Tichys Einblick
Ein kleiner Rückblick

Die „Reichstagsschändungen“ – von Greenpeace bis Reichsbürger

Man muss gar nicht weit zurückblättern in den Archiven, um zu erfahren, wer schon einmal vor oder gar im Reichstag demonstriert hat. Und weshalb oder wogegen. Und vor allem: Wie entspannt damals Politik und Medien reagiert haben.

Greenpeace-Aktivisten enthüllen am 3. Juli 2020 anlässlich der Abstimmung über das Kohlausstiegsgesetz am Reichstagsportal ein Transparent

imago images / Jürgen Heinrich

Die Superlative der Verdammung der Demonstranten auf den Stufen des Reichstages kennt kein Halten mehr: Bundespräsident Steinmeier hält das für „verabscheuungwürdig“ und die Bundeskanzlerin lässt über ihren Sprecher Steffen Seibert verkünden, man hätte am Wochenende „schändliche Bilder am Reichstag“ gesehen. Für Angela Merkel sind die drei Bild-Helden von der Polizei „geistesgegenwärtig und tapfer“ gewesen. Aber was haben die tapferen Beamten gemacht? Ein Kind durch Sprung in die Spree vor dem Ertrinken gerettet? Ach, wie überdreht das alles klingt.

Wie kampagnen-opportunistisch hier Politik gemacht wird, ist das eine – bemerkenswerter noch sind bei Bundeskanzlerin und Bundespräsident diese moralischen Zeigefinger, diese gebetsmühlenartigen Ermahnungen, wie von der Kanzel herunter auffordernd, bloß nicht zu vergessen, dass diese kriminellen Freiheitsliebhabertrottel da in der rechten Schmuddelecke schwer des Teufels sind.

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Berechtigt? Sicher nicht. Denn wo in Stuttgart und Frankfurt die Plünderungen und Interims-No-Go-Areas in deutschen Innenstädten als Party durchgehen, kann ja das hektische Selfie auf den VIP-Treppchen des Reichstages kein überdimensioniertes Verbrechen sein, allenfalls eine Straftat, die dem Falschparken um die Ecke durchaus gleich käme, also parken dort, wo man nicht soll oder darf und trotzdem kurz für ein Selfie anhält.

Aber was noch viel bemerkenswerter ist, ist die Annahme der Politik, der Bürger sei dumm und vergesslich. Bemerkenswert ist auch die Faulheit der einst Leitmedien genannten Zeitungen, einmal in ihren Archiven nachzuforschen – sie müssen dafür gar nicht weit zurückblättern – ob wer und wann schon einmal vor oder gar auf dem Reichstag demonstriert hat und weshalb, wogegen und wie damals Politik und Medien reagiert haben. Wenn sie nicht in ihren Archiven schauen mögen, dann reicht aktuell schon der Blick in die Sozialen Medien – auch dort füllt sich das unangemeldete Reichstagsbesucherregister.

Fangen wir mal bei folgendem beleidigendem Plakat an, dass TE hier nur deshalb inhaltlich im Zitat wiedergibt, weil es geeignet ist, die ganze Tragweite der politmedialen Bigotterie – nein Hetze! – wiederzugeben: Über einem Plakat auf einer Umweltaktivisten-Attacke gegen den Reichstag vor zehn Jahren heißt es da über einem Bild von Angela Merkel (tiefes Dekolleté, wohl vom Besuch in Bayreuth): „Die Deutsche Atom-Nutte“. Die Bundeskanzlerin würde sich den vier Stromriesen gegenüber prostituieren. Auf einer dazugehörigen Website unter dem selben beleidigenden Stichwort ist bis heute von „Landesverrat“ der Kanzlerin die Rede. Und was danach aus dem Atomstrom unter Merkel geworden ist, ist ja hinreichend bekannt. Eine große Ermunterung. Mag sein, dass der eine oder andere sich so animiert gefühlt haben mag in der Annahme, man müsse die Bundeskanzlerin nur deftig genug beleidigen, dann reagiere sie schon. Später wurde das Atom-Nutten-Plakat auch noch auf anderen Demonstrationen wie etwa einer in München gezeigt, ohne dass die so Geschmähte dagegen rechtlich vorgegangen wäre.

