Tichys Einblick
Seehofers Brandbrief an EU-Kommission

Deutschland lockt Flüchtlinge und Griechenland schickt sie jetzt

Horst Seehofer beschwert sich bei der EU-Kommission, dass Griechenland Asylzuwanderer nicht gut genug versorge, die deswegen nach Deutschland kommen. Sein griechischer Amtskollege macht ihm klar, dass Deutschlands Attraktivität für Armutszuwanderer nicht länger Griechenlands Problem ist...

Horst Seehofer, Bundesminister des Inneren

IMAGO / Political-Moments

Trotz Einschränkungen der persönlichen Freiheit im Pandemiejahr stellten
laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf)
122.170 Personen einen Antrag auf Asyl in der Bundesrepublik Deutschland.
In Griechenland waren es im selben Zeitraum rund 35.000 Personen. In Italien etwas mehr 21.000 Personen.

Dem Bundesinnenminister ist wohl bei der Durchsicht dieser Asylzahlen etwas aufgefallen, das ihm solche Bauchschmerzen macht, dass er gemeinsam mit fünf EU-Innenministerkollegen einen Beschwerdebrief an die EU-Kommission geschrieben hat: 17.000 Asylantragsstellende seit Juli 2020 in Deutschland haben zuvor schon in Griechenland Schutz beantragt bzw. erhalten. „Die Betreffenden nutzen ein Schlupfloch“, wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung es zutreffend formuliert: „Als anerkannte Flüchtlinge dürfen sie mit ihrem griechischen Reisedokument neunzig Tage lang im Schengen-Raum unterwegs sein.“

Nun wäre es rechtlich für Deutschland möglich – jedenfalls rein theoretisch nach Dublin-Regelung – Zweitasylantragstellende rückzuüberstellen in ihr EU-Ersteintrittsland, das ja für ihren Asylantrag zuständig ist.

Wie tagesschau.de allerdings am 22.September 2020 vermeldete, betrachtet die Bundesregierung das Dublin-Verfahren selbst längst als „gescheitert“. Dennoch würde die Bamf-Bürokratie immer noch fein säuberlich nach Dublin-Regelung Anfragen an Ersteinreiseländer senden, ihre Asylantragstellenden doch bitte zurückzunehmen – „mit mäßigem Erfolg“.

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Im ersten Quartal 2020 beispielsweise stellte Deutschland 10.382 so genannte Übernahmeersuchen an andere EU-Länder, die meisten davon gingen nach Griechenland und Italien (2195 und 1877 Anträge). Tatsächlich nach Griechenland überstellt wurden allerdings nur ganze vier Personen. Italien nahm im selben Zeitraum 360 Personen zurück.

Für diese ohnehin eher nur noch theoretischen Ersuchen Deutschlands an Griechenland gab es allerdings spätestens seit Anfang 2021 einen jähen Bruch, als das Oberverwaltungsgericht in Münster (Aktenzeichen 11 A 1564/ 20.A) befand:

„Asylanträge von in Griechenland anerkannten Schutzberechtigten dürfen grundsätzlich nicht als unzulässig abgelehnt werden, weil zumindest derzeit   vorbehaltlich be­sonderer Umstände des Einzelfalls – generell die ernsthafte Gefahr besteht, dass sie im Falle ihrer Rückkehr dorthin ihre elementarsten Bedürfnisse (“Bett, Brot, Seife“) für einen längeren Zeitraum nicht befriedigen können. Das hat das Oberverwaltungsgericht durch Urteile vom 21. Januar 2021 entschieden und die vorausgehenden Ur­teile der Verwaltungsgerichte Arnsberg und Düsseldorf geändert.“

Der EU-Mitgliedstaat Griechenland wurde also von einem deutschen Gericht de facto als nicht sicheres Herkunftsland eingestuft, während sich die Innenministerkonferenz zuletzt nicht darauf einigen konnte, beispielsweise Syrien als nicht sichere Herkunftsland einzustufen. Klingt wie Satire, ist aber Wirklichkeit: Seehofer und Kollegen streiten um Rückführungen nach Syrien während in Münster Griechenland kassiert wird, weil es dort kein Bett, kein Brot und keine Seife gäbe.

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Und was macht Horst Seehofer? Er wäscht sich die Hände in Unschuld und beschwert sich bei der EU-Kommission mit Schreiben datiert auf den 1. Juni 2021 unter anderem darüber, dass Griechenland nichts dagegen tun würde, die Zustände für Migranten im Land zu verbessern. Unterstützung geholt für seine Beschwerde hatte sich der Bundesinnenminister bei Kollegen aus Frankreich, Belgien, den Niederlanden, Luxemburg und der Schweiz. Warum er dafür allerdings fast ein halbes Jahr Zeit brauchte seit dem Urteil aus Münster, bleibt sein Geheimnis.

