Tichys Einblick
Wie es dazu kam

Die Wiederholungswahl in Berlin – Eine Premiere

Noch nie hat es den Fall einer echten Wiederholungswahl in der Geschichte der Bundesrepublik gegeben. Der Verfassungsrechtler Ulrich Vosgerau fasst zusammen, was am 26. September 2021 geschehen ist. Seiner Meinung nach muss auch die Bundestagswahl in ganz Berlin wiederholt werden.

IMAGO / Bildgehege
Morgen findet eine Premiere statt: Es handelt sich um die erste echte Wiederholungswahl in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Zwar hat es vorher schon Fälle gravierender Fehler gegeben, die ein ganzes Bundesland betrafen. So waren bei der Wahl zur Hamburger Bürgerschaft 1991 die Wahllisten der CDU gesetzwidrig aufgestellt worden; das Landesverfassungsgericht ordnete die Selbstauflösung der Bürgerschaft und echte Neuwahlen 1993 an. Oder: in Schleswig-Holstein wurde 2009 der Landtag aufgrund eines verfassungswidrigen Landeswahlgesetzes gewählt. Das Landesverfassungsgericht ordnete eine Neufassung des Gesetzes und eine Verkürzung der laufenden Legislaturperiode um ein Jahr an. In beiden Fällen handelte es sich aber um „echte“ Neuwahlen, durch die eine neue Legislaturperiode begann.

Berlin-Wahl
Der lange Weg zur Wahlwiederholung – und wie sie verhindert werden sollte
Noch nie zuvor hat es also den Fall einer echten Wiederholungswahl – bei der die laufende Legislaturperiode weiterläuft, auch wenn die Zusammensetzung des Parlaments und vielleicht auch die Landesregierung wechselt – gegeben. Weil es eben auch noch nie zuvor den Fall gegeben hat, dass die Ergebnisse einer Landtagswahl wegen groben Wahlfehlern, die von einer Landesregierung – also dem Senat! – zu verantworten sind, nicht bestehen bleiben können.

Was ist am 26. September 2021 in Berlin geschehen? An diesem Tag fanden bekanntlich die kombinierten Wahlen zum Deutschen Bundestag, zum Berliner Abgeordnetenhaus und zu den Bezirksverordnetenversammlungen statt, außerdem auch noch die Abstimmung über einen Volksentscheid (diese spielt heute keine Rolle mehr – sie wurde nicht angefochten). Wie allen Beteiligten vorher bekannt war, wurde diese Wahl nicht nur durch besondere Hygiene- und Abstandsbestimmungen erschwert, sondern es fand auch parallel dazu der Berliner Marathon statt. Die Laufstrecke führte durch die Innenstadt und zerschnitt die Stadt faktisch in zwei Hälften, da sie nicht passiert werden konnte; gewissermaßen gab es also am Wahltag wieder eine „Berliner Mauer“, nur eben um 90 Grad gekippt. Auch deswegen konnten Wahllokale, in denen die Stimmzettel ausgegangen waren oder von Anfang an nicht die richtigen Stimmzettel vorhanden waren, oft keinen Nachschub aus den Bezirksämtern besorgen.

Praktisch alle gravierenden Wahlfehler, die der Senat zu verantworten hat, fanden – wie der Verfassungsgerichtshof von Berlin zutreffend festgestellt hat – bereits in der Vorbereitungsphase statt, sie betreffen daher durchweg alle Wahllokale unterschiedslos. Zu diesen gehört vor allem, dass die Abstimmungszeit pro Wähler in der Wahlkabine viel zu knapp bemessen war – es ging schließlich um vier unterschiedliche Abstimmungen mit fünf Wahlzetteln und sechs Stimmen! – und daher viel zu wenige Wahlkabinen vorhanden waren. In der Folge traten bei der Bundestagswahl, der Wahl zum Abgeordnetenhaus und zu den Bezirksverordnetenversammlungen gleichmäßig folgende Wahlfehler auf:

