Tichys Einblick
Demokratie braucht Debatte

Die berechtigten Ängste der linksliberalen Mitte

Immer peinlicher ist die Beleidigung des politischen Gegners als "Faschist", "Nazi" oder "rechtsradikal". Sie ist eine der liebsten Übungen der "linksliberalen Mitte". Sie soll Beleg dafür sein, "aus der Geschichte gelernt zu haben". Birgt die Debattenverweigerung nicht weit größere Risiken für die Demokratie?, überlegt Bestseller-Autor Markus Vahlefeld.

© Stefanie Loos/AFP/Getty Images

Zu den Übungen eines jeden denkenden Menschen – und wer wollte kein denkender Mensch sein? – gehört es, sich auch in die Gegenseite hineinzuversetzen und deren Argumente mit Empathie im Herzen zu bewegen. Und selbst wenn die Argumente mit Hysterie vorgetragen werden und auf den ersten Blick absurd erscheinen, so ist das Häuten der Zwiebel und das Vordringen zum Kern doch auch eine Übung, um der Hysterie nicht auf den Leim zu gehen und den Diskurs lebendig zu halten.

Für immer mehr Menschen in Deutschland unverständlich ist die fortwährende Beleidigung und Delegitimierung des politischen Gegners als Faschist, Nazi oder rechtsradikal. Sie ist eine der liebsten Übungen der „linksliberalen Mitte“, über die man geneigt ist, nur noch den Kopf zu schütteln. Lächerlich ist das angesichts der AfD. Aber mal den schlimmsten Fall durchgespielt: Was, wenn die Furcht, mit der AfD und ihren Wasserträgern habe eine neue faschistoide Kraft ihr böses Haupt erhoben, zwar jetzt noch übertrieben oder sogar grundlos erschiene, in wenigen Jahren jedoch sich als weise Prophezeiung herausstellen würde, weil sich die Verhältnisse und die Partei gleichermaßen in der Zwischenzeit radikal geändert hätten oder eine wirkliche „radikale Rechtspartei“ aufträte, angeführt von einem wirklichen, noch dazu charismatischen „Populisten“? Ein Blick in die jüngere deutsche Geschichte mag helfen, die Furcht der „linksliberalen Mitte“ zu verstehen.

Bei der Reichstagswahl 1928 hatte die NSDAP, deren „Führer“ Adolf Hitler den Durchmarsch an die Regierungsmacht zum Ziel erklärt hatte, mit weniger als 3% ein desaströses Ergebnis eingefahren. Trotz „bolschewistischer Gefahr“ und der „Schmach von Versailles“ war es Hitler nicht gelungen, eine Wählerbasis zu schaffen, die seine Partei zu einer relevanten politischen Kraft im Reich hätte werden lassen. Dem Reich und seinen Menschen ging es zu gut, und die dunklen Gewitterwolken der Weltwirtschaftskrise und der Massenarbeitslosigkeit waren noch fern. Die Menschen leben halt lieber im Hier und Jetzt.

"Der Selbstmord Europas"
Die Tyrannei der Schuld und der Selbstmord Europas
Vier Jahre später hatte sich das Blatt für die NSDAP komplett gewendet. Am 31. Juli 1932 erreichte die Führerpartei mit 37,4% der Wählerstimmen das beste Wahlergebnis jemals, bevor sie dann bei den Wahlen im November desselben Jahres auf 33,1% absackte, was sie jedoch von der Machtübernahme am 30. Januar 1933 nicht abhielt. Die Vervierzehnfachung der Wählerstimmen in nur vier Jahren hatte einen simplen Grund: die Weltwirtschaftskrise hatte voll zugeschlagen, Massenarbeitslosigkeit und Verarmung waren die Folge. Sie waren die akuten Schwerthiebe, die auf dem Resonanzboden der „bolschewistischen Gefahr“ und der „Schmach von Versailles“ alle demokratischen Sicherheitsseile zu kappen imstande waren.

Sähe man in der AfD das neuerliche Heraufziehen einer demokratiefeindlichen und den Parlamentarismus zerstörenden Kraft, so könnte man die Wahl von 1928 mit der Wahl des Jahres 2013 vergleichen, als die AfD den Einzug in den deutschen Bundestag knapp verpasste. Zwar war das Ergebnis nicht desaströs, aber eine relevante politische Kraft war die AfD noch nicht geworden. Auch hier jedoch wiederholt sich die Geschichte, die viele Deutsche so ängstigt: vier Jahre später, 2017, ist die AfD zu einer gewaltigen politischen Kraft angeschwollen, die auf dem Resonanzboden der „Flüchtlingskrise“ Anhängerschaft gewinnt und beginnt, die Politik zu bestimmen.

Parallelgesellschaften und Parallelstrukturen
Die Spaltung Deutschlands
Wollte man einen historischen Vergleich bemühen, der sich natürlich wie alle Vergleiche durch Hinken auszeichnet, so könnte man die „Schmach von Versailles“ mit dem, was eine irre gewordene Bundesregierung 2015 meinte, den Deutschen aufbürden zu müssen, vergleichen. Die Aufgabe des Staatsgebietes, die unermesslichen Folgezahlungen an die Gewinnler der „Flüchtlingskrise“ und die schon historisch zu nennenden Lügen und Verdrehungen werden von einer wachsenden Zahl Menschen in Deutschland als genau jener Erniedrigungsversuch angesehen, der 100 Jahre zuvor mit dem Vertrag von Versailles ebenfalls intendiert war. Mit dem großen Unterschied: im Jahr 2015 war der verlorene Krieg bereits 70 Jahre vorüber, was aber an der Lust zur Kapitulation in weiten Teilen der deutschen Bevölkerung nichts änderte.