Als am Dienstag die Innenminister der EU in Luxemburg zusammentrafen, hatte ihnen die EU-Grenzschutzagentur Frontex aktuelle Zahlen in die Runde geworfen. Freilich ist jetzt schon fraglich, was diese Informationen von Frontex noch wert sind, nachdem der EU-Rechnungshof einen Sonderbericht veröffentlichte, welcher Versagen auf ganzer Linie bescheinigt.

Wo aber Frontex laut Sonderbericht schon nicht verhindern kann, dass Schlepperbanden und Nichtregierungsorganisationen die illegale Migration an den Hotspots der illegalen Einreise befördern, kann wohl auch niemand erwarten, dass ausgerechnet Frontex als eine Art mobile Asylantragsannahmestelle ernsthaft etwas gegen die Sekundärmigration erreichen kann – denn um die geht es maßgeblich im Schreiben der sechs europäischen Innenminister.

Noch bemerkenswerter – also geradezu alarmierend für Deutschland – ist allerdings die Reaktion des griechischen Migrationsminister Notis Mitarachi auf das Schreiben von Seehofer und Kollegen. Das ging nämlich in Kopie auch an ihn.

Mitarachi wies zunächst zurück, dass es bei der Unterbringung von Asylbewerbern in Griechenland überhaupt gravierende Defizite gäbe. Man würde sogar mehr als nur den „fairen Anteil“ aufnehmen. Dann gab er indirekt Deutschland und dessen üppigem Sozialsystem die Schuld an der Sehnsucht einer Reihe von griechischen Asylanten zur Weiterreise nach Deutschland: Das läge daran, „dass die Aussichten auf Integration, Arbeit und Sozialleistungen in den Staaten unterschiedlich seien.“

Zynismus? Sarkasmus? Oder nicht einfach Realismus? Was Mitarachi beim Namen nennt, ist doch längst bekannt – jedenfalls jenseits deutscher Ministerien: Es sind die vergleichsweise großzügigen Sozialleistungen und Barzahlungen und die milliardenschweren Bemühungen um Integration, welche die Menschen dazu treiben, nach Deutschland weiterzureisen.

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Und weil sich der griechische Migrationsminister offensichtlich ganz sicher ist, dass sein Land niemals das Gefälle zwischen Griechenland und Deutschland beispielsweise durch ein Anheben etwa der griechischen Sozialleistungen wird angleichen wollen, erteilt er der Aufnahme und Integration von Flüchtlingen gleich mal pauschal eine Absage. Sein Vorschlag – freilich nicht so direkt formuliert: Schafft die Dublin-Regel doch gleich ganz ab. Gewährt den Asylsuchenden mehr Mobilität innerhalb Europas: „Wenn wir ein System schaffen sollen, das auf Solidarität beruht, dann weist das Recht von Flüchtlingen auf Mobilität den Weg.“

Seehofer und seine Kollegen hatten an die EU-Kommission und den griechischen Migrationsminister Notis Mitarachi geschrieben:

„Wir beobachten seit geraumer Zeit einen Trend irregulärer sekundärer Bewegungen von Migranten und Asylbewerbern in Europa, insbesondere aus Griechenland, in andere Mitgliedstaaten in West- und Mitteleuropa.“

Seehofer und Kollegen fordern von der EU-Kommission also letztlich, dafür zu sorgen, dass sich Asylanten in Griechenland genauso wohl fühlen, wie in Deutschland, jedenfalls „europäische Mindeststandards“. Weiterhin sollen nach Dublin-Reglung Zurückgeführte besser reintegriert werden und bei reisenden Asylbewerbern sollen die Griechen genau prüfen, ob diese Reisenden auch über die entsprechenden finanziellen Mittel verfügen zu reisen und um ihren Aufenthalt in einem anderen Land zu bestreiten. Was in der Türkei für Afghanen noch mit einem gewissen Aufwand zu bewerkstelligen ist (Visa-Antrag usw.), macht Griechenland Asylbewerbern ganz leicht: Wer einen Schutzstatus erhält, darf 90 Tage im Schengenraum reisen.

Die Dublin-Vereinbarung über Rückführungen ist faktisch gescheitert und die Schengen-Vereinbarung verhindert einen effektiven nationalen Grenzschutz. Angesichts dessen ist es ein merkwürdiges diplomatisches Spielchen zwischen Seehofer und Freunden einerseits und dem griechischen Minister andererseits, das über die EU-Kommission da stattfindet.

Nicht nur die Griechen wissen auf der Klaviatur des großen europäischen Migrationsdurcheinanders zu spielen. Zugleich verhindern die Italiener den gezielten Ausbau einer europäischen Asylbehörde, indem sie immer wieder kleinere Reformen blockieren, die ein europäisches Asylsystem immer wieder erfolgreich verzögern.

Deutschland jedenfalls hat, solange es keinen politischen Willen zeigt, seine Migrationsattraktivität zu drosseln, in diesem Spielchen keine Trümpfe vorzuweisen. Also darf man davon ausgehen, dass alles so weiterläuft und Deutschland mit anhaltend hoher illegaler Migration rechnen darf.

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