlimmer als Rechtsextremist. Die ganz pessimistischen Prophezeiungen haben sich nicht bewahrheitet, zumindest noch nicht: Brasilien ist nach der Wahl nicht in Flammen aufgegangen, es gab keine politische Gewalt. Das ist zum Teil auch der Entscheidung von Bolsonaro zu verdanken, seine Sprache zu mäßigen. Die aggressive Rhetorik des Wahlkampfs hat er zumindest vorerst beendet, jetzt spricht er staatsmännisch. „Die Demokratie in Brasilien wird verteidigt durch die Verfassung“, sagte er vor kurzem, um den Vorwürfen seiner Kritiker zu begegnen, die sagen, er werde eine autoritäres, „faschistisches“ Regime einführen.

Am 1. Januar 2019 wird der 63-jährige Ex-Militär, der schon seit fast drei Jahrzehnten als Hinterbänkler im Parlament sitzt, die Macht im größten lateinamerikanischen Land mit rund 210 Millionen Einwohnern übernehmen. Sein Wahltriumph mit 55 Prozent der Stimmen gegen den Kandidaten der linken Arbeiterpartei war deutlich. Die Börse reagierte mit Kursgewinnen, weil Bolsonaros designierter Wirtschafts- und Finanzminister Paulo Guedes für einen marktliberalen Kurs steht: Er will Staatskonzerne privatisieren und verspricht Investoren ein wirtschaftsfreundlicheres Klima. Für den Umweltschutz und den Regenwald im Amazonas-Gebiet hat Bolsonaro dagegen wenig übrig. In Medien wird er als „Tropen-Trump“ bezeichnet. Aus Washington kamen wärmste Glückwünsche von Donald Trump, von der EU besorgte, kühle Ermahnungen. Bolsonaros Aufstieg ist nicht nur für Brasilien ein Einschnitt, sondern für die ganze Region.

Abkehr Lateinamerikas von der Linken
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Er zeigt Lateinamerikas Abkehr vom Linkskurs. Die Brasilienwahl besiegelt das Ende der Ära des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ in Lateinamerika. Vor einem Jahrzehnt waren die meisten Regierungen der Region stramm links; sie sympathisierten mit Hugo Chávez, der seit 1999 in Venezuela herrschte, und sogar mit Fidel Castros Altkommunisten auf Kuba. Cristina Kirchner sprach von einer „rosa Welle“. Zur Reihe der Länder mit Linksregierungen kamen Argentinien unter den Kirchners, Brasilien unter Lula, Bolivien unter Evo Morales; auch Peru und Chile hatten (moderatere) Linksregierungen. Venezuela versorgte die verbündeten Linken mit verbilligten Öllieferungen. Der Rohstoffboom nach der Jahrtausendwende spülte einige Jahre so viel Geld in die Kassen, dass die Staaten relativ üppige Sozialprogramme finanzieren konnten.

Gemäßigt, aber doch in diesem linken Lager stand auch Brasiliens Regierungschef Luiz Inácio Lula da Silva, der von 2003 bis 2010 das größte lateinamerikanische Land führte. Die Sozialprogramme halfen einem Teil der Gesellschaft aus der Armut, doch brach das alles unter Lulas Nachfolgerin Dilma Rousseff zusammen, als der Rohstoffboom endete und das Land in einem gewaltigen Korruptionsskandal versank, der eng mit Lulas Arbeiterpartei PT (Partido dos Trabalhadores) verbunden war. Deren eher softe Sicherheitspolitik ließ auch die tödliche Kriminalität auf Rekordniveaus ansteigen.

Nun haben die Brasilianer einen Anti-Establishment-Kandidaten an die Macht gebracht. Der PT-Kandidat Fernando Haddad kam in der Stichwahl nur auf 45 Prozent, obwohl die meisten etablierten Medien, die Gewerkschaften und zahlreiche Minderheitengruppen für ihn mobilisiert hatten. Eine satte Mehrheit der Brasilianer wählte den ehemaligen Fallschirmjäger-Hauptmann Bolsonaro, obwohl der im Laufe seiner Hinterbänkler-Zeit eine Menge abstoßende Sprüche von sich gegeben hat: rassistische, die Diktatur verharmlosende und üble frauenverachtende Sprüche. Seine aggressive Sprache – die Drohung mit Säuberungen – schreckte die Mehrheit offenbar nicht ab.