Für die anderen ist Angela Merkel das Gesicht eines deutschen Selbstzerstörungsprogramms, dem dringend Einhalt geboten werden muss. Sie ist der „Versailler Vertrag von innen heraus“. Und das ist der Resonanzboden, auf dem der Hass auf diese deutsche Bundeskanzlerin widerhallt. Das mögen diejenigen, die in der AfD die neue Fratze der Nazis sehen, für übertrieben halten, aber auch ihnen stünde es gut an, die Gegenseite zu verstehen.

Nun reicht ein vibrierender Resonanzboden noch nicht, um eine Machtübernahme durch die AfD plausibel erscheinen zu lassen. Selbst wenn die „islamistische Gefahr“ und die Zerstörung der inneren Sicherheit weitere Bausteine sein mögen, die dem Gären in großen Kreisen der deutschen Bevölkerung Vorschub leisten, so sind die Sicherungsseile der Demokratie noch nicht vollständig gerissen.

Ein Geschäftsmodell
George Soros beim Abendessen in Davos
Was aber passiert, wenn – und dieses Szenario wird ja von Wirtschaftsfachleuten nicht als ganz von der Hand zu weisen angesehen – was aber passiert, wenn die deutsche Wirtschaft von der Wellenspitze ins Wellental gleitet? Wenn, wie 2005, die Arbeitslosenzahlen im Zuge einer Rezession auf fünf Millionen und mehr anschwellen und die neu Hinzugekommenen noch nicht einmal mehr in einen heiß drehenden Wirtschaftsmotor integriert werden können? Was, wenn die Krise des Euro zu einem Auseinanderbrechen des Euroraums führt, und die billionenschweren deutschen Target-Salden abgeschrieben werden müssen? Die Folgen dürften so eklatant sein, dass der von Merkel & Co gelegte Resonanzboden der Selbsterniedrigung sehr unschöne Erscheinungen auf den Plan riefe, die mit dem momentanen Agieren der AfD nur unzureichend beschrieben wären.

Momentan bieten sich zwei Lösungsansätze für die aller Voraussicht nach eintretende problematische Lage. Beide Lösungen sind unökonomisch, denn dass Politik großartige Einflussmöglichkeiten auf den Gang der globalen Wirtschaft haben soll, dürfte eher ein Gerücht sein, das der politischen Hybris geschuldet ist.

Die eine ist die, von der die vereinigte Linke von Süddeutscher Zeitung über taz bis Antifa in ihren feuchten Träumen phantasiert: die AfD und alle ihr verbundenen „Nazis“ so lange zu verfolgen, zu bedrängen und zahnlos und mundtot zu machen, bis ihnen selbst der Weg zum Bäcker nicht mehr möglich wäre. Es wäre zwar das Ende der Demokratie, aber das scheint den Linken irgendwie auch egal zu sein. Was nicht wirklich überrascht.

"Die Deutschen zwischen Größenwahn und Selbstverleugnung"
"Mal eben kurz die Welt retten"
Oder aber man unterbindet das weitere Schwingen des Resonanzbodens und fährt das installierte Selbsterniedrigungsprogramm zurück. Dazu müsste die politische Klasse ihr Vorhaben von jährlich 200.000(plus) neuen „Flüchtlingen“ auf Eis legen, Einreisen durch den Bau von Auffanglagern verhindern, eine Null-Toleranz-Politik gegenüber jedem Migranten, der sich nicht an deutsche Gesetze hält, fahren, Ausschaffungen extrem forcieren, aufhören vom Islam zu reden, der zu Deutschland gehören soll, und sich beim deutschen Volk für die begangenen Rechtsbrüche und Lügen in aller Form entschuldigen. Ist das mit einer Kanzlerin Merkel zu erwarten?

Da nun vor wenigen Tagen das Programm des „Weiter so!“ und „ich sehe nicht, was wir anders machen sollten“ neu aufgelegt wurde, bleiben nur die Dystopien von Straßenschlachten und Bürgerkrieg, die am Ende den Resonanzboden so richtig zum Ausschlag bringen. Dass die Deutschen so stolz darauf sind, wie es heißt, „aus der Geschichte gelernt zu haben“, dürfte dabei die größte Lüge sein, die der Selbstzufriedenheit der politischen Klasse derart Vorschub leistet. Und das hindert sie daran, eine Politik zu betreiben, die den Wünschen der Bürger entspricht.

Im Jahr 1935 notierte Bertold Brecht in sein Tagebuch:

Sie sägten die Äste ab, auf denen sie saßen
Und schrien sich zu ihre Erfahrungen,
Wie man schneller sägen könnte, und fuhren
Mit Krachen in die Tiefe, und die ihnen zusahen,
Schüttelten die Köpfe beim Sägen und
Sägten weiter.

Das Klagen über die AfD als neue Wiedergängerin der Nazis ist solange wohlfeil, bis nicht dem Sägen Einhalt geboten wurde. Und hier schließt sich der Kreis und wird zu jenem Hund, der sich selbst in den Schwanz beißt: wenn die politische Klasse mit der Geschwindigkeit der letzten Jahre weitersägt, werden die Menschen zu jenen überlaufen, die versprechen, dass das Sägen ein Ende hat. Wer das wohl ist?


Mehr von Markus Vahlefeld in seinem Buch „Mal eben kurz die Welt retten – Die Deutschen zwischen Größenwahn und Selbstverleugnung“ (Vorwort von Henryk M. Broder) >>>