Tichys Einblick
Unruhen von Nanterre

Die Fünfte Französische Republik am Rande der Katastrophe?

Frankreich scheint nicht in der Lage zu sein, den Sumpf aus Kriminalität, Parallelgesellschaften, Islamismus und linken Ressentiments zu bekämpfen. Aber repräsentiert die Polizei wirklich das, was von der "Nation" noch übrig geblieben ist, oder verteidigt sie nur noch die Interessen einer Pariser Polit-Elite?

IMAGO / Reichwein

Die Ereignisse um George Floyd scheinen eine französische Entsprechung gefunden zu haben: Nachdem der 17-jährige Nahel in Nanterre bei einer Routinekontrolle anläßlich einer Reihe von Verkehrsdelikten von der Polizei erschossen wurde, als er sie mit seinem Auto anzufahren versuchte, kam es in den meisten französischen Großstädten zu gewalttätigen Ausschreitungen und großflächigen Zerstörungen; und auch wenn die Situation (noch) nicht so besorgniserregend aussieht wie 2005, so offenbart sie doch ein tiefes Unbehagen in der französischen Gesellschaft – und auch wenn das eigentliche Problem offensichtlich in der unkontrollierten Entstehung von Parallelgesellschaften und Massenkriminalität liegt, so bin ich mir doch so gut wie sicher, dass die Kritik an der französischen Polizei nicht völlig unberechtigt ist.

Aber wie so oft bei komplexen gesellschaftlichen Themen gibt es viele verschiedene Vektoren. Aus Respekt vor dem Verstorbenen müssen wir mit der Polizeigewalt beginnen. Ja, in den letzten Jahren hat das brutale Vorgehen der Ordnungskräfte zugenommen, nicht nur bei den üblichen, aber immer zahlreicheren Auseinandersetzungen mit Migrantenbanden in den zahlreichen Vororten von Paris, Marseille, Lyon, Rennes, Lille, Toulouse, Brest und vielen anderen Städten, sondern auch bei Demonstrationen gegen die Regierung: Denken wir an die Revolte der Gilets jaunes, die Anti-Covid-Märsche oder zuletzt an die Demonstrationen gegen das neue Gesetz zum Renteneintrittsalter. Doch in Anbetracht der Tatsache, dass die Justiz die meisten Straftäter freilässt oder zu minimalen Strafen verurteilt, dass die Medien in der Regel den „systemischen Rassismus“ der Polizei hervorheben und sich auf die Seite der Schuldigen schlagen und dass selbst das politische Establishment regelmäßig eine „fundamentale“ Reform der Polizei fordert oder zumindest ihren grundsätzlichen Nutzen ernsthaft in Frage stellt (Mélenchon: „La police tue!“), ist es nicht verwunderlich, dass die Frustrationstoleranz des durchschnittlichen Polizeibeamten auf einem historischen Tiefstand ist.

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Damit kommen wir zum nächsten und meines Erachtens eigentlichen Problem: Der französische Staat scheint nach und nach die Kontrolle über große Teile seines Territoriums zu verlieren, und die Polizei ist nicht zahlreich genug und verfügt nicht über die nötige Unterstützung, um in der wachsenden Zahl von Gebieten, die sich von der Republik abspalten, Recht und Ordnung durchzusetzen. Aus der Perspektive Mittel- und Osteuropas, wo die Gesellschaften äußerst homogen sind und trotz einiger politischer Differenzen weitgehend solidarisch sind, wenn es um Fragen von Leben und Tod geht, ist es äußerst schwierig zu begreifen, wie sehr Frankreich (und in ähnlicher Weise die Benelux-Staaten und das Vereinigte Königreich) bereits zu fragmentierten Gesellschaften geworden sind. Viele Städte haben bereits eine mehrheitlich außereuropäische Bevölkerung, und selbst dort, wo dies nicht der Fall ist, werden ganze Vororte fast ausschließlich von bestimmten ausländischen Ethnien, vor allem aus Afrika, dem Nahen Osten und dem indischen Subkontinent, bewohnt.

Der Staat hat es weitgehend versäumt, diese Gruppen zu assimilieren oder zumindest in die (ehemalige) Mehrheitsgesellschaft zu integrieren. Stattdessen hat er auf der Notwendigkeit von Vielfalt und Toleranz bestanden und die Frage der kulturellen Identität auf die bloße Einhaltung einer Reihe von rechtlichen oder administrativen Verfahren reduziert, die dann als „westliche Werte“ bezeichnet werden. Heute haben sich die demographischen Proportionen so weit umgekehrt, dass es die ehemalige Mehrheitsbevölkerung ist, welche langsam gezwungen wird, sich in den neuen, hauptsächlich (aber nicht ausschließlich) muslimischen Rahmen zu integrieren, der allmählich zur faktischen Leitkultur wird, während diejenigen, die diese Entwicklung verurteilen, zum Schweigen gebracht werden, indem sie als „rassistisch“ abgestempelt und zu Unpersonen werden.

Leider war die Massenmigration aus Afrika und dem Nahen Osten nach Frankreich weitgehend durch Armut motiviert, und auch nach drei Generationen besteht eine deutliche soziale Kluft zwischen den Migranten und der autochthonen Bevölkerung, was dazu führt, dass die Ersteren der Mehrheitsbevölkerung (und dem, was von ihrer Zivilisation übrig geblieben ist) skeptisch, ja sogar zunehmend hasserfüllt gegenüberstehen. Erschwerend kommt hinzu, dass viele Migranten bei der Suche nach ihrer eigenen Identität immer mehr die Orientierung verlieren und leider nur das Schlechteste aus beiden Welten übernehmen: religiösen Fundamentalismus und Hass auf der einen Seite, Hedonismus und alle Schattenseiten der modernen westlichen Zivilisation und Technologie auf der anderen.

