Tichys Einblick
Ukraine-Krieg aus polnischer Sicht

Was die polnische Haltung zu Flüchtlingen von der deutschen unterscheidet

Während Osteuropäer mit Mut und Hingabe die ukrainische Flüchtlingswelle bewältigen, zeigen deutsche Politiker, dass sie einfach nicht dazulernen wollen. In Polen weiß man dagegen emigrationspolitisch zu differenzieren. Von Berthold Löffler

Im Nationalstadion Warschau werden pro Tag 2500 bis 3000 Flüchtlinge registriert. Sie werden versichert, können staatliche Leistungen beziehen und stehen dem Arbeitsmarkt zur Verfügung.

IMAGO / Reichwein

Manchmal werden selbst aufschlussreiche Nachrichten kaum wahrgenommen. Wie weit Ost- und Westeuropa in der Migrations- und Flüchtlingspolitik nach wie vor auseinanderliegen, war nämlich am Montag nachzulesen in der renommierten polnischen Tageszeitung Rzeczpospolita (Republik). Die Zeitung berichtete, die Regierung Morawiecki wolle es zu keinem Präzedenzfall in der Migrationspolitik kommen lassen. Deshalb hätten weder Polen noch Ungarn, weder Rumänien noch die Slowakische Republik die EU-Kommission um eine gesamteuropäische Verteilung von Flüchtlingen nachgesucht.

Genau dafür aber stellt die EU eine rechtliche Grundlage zur Verfügung. Die sogenannte „Massenzustroms-Richtlinie“ soll für eine „ausgewogene Verteilung“ von Flüchtlingen und der mit ihnen verbundenen Lasten im Rahmen eines sogenannten Solidaritätsmechanismus sorgen. Bislang hatten die Osteuropäer jeden Vorschlag einer europaweiten Verteilung nichteuropäischer Flüchtlinge strikt abgelehnt.

Vermutlich sahen dieser Tage die migrationsfreundlichen EU-Eliten eine neue migrationspolitische Chance heraufziehen, dank Ukraine-Krieg. Weil jetzt selbst massiv betroffen von einer Flüchtlingswelle, würden die mittelosteuropäischen EU-Länder dankbar auf den Solidaritätsmechanismus zurückkommen. Wären die Osteuropäer darauf eingestiegen, hätten sie sich später aber nicht mehr glaubwürdig gegen einen ständig geübten EU-weiten Verteilungsmechanismus von Migranten wehren können. In diese Falle sind die Osteuropäer jedoch nicht getappt.

Vergiftetes Lob für den Umgang Polens mit Flüchtlingen

Dabei hatte alles so schön angefangen. Auf den ersten Blick klangen die Kommentare in den Medien wohlwollend. Polen und Ungarn entdecken ihr Herz für Flüchtlinge, tönte es Mitte Februar noch in die Mikrofone der Korrespondentinnen von ARD und ZDF, als die erste Welle ukrainischer Kriegsflüchtlinge über die polnische, ungarische, slowakische, rumänische und moldauische Grenze schwappte. Dasselbe Bild bei den Druckmedien. Die Welt wunderte sich am 16. Februar über „Polens überraschend großes Herz für Migranten“. Der seit 2015 klaffende migrationspolitische Riss durch Europa schien fast schon geheilt.

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Aber eben nur fast. Denn das Lob war in Wirklichkeit vergiftet. Seine Relativierung folgte gleich im nächsten Satz. Die Regierung in Warschau lehne die Aufnahme von Flüchtlingen seit Jahren kategorisch ab, schrieb die Welt. Das gelte für Menschen aus Afrika oder Nahost – nicht aber für Ukrainer. Polen kultiviere ein Image als migrationsfeindliches Land, polnische Politiker hetzten immer wieder gegen Flüchtlinge aus dem Nahen Osten; an der Grenze zu Weißrussland dränge der polnische Grenzschutz Schutzsuchende brutal zurück. Was die Migration aus der Ukraine anbelange, verfolge Polen zwar eine radikale Willkommenskultur. Ja, es öffne seine Grenze für Ukrainer. Aber eben vor allem aus eigensüchtigen Gründen.

