Tichys Einblick
Christchurch

Aus Australien gesehen

Ein deutscher Auswanderer, der schon seit Jahrzehnten in Australien lebt, erzählt TE, seine zweite Heimat hätte von Immigration profitiert, auch wenn die Anfeindungen immer da waren: „Erst waren es die Chinesen, dann die Italiener, dann die Griechen, und jetzt Asiaten und Muslime.“

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AW: Bitte kurz etwas zu ihrer Person, wie sie leben, was sie arbeiten und woher ihre Familie stammt.

Hans-Dieter Michatz: Deutscher, seit 36 Jahren in Australien, Melbourne, Sydney. Musiker, lehrt(e) an Universitäten, Schulen – regelmässiger Besuch und Kontakte in Europa

Wie schaut Australien auf die Morde in Christchurch/Neuseeland? Wie ist die Stimmung so kurz nach den schrecklichen Nachrichten?

Australier sind in der Mehrzahl entsetzt, und empathisch. Es entspricht der ‘Volksseele’ im Ernstfall zusammenzustehen, und Neuseeland wird fast wie ‘Zuhause’ empfunden. Die Publikation eines Senators, der Schuldzuweisung im muslimischen Lager betreiben wollte, wurde umgehend und flächendeckend verurteilt. Politiker und Prominenz suchten den Schulterschluss – so auch die Vertreter der anderen Konfessionenen – auch der jüdischen.

Ein Australier soll einer der Attentäter sein, wie berichtet die australische Presse, was weiß man über den Mann? Wie ist generell das Verhältnis zwischen Australien und Neuseeland?

Das ist erwiesen, und er ist inzwischen festgenommen und wegen Mordes angeklagt. Seine Familie ist entsetzt über seine Tat, und arbeitet mit der hiesigen Polizei zusammen. Der Attentäter selbst lebte wohl schon einige Zeit in Dunedin, NZ. Und hatte einen Waffenschein. Die NZ-Regierungschefin hat sofort eine Verschärfung des Waffengesetzes angekündigt. Sieht so aus, als hätte beinahe jeder 3. oder 4. Bürger eine Waffe, und das Mindestalter für Waffenschein und Besitz ist ggw. 16.

Australien behauptet, einen Weg aus der Flüchtlingskrise gefunden zu haben, wie sieht dieser Weg aus? Wie sieht die Migration generell aus?

Die Morde von Christchurch
Brutaler Terror in Neuseeland mit vielen Toten
Das ist ein Politikum ersten Ranges, und die Debatte wird emotional und oft auf niedrigstem verbalem und intellektuellem Niveau geführt– man hat allerdings mit drakonischen Massnamen die ‘Boote gestoppt’, aber die Sache hängt am seidenen Faden.

Die Auffanglager auf Manus Island und anderswo sind stark umstritten, und ihre Verhältnismässigkeit wird mehrheitlich angezweifelt. Australien bearbeitet weiterhin ‘legale’ Flüchtlingseinreisen, aber die Behördern blocken sehr. Auf der einen Seite braucht man mehr Einwohner, auf der anderen werden ‘normale’ Fälle auf die lange Bank geschoben. Nur wenn’s ein Fussballer ist, die Fifa eingeschaltet wird, und die Öffentlichkeit teilhat, geht es plötlzlich. Man tut sich sogar schwer, Ausnahmen in Krankheitsfällen zu bewilligen, und es sterben nachweislich Menschen in diesen Lagern – oder haben schwere psychische Störungen, weil einfach gar nichts passiert.

Welche Chancen und welche Probleme ergeben sich aus der Zuwanderung für Australien?

Australien hat hauptsächlich von Immigration profitiert, auch wenn die Anfeindungen immer da waren. Erst waren es die Chinesen, dann die Italiener, dann die Griechen, und jetzt Asiaten und Muslime. Nacheinander gab es aber überall Chineische Restaurants, Italienische und Griechische Küche und Kaffee, und alles was andere Kulturen zu bieten haben. Bei Muslimen sind die Probleme genau wie anderswo, weil die Fremdheit noch eklatanter ist – das war sie aber auch bei Asiaten. Anfeindungen lösen sich oft in Wohlgefallen auf, wenn man sich aufeinander einlässt, und sich kennen lernt.

Wie schauen Sie vom anderen Ende der Welt auf die Zuwanderung nach Deutschland und Europa?

Kann ich nichts weiter zu sagen – Deutschland wird als das Land gesehen, das die Grenzen geöffnet hat, und die Sympathien sind geteilt. Man versteht die multinationale und vielstaatliche Situation in Europa nicht genau – ebenso nicht die Situation in und mit Afrika. Auf der anderen Seite glaubt man – zumindest in den Städten – noch sehr stark and den Multikulturalismus, und dies manifestiert sich in unzähligen gemischten Freundschaften, Beziehungen, und gemischtrassigem Nachwuchs.