Die Brasilienwahl ist ein Höhepunkt der 2015 begonnenen große Wende in Lateinamerika, weg von den linken Populisten, hin zu rechten, wirtschaftsliberalen Politikern: In Argentinien wurden die linksperonistischen Kirchner abgewählt, in Chile musste Michelle Bachelet gehen und Sebastián Piñera kam (wieder) an die Macht. Und nun Brasilien, das tief im Schlamassel steckt.

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Ein Grund für die Wahl von Bolsonaro ist die schlechte ökonomische Lage. Die Wirtschaftsleistung Brasiliens ist 2015 und 2016 um 8 Prozent eingebrochen, nur mühsam arbeitet sich das Land aus der Rezession heraus. Der zweite Grund ist der allgemeine Vertrauensverlust in das Establishment durch den größten Korruptionsskandal (bekannt unter dem Namen „Lava Jato“ – Autowaschanlage) in der Geschichte des Landes rund um den staatlichen Ölkonzern Petrobras und das Bauunternehmen Odebrecht.

Milliardensummen wurden als Schmiergelder an Politiker der PT und anderer Parteien und Manager gezahlt für staatliche Aufträge. Dutzende Politiker und Manager sind dafür hinter Gitter gewandert, auch Lula wurde wegen Bestechung zu acht Jahren Haft verurteilt.

Nur vor dem Hintergrund des totalen Vertrauensverslusts in die etablierten Parteien, die Staatskonzerne und die Medien konnte ein Mann wie Jair Bolsonaro aufsteigen, der versprochen hat, den „korrupten Saustall“ auszumisten. Gern hat er dazu in Wahlreden mit einem fiktiven Schnellfeuergewehr um sich geschossen.

Ein Hauptthema im Wahlkampf war die Sicherheitslage und die ausufernde Gewaltkriminalität im Lande. Drogenbanden machen die Straßen und besonders die Armenviertel von Rio und São Paulo unsicher. 2017 wurden unglaubliche 64.000 Personen Opfer von Mord und Totschlag, das macht etwa 175 Todesopfer pro Tag .

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Bolsonaro zentrales Versprechen im Wahlkampf war, mit extrem harter Hand die Kriminalität zu bekämpfen: Die Polizei soll viel leichter schießen dürfen, Bürger sollen Waffen zur Selbstverteidigung bekommen, die Justiz soll schärfere Urteile sprechen, das Strafmündigkeitsalter soll auf 16 Jahre herabgesetzt werden. In Bolsonaros designiertem Kabinett und im Beraterstab sitzen Ex-Generäle, die für ein militärisches Vorgehen gegen die Banden plädieren. Als nächsten Justizminister hat er Sergio Moro ausgewählt, der bei der Aufarbeitung des Korruptionsskandals „Lava Jato“ eine führende Rolle gespielt hat.

Seine Anhänger verehren Bolsonaro wie einen Messias – und es trifft sich für ihn gut, dass sein zweiter Vorname tatsächlich „Messias“ ist. Vor allem Anhänger evangelikaler Freikirchen haben mit großer Mehrheit für ihn gestimmt. Bolsonaro hat diese Stimmen gewonnen, indem er ihre konservative Werte-Agenda übernommen hat. Er lehnt die Homo-Ehe und Homosexualität überhaupt ab und stellt sich strikt gegen die Legalisierung der Abtreibung sowie die Legalisierung von Drogen. Im Wahlkampf berief sich Bolsonaro oft auf Gott, auch nachdem er ein Messerattentat überlebte.

Für seine Gegner ist und bleibt er ein gefährlicher „Faschist“. Tatsächlich hat er in der Vergangenheit durch Sprüche solche Vorwürfe genährt. Nun muss sich zeigen, ob die demokratischen Institutionen in Brasilien stark genug sind, um einen Stresstest zu bestehen.


Marcela Vélez-Plickert ist Journalistin und hat fast zwei Jahrzehnte lang für verschiedene lateinamerikanische Zeitungen und einen TV-Sender gearbeitet; sie lebt in Frankfurt und ist nun freie Korrespondentin.