Da blitzte sie schon wieder auf, die sattsam bekannte, moralische Überheblichkeit, mit der sich Mainstream-Journalisten hierzulande dem linksliberalen Zeitgeist andienen. Ja selbst der Deutschlandfunk fragte mit nur mühsam unterdrückter Häme: „Wird Osteuropa jetzt migrationsfreundlich?“ Und holte sich als bewährte Vertreterin deutscher Besserwisserei Katarina Barley ins Studio. Denn als intime Kennerin osteuropäischer Verhältnisse kann die Vizepräsidentin des EU-Parlaments ja wohl nicht vors Mikrofon geladen worden sein. Ändern die migrationsskeptischen Länder gerade ihre Haltung?, wurde Barley gefragt. „Nicht ganz“, so ihre Antwort: „Politisch scheint es so zu sein, dass diese Länder zeigen wollen: Schaut mal, wenn die ‚richtigen‘ Flüchtlinge kommen, dann sind wir ganz großherzig und nehmen die auch auf.“ Entsprechend sei damit zu rechnen, dass die Schotten wieder dichtgemacht würden, wenn die „falschen“ Flüchtlinge kämen.

Ein nicht so ganz faires Urteil, wenn man bedenkt, dass in Polen seit Beginn des russischen Überfalls bereits über zwei Millionen Flüchtlinge aus der Ukraine angekommen sind. Und wenn man in Rechnung stellt, dass Polen zwischen 2014 und dem 24. Februar 2022 auch schon zwei Millionen Flüchtlinge und Migranten aus der Ukraine aufgenommen hat.

„Prinzip der migrationspolitischen Differenzierung“

In gewisser Hinsicht aber trifft Barleys abfällige Äußerung sogar zu. Polen und andere osteuropäische EU-Staaten lassen sich von grundlegend anderen migrationspolitischen Vorstellungen leiten als EU-Kommission und EU-Parlament, Deutschland und die meisten Länder Westeuropas. Der polnische Journalist Michał Karnowski hat am 26. Februar 2022 im Nachrichtenmagazin wPolityce diesen Unterschied auf den polemisch zugespitzten Punkt gebracht. Ja, Polens Grenzen seien offen für ukrainische Flüchtlinge, sie würden mit offenen Armen empfangen.

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Aber die Polen könnten unterscheiden zwischen wirklichem menschlichem Unglück und hybrider Kriegsführung. Sie könnten unterscheiden zwischen denen, die vor den Bomben Putins fliehen und denen, die von Putin und seinem Erfüllungsgehilfen Lukaschenko herbeigekarrt worden seien, um ihnen bei ihrem Angriff auf die Ukraine zu helfen. Das seien keine Flüchtlinge gewesen, die vor kriegerischen Ereignissen geflohen seien. Der tiefere Sinn des Sturms von Migranten auf die polnische Ostgrenze sei es gewesen, die Strukturen des polnischen Staates zu erschüttern, das Vertrauen in Armee und Grenzschutz zu schwächen und Polen ins Chaos zu stürzen.

Karnowski formuliert damit etwas, das man „Prinzip der migrationspolitischen Differenzierung“ nennen könnte. Während die EU jedem Bürger dieser Welt rechtlich einen Anspruch auf die Prüfung eines Asylbegehrens zuerkennt, was faktisch bei fast jedem Asylantragsteller in den Ländern Westeuropas mit einem Daueraufenthalt endet, beharrt Osteuropa hartnäckig auf einer rationalen Migrations- und Flüchtlingspolitik. Und die orientiert sich in erster Linie an den eigenen Interessen, Möglichkeiten und realistischen Grundsätzen von Hilfe. Ein gewaltiger Unterschied etwa zu Deutschland, wo die Einstellungen und Interessen der eigenen Bevölkerung munter missachtet werden.

