Tichys Einblick
Der Komödiant als Staatmann

Das Boris Johnson-Phänomen

London bleiben nur zwei Lösungen: die vollständige Kapitulation oder der waghalsige Angriff, bei dem alles auf eine Karte gesetzt wird. Johnson, der immer schon ein Spieler war, hat sich für die zweite Option entschieden.

Jack Hill - WPA Pool/Getty Images

Großbritannien beschloss vor drei Jahren, die EU zu verlassen, zumindest entschied sich eine knappe Mehrheit der Wähler für einen Austritt aus dem Staatenbund. Vollzogen werden konnte der Brexit freilich einstweilen noch nicht, da man sich mit Brüssel nicht über die Bedingungen eines Austritts einigen konnte, oder um es präziser zu formulieren, weil das Parlament nicht bereit war, dem ausgehandelten Abkommen mit der EU zuzustimmen. Zu den leidenschaftlichsten Gegnern des Austrittsabkommens gehörte der konservative Politiker Boris Johnson, der schon die Brexit-Kampagne selber zusammen mit Michael Gove (jetzt zuständig für die Vorbereitung eines no deal-Szenario) und Priti Patel (jetzt Innenministerin) angeführt hatte, wobei die beiden letzteren freilich Überzeugungstäter waren, während bei Johnson wohl eine gehörige Portion Opportunismus ein wichtiges Motiv für seine Haltung war. Wenn er angenommen hatte, durch seine Ablehnung des Abkommens mit Brüssel May zum Rücktritt bewegen zu können, um selber ihre Nachfolge antreten zu können, so ging diese Rechnung jedenfalls auf, denn seit kurzem steht er an der Spitze der britischen Regierung, nachdem die Mitglieder der konservativen Partei – von denen es nach deutschen Maßstäben nicht allzu viele gibt (ca. 160.000) –  ihn zu ihrem Kandidaten für diese Amt gewählt haben.

Wer ist Johnson wirklich? Diese Frage stellen sich zur Zeit nicht nur viele Journalisten in England, sondern auch auf dem Kontinent. Die Frage ist nicht irrelevant, denn auch wenn man in Brüssel über die Ernnennung Johnsons zum Premier vermutlich entsetzt ist, für den Moment ist er nun einmal der einzige Gesprächspartner, den man in London hat, wenn es doch noch irgendwie zu einer halbwegs gütlichen Einigung kommen soll.

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Allerdings kann sich Johnson im Unterhaus nur auf eine Mehrheit von zwei bis drei Stimmen stützen. Das ,heißt er könnte im September, wenn das Parlament nach der Sommerpause wieder zusammentritt, durch ein Mißtrauensvotum gestürzt werden, da viele Remainers unter den Tories ihn lieber heute als morgen loswerden würden. Was dann geschieht, ist allerdings in einem Land, das keine geschriebene Verfassung besitzt, eher unklar. Theoretisch könnte Johnson wohl Neuwahlen ausrufen und bis zum Zusammentreten eines neuen Parlamentes im Amt bleiben, zumal eine Mehrheit für Corbyn als Premier sich im Parlament nicht abzeichnet. Diese Zeit könnte unter Umständen reichen, um einen harten Brexit zu vollziehen und damit vollendete Tatsachen zu schaffen, die auch ein Nachfolger, der aus einer anderen Partei kommt – falls Johnson die Wahlen verliert, was keineswegs sicher ist – nicht mehr aus der Welt schaffen kann.
Repräsentant einer dekadenten und rückwärtsgewandten Elite?

Aber unsere Frage war ja, wer Johnson wirklich ist. Das lässt sich gar nicht so einfach sagen. Auf den ersten Blick ist er als Absolvent von Eton und Oxford und Sprößling einer wohlhabenden Familie ein typischer Repräsentant der alten Elite, die England noch vor 150 Jahren relativ unangefochten regierte und die auf unnachahmliche Weise ein einstudiertes Understatement, das freilich Arroganz und unbegrenztes Selbstvertrauen nicht immer kaschieren konnte, und ein stets Überlegenheit demonstrierendes gesellschaftliches Auftreten verband.