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Das Entstehen von Parallelgesellschaften und Clan-Kriminalität ist somit vorprogrammiert, und somit ist auch das Profil Nahels, des Opfers der jüngsten Schießerei, nicht untypisch: Marokkanisch-algerischer Herkunft und scheinbar muslimischen Glaubens, hatte er doch, obwohl erst 17 Jahre alt, bereits 15 Gerichtsverfahren hinter sich, musste sich fünfmal wegen Gehorsamsverweigerung gegenüber der Polizei rechtfertigen, war auf frischer Tat beim Drogenkonsum und -verkauf ertappt worden, fuhr nicht versicherte Autos mit gefälschten Nummernschildern und hatte nun, am 28. Juni, versucht, das Leben (oder zumindest die körperliche Unversehrtheit) der Polizeibeamten zu gefährden, die ihn wegen mehrerer Verkehrsdelikte angehalten hatten, als schließlich die tödliche Kugel abgefeuert wurde: Zumindest vom rechtlichen Standpunkt war Nahel alles andere als der „petit ange“ („kleiner Engel“), als den ihn der bekannte französische Fußballspieler Mbappé in einem hochemotionalen Tweet bezeichnete, in dem dieser seine Empörung über die Polizei zum Ausdruck brachte.

Natürlich rechtfertigen diese Straftaten in keiner Weise ein Todesurteil (auch wenn die endgültigen Ergebnisse der Ermittlungen noch nicht bekannt sind), und jedes getötete Leben, insbesondere im Falle von Minderjährigen, ist eine absolute Tragödie. Dennoch scheint Nahel typisch für ein bestimmtes demographisches Profil zu sein, das nicht mehr die absolute Ausnahme, sondern in vielen französischen Vorstädten bald die Regel ist, und dessen ständige Untergrabung der öffentlichen Ordnung bis zu einem gewissen Grad das Gefühl der ständigen Bedrohung und Frustration erklären kann, mit dem die französische Polizei zu kämpfen hat.

Dennoch – und das ist der eigentliche Zweck meiner kurzen Ausführungen – sollten wir sehr, sehr vorsichtig sein, bevor wir ein manichäisches Narrativ durch ein anderes ersetzen und die Situation nur unter dem Aspekt „Staat“ versus „Migrantengesellschaften“ sehen. Der französische Staat ist in der Tat nicht mehr ein Objekt der gemeinsamen Zugehörigkeit und Solidarität des Volkes, sondern wird immer mehr zu einer parteiischen Institution, die nicht einmal mehr versucht, eine überpolitische nationale Identität zu vertreten, sondern vor allem die Interessen einer sehr kleinen Pariser Clique vertritt, die an einer Handvoll Eliteschulen ausgebildet wurde: Der französische Staat unter Macron, unter Hollande und sogar darüber hinaus wird weder von den Migrantengemeinschaften in den Banlieues noch von den Millionen „Deplorables“ respektiert, die in der zunehmend verarmten und verödeten „province“ auf sich selbst gestellt sind, sondern wird im Wesentlichen nur noch von den linken Pariser „Bobos“ und den Mächten des Großkapitals unterstützt, wie nicht zuletzt die katastrophale Wahlbeteiligung zeigt.

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Leider ist die Polizei, die ebenso zentralisiert ist wie der Staat, von dieser Entwicklung stark betroffen und hat somit aufgehört, eine von allen respektierte unpolitische Institution zu sein. In der Tat haben die Einstellungsstrategie, die Personalpolitik und die Karrieremuster der französischen Polizei (und Armee) in den letzten Jahren und Jahrzehnten all jenen einen klaren Vorteil verschafft (einschließlich einer wachsenden Zahl von systemkonformen Migranten), die die führende politische Kaste gegen ihre zahlreichen Gegner unterstützen. Und während der durchschnittliche Polizist in der Regel in die Wüste geschickt wird, wenn in einem weit entfernten Vorort ein Zusammenstoß mit „Diversity“-Gemeinschaften oder Randalierern schiefgeht und zufällig in die Medien gelangt, kann er sich des politischen Schutzes ziemlich sicher sein, wenn er jemanden zusammenschlägt, der gegen die Regierung demonstriert – oder jedenfalls scheint es vielen Franzosen so.

Einem mitteleuropäischen Leser mag dies übertrieben, ja sogar dystopisch erscheinen, aber in Frankreich ist es allgemein bekannt, dass der Konflikt zwischen der Polizei, den Einwanderergemeinschaften (mitsamt linken Randalierern) und den rechten „Deplorables“ nicht mehr als ein Konflikt zwischen dem „Staat“ und zwei „peripheren“ Gruppen am Rande der Gesellschaft gesehen wird, sondern eher zwischen drei rivalisierenden Clans oder sogar drei „Völkern“ von ungefähr vergleichbarer demographischer Stärke, von denen keines mehr die frühere französische Gesellschaft vollständig repräsentiert – die beste Voraussetzung für jenen „Bürgerkrieg“, den selbst Präsident Macron in seinen Reden über die Zukunft Frankreichs mehrfach heraufbeschworen hat…

Die englische Originalversion dieses Textes erschien am 30.6.2023 auf der Seite von TVP-World.

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