Konzentrische Solidarität mit Abstufungen

Dieses migrationspolitische Differenzierungsprinzip stützt sich auf drei Voraussetzungen: Erstens, die begriffliche Unterscheidung zwischen Flüchtlingen und Migranten. Dem liegt unter anderem die Erkenntnis zugrunde, dass selbst 2015 die Mehrheit der Menschen, die in Europa ankamen, keine Flüchtlinge, sondern in Wirklichkeit Migranten waren. Die bewusste Verwischung des begrifflichen Unterschiedes erfüllt einen Zweck. Sie dient der emotionalen Aufladung und moralischen Absicherung einer Politik, die letztlich unbegrenzte Einwanderung will.

Zweitens, der Grundsatz, Hilfe bei Krieg, Naturkatastrophen und Ähnlichem grundsätzlich nur vor Ort oder in unmittelbarer Nachbarschaft zu leisten. Hilfe nahe am Schauplatz der Katastrophe macht eine schnelle Rückkehr der Flüchtlinge möglich und hilft den betroffenen Gebieten am besten dabei, so schnell als möglich zur Normalität zurückzukehren. Umsiedlungen von Flüchtlingen, im UN-Jargon Resettlement genannt, sind grundsätzlich ausgeschlossen. Sie kommen allenfalls dann und dann auch nur in Einzelfällen infrage, wenn damit eine unmittelbare tödliche Bedrohung von Menschen auf andere Weise nicht abgewendet werden kann.

Drittens, gilt aus osteuropäischer Sicht gerade in der Flüchtlingspolitik eine Grundregel, die man das „Prinzip der konzentrischen Solidarität“ nennen könnte. Eine Hilfepflicht kann nicht grenzenlos sein, weil unbegrenzte Hilfe zwar theoretisch möglich, aber faktisch ausgeschlossen ist. Es ist deshalb nicht nur zulässig, zuerst und in erster Linie dem jeweils Nächsten zu helfen, sondern sogar eine moralische Pflicht. Das Solidaritätsgebot nimmt mit zunehmender Nähe zu und mit abnehmender Nähe ab.

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Das ist sowohl in geografischer wie auch in sozialer, kultureller, psychologischer oder emotionaler Hinsicht gemeint. Die Mitglieder der menschlichen Gesellschaft verhalten sich dieser Regel entsprechend. Solidarität wird in absteigender Intensität geübt: zuerst gegenüber der Familie, den Freunden, Verwandten, den Nachbarn, der unmittelbaren Umgebung. Später folgen berufliche, religiöse, ethnische, nationale Solidarität usw., bis am Ende die allgemeinmenschliche Solidarität steht. Da uns „Kiew näher als Damaskus“ steht, wie vor ein paar Tagen die NZZ geschrieben hat, ist es moralisch vertretbar, wenn Europäer sich besonders stark für andere Europäer engagieren. Was für einzelne Menschen gilt, gilt auch für ganze Gesellschaften und Nationen. Deshalb ist es nicht nur moralisch vertretbar, sondern vor allem auch vernünftig, wenn Polen ukrainische Kriegsflüchtlinge aufnimmt, syrische aber nicht, sondern ihnen lediglich vor Ort hilft.
Mehrheit der Polen lehnt multikulturelle Gesellschaft ab

Die restriktive Migrationspolitik der mittelosteuropäischen Länder stützt sich auf einen breiten gesellschaftlichen Konsens. Zwar gibt es auch in Osteuropa extrem migrationsfreundliche mediale oder politische Eliten. Die stehen aber im Gegensatz etwa zu Deutschland weitgehend alleine da. Der Widerstand Polens und der anderen Visegrád-Staaten gegen die unbegrenzte Zuwanderung und Zwangszuweisung von Migranten konnte schon 2015 auf die Unterstützung der Bevölkerungen zählen, und das weitgehend unabhängig von der jeweiligen politischen Orientierung der Bürger.