Wenn Johnson eines in Eton gelernt hat, dann ist es, durch deutlich zur Schau getragenes Selbstbewusstein, das freilich durch Selbstironie abgemildert wird, und durch rhetorische Knalleffekte sowie einen ausgeprägten Sinn für Humor, seine Debattengegner zu verwirren und matt zu setzen. Fakten und akademisches Wissen interessieren einen Mann wie ihn nur sekundär (obwohl er in Oxford ein leidlich gutes Examen in Altertumswissenschaften und klassischen Sprachen abgelegt hat), das ist etwas für spießige Pedanten aus der Mittelschicht, Leute ohne Stil und ohne „Breeding“, ihm geht es um den großen Auftritt, die „performance“, er ist vor allem ein begnadeter Schauspieler, der auch ein kritisches oder gelangweiltes Publikum für sich einzunehmen weiß, notfalls durch komödiantische Einlagen, für die er ebenso berüchtigt ist wie für seine politisch inkorrekten Bemerkungen über Burkaträgerinnen oder französische Politiker.

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Aus der Sicht seiner Gegner, der stets prinzipenfesten und politisch korrekten Leser des Guardian oder des New Statesman etwa, ist Johnson ein zweiter Trump, ein böser Populist und überdies ein zynischer Vertreter einer dekadenten Elite, der mit seiner Demagogie die verbitterte untere Mittelschicht – vor allem weiße Männer über 60 – , die er in Wirklichkeit verachtet, verführt hat, indem er an die übelsten Instinkte dieser „deplorables“ (so Hilary Clintion über die Trump-Wähler) appelliert hat, Chauvinismus, Empire-Nostalgie und Fremdenfeindlichkeit.

Dabei übersieht man freilich, dass Johnson aus einer Familie wahrer Kosmopoliten kommt und auch selber durchaus ein Weltbürger ist. Ihn mit Trump zu vergleichen, ist abwegig. Der Vorname seines Großvaters väterlicherseits war Osman, er war eigentlich Türke und seinerseits der Sohn eines liberalen türkischen Journalisten und Politikers, der ähnlich wie sein Urenkel einen provokativen Stil pflegte, Ali Kemal Effendi. Kemal trat in der Endphase des Osmanischen Reiches als Gegner der Jungtürken auf und zögerte auch nicht, die Armeniermassaker lautstark zu verdammen. Er fiel 1922 einem politischen Lynchmord fanatischer Nationalisten zum Opfer. Ein entfernter türkischer Verwandter Johnsons, Sinan Kuneralp, ein Historiker, soll allerdings über seinen engischen Großneffen bemerkt haben, dass er anders als sein Ugroßvater wohl nur wenige Prinzipien habe, sondern eher ein Opportunist sei, wie die Times berichtet [1]; eine gewisse Skepsis gegenüber den Erfolgschancen seines Verwandten konnte er auch nicht verbergen.

Ali Kemals eigene Mutter war vermutlich eine tscherkessische ehemalige Sklavin, was im damaligen Osmanischen Reich nicht unbedingt unüblich war. Aber Boris Johnson kann auch litauische Rabbiner und deutsche Adlige zu seinen Vorfahren zählen. Sein eigener Vater Stanley arbeitete lange für die Weltbank und –  man zögert, es zu glauben – die damalige EG und machte sich unter anderem einen Namen als Kämpfer für den Umweltschutz. Der typische konservative Reaktionär ist Johnson, blickt man auf seine Herkunft, seine Freunde und Berater oder seine bisherige Politik, also kaum, dann wäre es ihm wohl auch nicht gelaungen, sich im multikulturellen London zum Bürgermeister wählen zu lassen, ein Amt, in dem er durchaus erfolgreich war, auch wenn die Alltagsarbeit wohl eher von seinen Beratern und Mitarbeitern erledigt wurde. Aber populär war er als Bürgermeister allemal. Die britische Öffentlichkeit hat ganz anders als die deutsche, für die Politiker, namentlich wenn sie das bürgerliche Lager oder was davon übrig ist, (viel ist es ja nicht) repräsentieren, gar nicht bieder und langweilig genug sein können, etwas übrig für chaotische Exzentriker und dieses Image pflegt Johnson bewusst.

