Tichys Einblick

Die Balkanroute war nie dicht: Wieder Tausende auf dem Weg nach Deutschland

Auf dem Balkan kündigt sich eine Lage wie im Herbst 2015 an. Die Grenzen sind löchrig und die dortigen Staaten wissen allzu gut, dass sie für die Migranten nur Durchgangsstationen nach Deutschland sind.

Migrant crisis in Tuzla, Bosnia and Herzegovina 11.10.2019., Tuzla, Bosnia and Herzegovina - In the past month, a large number of migrants have appeared in Tuzla.

imago images / Pixsell

Verstörende Bilder in den sozialen Medien: Privataufnahmen zeigen endlos lange Schlangen von jungen männlichen Migranten, die durchs Land ziehen, begleitet von ein paar wenigen Polizisten mit langen Schlagstöcken – laut O-Ton aktuelle Aufnahmen aus Bosnien. Die Bilder erinnern an die Lage während der Massenzuwanderung von 2015. Zustände, die sich, wie die Bundeskanzlerin oft versprach, nicht wiederholen sollten.

Auch der Spiegel hatte schon vor zwei Wochen kein Blatt mehr vor den Mund genommen und unter der Überschrift „…dann eben wieder die Balkanroute“ erschreckende Zahlen und Fakten recherchiert und veröffentlicht, die belegen, dass die Balkanroute keineswegs, wie im Stern fast zeitgleich behauptet, „dicht“ ist.

Demnach halten Frontex-Mitarbeiter und griechische Polizisten alleine an der Grenze zu Nord-Mazedonien rund tausend Migranten pro Monat auf. Für die Behörden sei das nur die Spitze des Eisberges: „Die Behörden vermuten, dass noch viel mehr sich erfolgreich den Weg Richtung Norden bahnen.“ Der Anstieg hätte im Frühjahr begonnen und halte noch an.

An der deutschen Grenze sieht es nicht anders aus. Alleine in den ersten acht Monaten des Jahres wurden schon 6700 illegale Grenzübertritte an der deutsch-österreichischen Grenze registriert. Und das sind nur die wenigen, die tatsächlich erwischt wurden.

Noch vor wenigen Wochen hieß es, am türkisch-griechischen Grenzfluss Evros würden täglich fünfhundert Migranten versuchen, illegal in die EU zu gelangen – das wären dann alleine an diesem einen neuralgischen Punkt knapp 200.000 Menschen im Jahr, die ganz überwiegend nach Deutschland kommen wollen.

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Auch die griechischen Inseln waren bisher keineswegs Endstation für Zuwanderer. Griechenland hat kontinuierlich tausende Illegale aufs griechische Festland gebracht um neue Kapazitäten für Nachrücker zu schaffen, anstatt die Menschen in die Türkei zurückzuschicken. Griechenland plant dafür, die Türkei als sicheres Herkunftsland einzustufen, während Erdogan gerade alles dafür tut, diese Sicherheit vakant zu stellen, da die Türkei jetzt aktiv und offiziell in den Syrienkrieg eingestiegen ist. Und Griechenland weiß: Die Migranten auf dem Festland wollen nicht bleiben. Schnell ist man sie los Richtung Norden.

Angenommen, der Türkei-Deal funktioniere, wie viele Menschen würden dann weniger kommen? Kein einziger, wenn für jeden Zurückgeschickten einer offiziell in die EU einreisen kann. Klar, hier hat man auf Abschreckung gebaut: Denn die Zurückgeschickten sind ja nicht identisch mit den an ihrer Stelle Auserwählten, die dann 1:1 nach Europa kommen dürften. Aber all das ist Theorie, wenn es bisher noch fast jeder dieser überwiegend jungen Männer nach Deutschland geschafft hat, der herkommen wollte.

Die taz berichtet gerade von „elenden Zuständen“ auf der Balkanroute. Dort würden sich Zustände abzeichnen, wie in Libyen. Die Zahl der Flüchtlinge steige wieder, die EU schaue „angestrengt weg“. Das linke Tagesblatt erkennt also immerhin, dass hier dringender Handlungsbedarf besteht. Weiter heißt es da, dass das Augenmerk der Öffentlichkeit beim Thema Migration zurzeit vor allem auf das Mittelmeer gerichtet sei. Ein Ablenkungsmanöver vor neuen gewaltigen Zahlen, die sich auf der Balkanroute zusammenbrauen? Meint das die taz? Die Berliner Zeitung weiß auch von Schlupflöchern zu berichten entlang der ungarischen und nordmazedonischen Grenze – auch diese Abschnitte sind demnach keineswegs dicht. Alle diese Länder haben lediglich ein Transitproblem: Hier wollen Menschen passieren, nicht bleiben.

Jetzt steht Bosnien-Herzegowina im Fokus der Balkanroute nach Deutschland. Aus Bosnien sollen besagte Filmaufnahmen stammen. Hier muss auch nichts im Geheimen von wem auch immer aufgezeichnet werden, niemand bestreitet ja diese bedrohlich ansteigenden Zahlen. Bedrohlich insofern, als hier wieder quantitative Zustände entstehen könnten wie im Herbst 2015.

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An vielen Stellen der Balkanroute entstehen neue Lager. Wartehallen in erbärmlichen Zuständen auf dem Weg nach Deutschland. Und kein Balkanstaat auf der Balkanroute legt es darauf an, hier besonders komfortable Zwischenstationen einzurichten. Zu groß ist die Gefahr, dadurch zu einem begehrten Zwischenstopp zu werden auf dem langen Weg nach Deutschland. Nicht einmal die ansonsten in der Sache kaum alarmistisch agierende linksgrüne taz will anzweifeln, dass die Balkanroute demnächst wieder explodiert:

„Sollte sich das Szenario einer anschwellenden Migrationsbewegung über die Balkanroute bewahrheiten – woran kaum zu zweifeln ist –, würde Bosnien und Herzogowina als eine Art „europäisches Libyen“ weiter destabilisiert.“

Die Intention dahinter ist klar: Wenn ich jetzt schon die Länder der Balkanroute mit Libyen vergleiche, wer würde später so inhuman sein, Menschen dorthin zurückzusenden, die sich illegal auf die Reise nach Deutschland machen. Es besteht also in Kreisen, die für eine unbegrenzte Zuwanderung plädieren, durchaus der Wille, die Staaten entlang der Balkanroute zu Orten des Schreckens für Migranten hochzustilisieren, nur, um spätere Zurückweisungen dann als unmenschlich brandmarken zu können.

Die Sicherheit Deutschlands würde auch am Hindukusch verteidigt, hieß es vor nunmehr fast zwei Jahrzehnten von einem deutschen Verteidigungsminister. Damals bestand die Wehrpflicht noch, und quer durch die Parteien war man sich einig, dass es keiner Bundeswehr für eine Landesverteidigung mehr bedürfe. Jetzt haben die Sicherheitsinteressen Deutschlands wieder einen direkten Bezug zum Hindukusch, da es in großer Zahl auch Afghanen sind, die den Weg nach Deutschland suchen und schaffen werden.