Die Befragungen des führenden polnischen Meinungsforschungsinstitutes CBOS ergaben 2015 bis 2017, dass sich zwei Drittel bis nahezu Dreiviertel der Polen gegen jede Aufnahme von Flüchtlingen aus dem islamischen Nahen Osten und Afrika aussprachen. Etwa ein Viertel der Befragten befürwortete eine zeitlich begrenzte Aufnahme. Nur eine verschwindende Minderheit von 2 bis 4 Prozent konnte sich vorstellen, Flüchtlinge dauerhaft anzusiedeln. Diese Zahlen bedeuteten aber nicht, dass die polnischen Bürger Flüchtlinge generell ablehnten. Die Bürger differenzierten aber sehr stark nach Herkunft und kulturellem Hintergrund. Ein fast genau umgekehrtes Bild ergab sich nämlich, wenn die polnischen Bürger nach der eventuellen Aufnahme von ukrainischen Flüchtlingen gefragt wurden. In diesem Fall sprachen sich schon 2015/2016 rund 60 Prozent für die Aufnahme aus (Centrum Badania Opinii Społecznej 2017).

REPORTAGE

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Eine Meinungsumfrage des CBOS vom März 2022 ergab, dass heute sogar 94 Prozent der Polen für die Aufnahme ukrainischer Kriegsflüchtlinge sind. Zwei Drittel der Befragten gaben an, den ukrainischen Flüchtlingen finanziell oder auf andere Weise zu helfen. Diese Zahlen belegen die Plausibilität des Prinzips der konzentrischen Solidarität. Hinzu kommt, dass die große Mehrheit der Polen die multikulturelle Gesellschaft generell ablehnt. Die Ablehnung der Aufnahme nichteuropäischer Flüchtlinge und Migranten hat folglich auch damit zu tun. Das erklärt wiederum, weshalb die Akzeptanz von Flüchtlingen mit deren kultureller Nähe zu Polen zunimmt und umgekehrt.
Gelegenheit zu einer wirklichen Reform

Nicht nur Polen, auch Deutschland und ganz Europa haben eine gewaltige Flüchtlingswelle zu bewältigen. Das könnte die Gelegenheit sein, das europäische Asyl- und Flüchtlingssystem grundlegend umzubauen und radikal zu modernisieren. Denn das deutsche und europäische Asylsystem ist dysfunktional: Ursprünglich humanitär gedacht, hat es sich in eine Rechtsgrundlage für unerwünschte und ungesteuerte Einwanderung verkehrt.

Heute wird es überwiegend dazu missbraucht, diese Masseneinwanderung moralisch zu legitimieren. Das widerspricht dem ursprünglichen Regelungszweck. Zwar schützt dieses Recht in einer weltweit einmalig großzügigen Weise Flüchtlinge und Asylbewerber. Aber die meisten Einreisewilligen sind gar keine Schutzbedürftigen, sondern Migranten, die nach einem besseren Leben suchen. Die Perversion des deutschen und europäischen Asyl- und Flüchtlingsrechts ist also daran zu erkennen, dass es vor allem nichthumanitäre Einwanderung fördert.

Wie gesagt, es gäbe jetzt Gelegenheit zu einer wirklichen Reform. Aber in Deutschland kommen die etablierten politischen Kräfte noch nicht einmal auf die Idee, Unterkunftsraum für wirkliche Kriegsflüchtlinge zu schaffen und dafür wenigstens die fast 300.000 (!) (Stand 2020, veröffentlicht bei statista 21.03.2022) vollziehbar Ausreisepflichtigen in ihre Herkunftsländer zurückzuschicken.

Stattdessen fällt Politikern wie dem FDP-Mann Stephan Thomae zur ukrainischen Flüchtlingswelle nicht mehr ein als hilfloses Gestammel, das in die bahnbrechende Erkenntnis mündet: „Wir sollten wissen, wer unterwegs ist.“ Ja, auch das sollte man wissen. Insbesondere weil es nicht unwahrscheinlich ist, dass Lukaschenko in diesen Tagen den übriggebliebenen Rest seiner Grenzstürmer-Migranten über die ukrainischen Fluchtwege doch noch nach Deutschland bringt.

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