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Man muss allerdings in der englischen Geschichte wohl weit in die Vergangenheit zurückgehen, um einen Politiker in führender Position zu finden, der dem Typus von Boris Johnson entspricht, vielleicht bis in die Zeit der Restoration zwischen 1660 und 1688 als die sogenannten „restoration rakes“ von sich Reden machten, Angehörige der Oberschicht, die durch ihr unbürgerliches Verhalten, das allen moralischen Konventionen widersprach, die braven und oft eher frommen Bürger von London zu schockieren suchten und die Bordelle der Hauptstadt ebenso wie die Theater und den Hof durch ihre sexuellen Exzesse und ihre Neigung zu Duellen unsicher machten. Gar so weit ist Johnson, auch wenn er sicher nicht zu Gewalt neigt (wenn man davon absieht, dass er früher mal im Auftrag eines Freundes, Darius Guppy, einen Journalisten verprügeln lassen wollte) von diesen „restoration rakes“ nicht immer entfernt. Sein Privatleben war jedenfalls immer recht abwechslungsreich und gänzlich unbeinträchtigt durch die Moralvorstellungen der Mittelschicht, die allerdings auch nicht mehr das sind, was sie einmal waren. Seine jetzige Freundin, die temperamentvolle Carrie Symonds, soll in einem der exklusivsten Clubs London, Loulou’s, aus- und eingehen, wo auch Mitglieder des Königshauses, bekannte Models und Popstars verkehren.

Wenn die Briten, soweit sie Gegner der EU sind, sich vorgenommen haben, zum Abschied die Eurokraten in Brüssel noch einmal so richtig zu schockieren, und ihnen zu zeigen, dass sich kulturell zwischen Großbritannien und der artifiziellen politischen Einheitskultur, die Brüssel den Nationalstaaten verordnen will, ein unüberbrückbarer Graben auftut, dann ist ihnen das jedenfalls gelungen. Besser hätte man ein solches Ziel kaum erreichen können.

Ist Johnson zum Scheitern verdammt?

Nicht leugnen kann man freilich, dass Johnson schon als Student über einen kaum zu zügelnden Ehrgeiz verfügte. Er hat sicher stark narzisstische Neigungen, womit er in der Politik freilich nicht allein steht, man denke an den französischen Präsidenten, der sich offenbar für einen neuen Napoleon oder zumindest für Jupiter hält (da Jupiter kein Franzose ist, hat er freilich nicht denselben Status wie Napoleon). Nach Aussagen seiner Schwester Rachel (große Politiker täten gut daran, keine jüngere Schwester zu haben) wollte Johnson schon immer, schon als Kind, „King of the World“ werden. Nun Weltherrscher ist er nicht, aber immerhin Premierminister. Aber wie lange bleibt er es? Die EU wird ihm, wenn kein Wunder geschieht, keine wesentlichen Zugeständnisse machen, so dass dann wirklich nur der ungeordnete Austritt aus der EU, mit vermutlich doch gravierenden wirtschaftlichen Folgen bleibt. Dass er, vielleicht schon bevor es so weit ist, relativ leicht durch ein Mißstrauensvotum zu einer Neuwahl gezwungen werden kann, darauf wurde bereits hingewiesen.

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Andererseits hat sich Großbritannien auch durch eigene Schuld gegenüber der EU in eine Sackgasse manövriert. Es bleiben eigentlich nur zwei Lösungen: die vollständige Kapitulation gegenüber Brüssel, indem man die Austrittserklärung einfach bedingungslos zurücknimmt und in Brüssel für die nächsten 20 Jahre als belächelter Außenseiter am Katzentisch Platz nimmt, oder der waghalsige Angriff auf die feindlichen Linien, bei dem alles auf eine Karte gesetzt wird. Johnson, der immer schon ein Spieler war, hat sich für die zweite Option entschieden. Kann das gut gehen? Wie schon erwähnt, könnte er durchaus als ein Premierminister in die Geschichte eingehen, der sich nur drei oder vier Monate im Amt gehalten hat oder wahlweise als Regierungschef, der das Land in eine tiefe Wirtschaftskrise gestürzt hat.