Kann man sagen, so wie es die deutschen Nachrichten machen, dass praktisch jeder Australier ein Eingewanderter ist? Beschreiben Sie bitte, wie sich so etwas, wie ein Nationalgefühl heute in Australien ausdrückt und wie das früher war, welche Entwicklung es genommen hat.

Ein deutscher Auswanderer berichtet
Morde in Christchurch: Schock im Paradies Neuseeland
Natürlich ist es eine geschichtliche Wahrheit, dass Australien als ‘Nation’ einzig und allein von Immigranten ermöglicht wurde. Der lange gepflegte Mythos vom ‘terra nullius’, dem (menschen-)leeren Kontinent ist den Menschen dabei inzwischen eher peinlich, und man versucht, sich den Aboriginees wieder behutsam zu nähern, und sie nach all den Verfehlungen (Kinderumsiedlungen, Lager, Krankheit und Ausrottung) endlich voll zu integrieren – noch ein langer Weg!
Australier sind stolz auf ihr Land, und haben ein grosses Zusammengehörigkeitsgefühl (mit Betonung auf ‘Gefühl!). Dadurch, dass sie in verschiedenen Kriegen ihre Loyalität – und sich selbst – bewiesen haben, und keinen echt verlorenen Krieg verarbeiten mussten, halt sich ein beinahe historisierender und traditionsreicher Nationalismus. Die Verbindung zum Englischen Königshaus spielt dabei eine grosse Rolle. Man ist hier, wo auch der Neokapitalismus immer noch Vorrang hat, in der Grundeinstellung ungemein konservativ.
Zeremonien zur Feier der Einbürgerung sind immer ein grosser Akt, bei dem Angehörige verschiedenster Rassen ihren Eid auf Australien und seine Verfassung ablegen. Auch diese ‘neuen’ Australier sind oft genug mit Herz und Seele dabei, und man trift oft Neuaustralier, besonders der zweiten Generation, die einen fast überzogenen Nationalstolz haben.

Wie sehr wird die Debatte um Zuwanderung von den Ereignissen in Europa bestimmt? Wird viel darüber diskutiert oder bleibt das andere Ende der Welt das andere Ende der Welt?

Australier nehmen meist nicht so ganz viel Notiz von dem, was in Europa oder anderswo passiert – es sei denn, es ist irgendeine Tragödie. Man ist da eher insulär. Manchmal wurden letztlich die Massnahmen im Mittelmeer als Rechtfertigung der eigenen Politik angeführt, aber die Perspektive ist eher vage.

Australien ist Teil des Commonwealth, was sagen Sie zu den Verhältnissen im „Mutterland“ Großbritannien? Sind Nachrichten wie die aus Telford/England usw., wo Pakistani tausende englische Minderjährige prostituiert haben sollen auch ein Thema in Australien?

Der Bezug zum UK ist weitgehend traditionell, emotional, und praktisch (man bekommt leicht britische Staatsbürgerschaft, und kann dort leben – ist aber jetzt etwas sauer, dass dies nicht mehr gleichzeitig den Zugang nach Europa beinhaltet). Es gibt immer wieder Berichte über Ausbeutung, und von mafiösen Strukturen, wobei sich die Berichterstattung von kommerzliellen und öffentlichen Sendern stark unterscheidet. In den letzteren geht es weitaus weniger sensationsbezogen zu, so dass man durchaus verschiedene Standpunkte sieht und hört. Auch fasst man sich oft und intensiv gern an die eigene Nase um aufzuzeigen, wie jeder, der in irgendeiner Form von Ausbeutung profitiert, auch dazu beiträgt.

Wie ist in Australien der Umgang mit Muslimen? Gibt es Moscheen, gibt es Angriffe auf Muslime? Ist Rassismus ein Thema?

Klare Worte
Hamed Abdel-Samad zu Christchurch
Muslime sind in Australien schon seit längerem relativ integriert. Dies scheint in Neuseeland noch mehr der Fall zu sein. Hier muss man – wie auch bei jüdischen Mitbürgern aber auch bei den fundamentalistischen evangelikalen Christen – unterscheiden zwischen streng religiösen Schichten, und den säkularisierten Menschen unterscheiden.
Es gibt Moscheen in allen größeren Gemeinden, und bisher wenig Probleme. bisher noch keine Attacken, und jetzt wird natürlich stärker bewacht. Es sind allerdings sofort die Politiker der grossen Parteien in die Moscheen gepilgert um dort mit zu gedenken und zu sprechen. Australier haben einen ziemlich ausgeprägten Rassismus, den sie aber nicht unbedingt zugeben. ‘Terms of Endearment’ wie z.B ‘Kraut’ für Deutsche werden mit einer Mischung von Unverständnis und Humor benutzt. Unterschwellig gibt es Ressentiments – gegen Deutsche noch aus den Weltkriegen – und ansonsten die üblichen Vereinfachungen. Auf der anderen Seite lebt man aber, besonders in der jüngeren Generation und in den Städten doch schon in einer gelebten Symbiose.