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Kommentar der Kanzlerin übrigens damals: 120.000 Antiatomdemonstranten würden nicht die Stimmen der Wähler repräsentieren. Was für eine Ermunterung eigentlich für alle Kritiker der Corona-Maßnahmen mit ihrem Protest heute einfach weiterzumachen – sie wird schon irgendwann einknicken?

Greenpaece e.V. weiß natürlich um die Parallelen zwischen der umweltaktivistischen  Reichstagseroberung und der aktuellen Aktion. Und der finanziell so gut ausgestattete Verein bringt seine Presseabteilung in Stellung und twittert dazu in so etwas, wie einem blütenreinen wundervollem Ulrike-Meinhof-Antifa-Kassiber-Sprech:

„Demokratische Grundrechte, Solidarität und Gewaltfreiheit sind für uns als Werte nicht verhandelbar, sondern Grundlage unseres Handelns. Wer den von Demokratiegegner*innen zur Schau gestellten gewaltbereiten Aktivismus mit friedlichen Aktionen und der faktenbasierten Arbeit gemeinnütziger Organisationen gleichstellt, befeuert die aktuelle Demokratie- und Wissenschaftsfeindlichkeit und ist dadurch Teil des Problems.“

Teil des Problems? Und dann? Was da klingt, wie die Schwester der aktuellen Ansagen des Bundespräsidenten – jeder müsse jetzt „den Feinden unserer Demokratie die Stirn bieten“, sonst mache er sich gemein – trägt auch bei Greenpaece e.V. Züge des Totalitarismus. Gefährlich jedenfalls sind beide Ansagen für die Demokratie. Und mit einer Debatte um die Bedeutung der Wissenschaft hat beides nichts zu tun.

Noch einmal weiter, dreizehn Jahre zurück, bauen sich Umweltaktivisten zunächst ungehindert – und später gar von der Politik wohlwollend kommentiert – auf den Treppen des Reichstages auf mit einem Banner: „Der deutschen Wirtschaft“.

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Kletterer seilten sich damals sogar am Dach des Reichstages hinauf. Nicht die Polizei schritt 2007 in Kampfausrüstung ein, es waren beanzugte Bedienstete des Reichtages die sich darum bemühten, die Personalien der Aktivisten festzustellen, während unter dem Applaus einer johlenden Menge am Fries des Reichstags das Banner von den Kletterern aufgehängt wurde. Unten las dazu ein junger Aktivist von den dazugehörigen Handzetteln vor, dass der Bundestag keine freiheitliche Institution mehr sei, sondern nur noch der Handlanger der Wirtschaft.

Nein, nicht etwa die Polizei entfernte dann das Banner, die Höhenrettung der Feuerwehr half den Demonstranten bei der Abnahme. Zuvor schon waren vier Protestler von der Tribüne des Reichstages ins Plenum gesprungen und hatten dabei Papiergeldscheine geworfen.

Kommentar des damaligen Bundestagspräsidenten Norbert Lammert (CDU): Der Vorfall belege die Gratwanderung zwischen Besucherinteressen und Problemen, die „immer mal auftreten können“. So etwas könne „unter Aufrechterhaltung liberaler Umgangsformen“ nicht für immer ausgeschlossen werden. Kann man es noch wattierter ausdrücken?

Übrigens hat Greenpeace die Aktion vor wenigen Wochen erst, am 3. Juli 2020 anlässlich der Abstimmung über das Kohleausstiegsgesetz wiederholt (vgl. unser Bild) und ein Banner mit der Aufschrift „Eine Zukunft ohne Kohlekraft. Greenpeace“ direkt vors Portal gehängt. Empörung blieb aus.

Schneidet man diese Szenen gegen die Aktion vom Wochenende am Reichstag und vergleicht man die Stimmen aus Politik und Medien – besser kann man die Bedrohungslage für Demokratie- und Meinungsfreiheit kaum wiedergeben: Nicht der einzelne Bürger ist entfesselt, es ist das so genannte Establishment. Junge Aktivisten hätten hier – also eigentlich – ausreichend zu tun.

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