Aber ganz so klar sind die Dinge nicht. Die Labour Party ist zur Zeit vor allem damit beschäftigt, sich selbst aufzulösen. Die linksradikalen Fanatiker, die sich der Partei bemächtigt haben, haben viele moderate Anhänger und Abgeordnete nicht zuletzt durch ihren leidenschafltichen Antizionismus, der oft nur schwer von Antisemitismus zu unterscheiden ist, verschreckt. Kommt es im Herbst zu Neuwahlen, werden die Liberaldemokraten Labour vermutlich viele Stimmen wegnehmen, während Johnson der Brexit-Party von Farage seinerseits Wählerstimmen abnehmen kann, da er ja den bedingunslosen Brexit zum Programm erhoben hat. In England kann man auch mit 34 oder 35 % der Stimmen eine absolute Mehrheit im Unterhaus erringen, wenn die Gegner tief genug gespalten sind, was gut der Fall sein könnte.

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Und wie sieht es mit Brüssel aus? Sicher, hat das Königreich die EU einmal verlassen, wird es sofort beginnen müssen, doch ein Abkommen mit Brüssel auszuhandeln, damit der Handel nicht vollständig zusammenbricht. Dabei wird es zum Beispiel um gemeinsame Produktstandards, übrigens auch für Dienstleistungen gehen. Das könnte kompliziert werden. Aber zwei Trümpfe hielte Johnson dann in der Hand. Zum einen hat er juristisch gegenüber der EU keine Verpflichtungen mehr – das wäre bei Unterzeichung des May-Deals anders gewesen – zum anderen befände er sich im Besitz von zwei Geiseln. Diese Geiseln sind Irland und die deutsche Autoindustrie; beide könnte er durch gezielte handelspolitische Maßnahmen in den Ruin treiben oder zumindest in erhebliche Schwierigkeiten bringen. Zwar haben die Deutschen in ihrer habituellen Todessehnsucht den Untergang ihrer eigentlichen Schlüsselindustrie schon fast akzeptiert, wie so vieles andere auch, und der Parteivorstand der Grünen wird wohl sogar jubeln angesichts dieser himmlischen Fügung, aber in Irland sieht es anders aus. Das Land ist nach Luxemburg das reichste in der ganzen EU und hat seine Interessen innerhalb des Staatenbundes ähnlich wie das kleine Bankenzentrum stets mit beispielloser Rücksichtslosigkeit verfolgt, vor allem auch, um seinen Status als Steuerparadies zu schützen. Es ist aber sehr stark vom Handel mit Großbritannien abhängig. Bricht dieser zusammen nach einem harten Brexit, steht Irland mittelfristig vor dem Bankrott. Das ist eine Entwicklung, die auch Brüssel nicht ganz einfach hinnehmen kann.

Johnsons großes Vorbild ist Churchill. Auf den ersten Blick ist der Vergleich zwischen dem großen Staatsmann und dem Komödianten in der Downing Street absurd. Allerdings als seriöser Politiker galt Churchill vor 1940 im Unterhaus auch nicht unbedingt, und Züge des exzentrischen Angehörigen der alten Elite, der Politik vor allem als großes Spiel betrachtete, trug er auch, hier zeigen sich dann doch Ähnlichkeiten. Als er 1940 den Kampf gegen Hitler aufnahm, setzte er ebenfalls in einer wenig aussichtsreichen Situation, – in der es freilich, auch moralisch, um unendlich viel mehr ging als jetzt im Kampf mit Brüssel – alles auf eine Karte. Ein Vergleich der beiden Persönlichkeiten mag dennoch frivol erscheinen, aber die nächsten Monate werden zeigen, ob nicht zumindest in England für den amüsanten Exzentriker und selbstironischen, oft auch zynischen Spieler als Politikertypus nicht doch noch Platz ist.


[1] Louise Callaghan, Village of blond Turks ready to kill a sheep for Boris its famous son, Sunday Times 28. Juli S. 22, Druckausgabe.

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