  • Vor den Wahllokalen bildeten sich – überall wegen der zu geringen Zahl der Wahlkabinen, vielerorts aber außerdem auch deshalb, weil die Stimmzettel nach einigen Stunden ausgingen bzw. von Anfang an nicht die richtigen Stimmzettel vorhanden waren, weswegen manche Wahllokale stundenlang nicht öffneten – enorme Warteschlangen. Vielfach musste bis zu drei Stunden gewartet werden; niemand weiß, wie viele Wähler – etwa ältere Leute, Eltern mit Kindern oder einfach Personen, die auch am Sonntag noch andere Termine hatten – früher oder später aufgegeben haben, also um ihre Wahlteilnahme betrogen wurden.
  • Bei den Wahlen zu den Bezirksverordnetenversammlungen (dies sind Kommunalwahlen!) durften Minderjährige ab 16 sowie EU-Ausländer teilnehmen. Bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus (= Landtagswahlen) und zum Deutschen Bundestag ist dies aber bereits aus verfassungsrechtlichen Gründen ausgeschlossen. Es musste also im Wahllokal das Alter der Wähler bzw. deren Staatsangehörigkeit festgestellt werden und ihnen dann persönlich die richtigen Wahlunterlagen übergeben werden – den Jugendlichen und den EU-Ausländern eben nur die Kommunalwahlunterlagen. Dies wurde – in der allgemeinen Hektik und Panik, weil ja ohnehin schon alles falsch lief – andauernd verkehrt gemacht. Keiner weiß, wie viele Minderjährige und EU-Ausländer nun auch zum Bundestag und zum Abgeordnetenhaus mitgewählt haben.
  • Vielen Wählern sind mehrere Stimmzettel ausgegeben worden, weil diese, frisch gedruckt, aneinanderklebten.
  • Da nur in Berlin – anders als in allen anderen Bundesländern! – bei der Briefwahl sämtliche Unterlagen in ein- und demselben Umschlag zurückgeschickt wurden, gab es einen einfachen Trick, um Jugendliche und EU-Ausländer auch zu Briefwählern zu machen: Ein voll Wahlberechtigter bestellt die Briefwahlunterlagen, reicht sie weiter, und wählt selbst präsent im Wahllokal! (Das geht – denn er hat die Briefwahlunterlagen ja nur bestellt, aber nicht benutzt).
  • In zahllosen Fällen wurden in Berlin (übrigens ein großes Thema in der Lokalpresse vor der Wahl; teilweise waren auch Prominente betroffen) Wahlbenachrichtigungen an längst Verstorbene verschickt, die Familien (oder sonstigen Empfänger) hätten also entsprechend Briefwahl beantragen und für den Verstorbenen mitwählen können.
  • In vielen Wahllokalen wurden im Hinblick auf alle drei Wahlen falsche Stimmzettel – die also für andere Wahlbezirke oder Wahlkreise einschlägig und bedruckt waren, so dass also andere als die zu wählenden Kandidaten draufstanden – ausgegeben. Diese waren denknotwendig alle ungültig; in manchen Fällen versuchte allerdings die Senatsverwaltung für Inneres allen Ernstes, solche verkehrten Wahlzettel für gültig zu erklären!
  • Wegen der langen Schlangen blieben die Wahllokale vielfach bis lange nach 18 Uhr geöffnet, also Prognosen oder gar erste Hochrechnungen längst im Fernsehen und im Radio waren und über die Mobiltelefone auch den Wartenden zur Verfügung standen.

Aufgrund dieser Wahlfehler konnte jeder wahlberechtigte Bundesbürger Einspruch gegen die Bundestagswahl erheben und eine Wahlwiederholung in Berlin verlangen; das geschah in 2.172 Fällen. Was die Berliner Wahlen auf Landesebene angeht, ist die Rechtslage komplizierter: Nicht jeder Wähler, sondern vor allem Kandidaten und Parteien sind einspruchsberechtigt; nicht einspruchsberechtigte Bürger können dann aber eine Verfassungsbeschwerde erheben, was wiederum auf Bundesebene nicht geht. Aber wie dem auch sei: Auch auf Landesebene gab es genügend fristgerechte Einsprüche, auf deren Grundlage der Verfassungsgerichtshof von Berlin eine vollständige Wahlwiederholung anordnete. Diese findet nun morgen statt. Die Bundestagswahl wird morgen hingegen nicht wiederholt; über diese hat der Verfassungsgerichtshof nicht zu befinden.

Wiederholung der Bundestagswahl in Berlin:
Wahlprüfungsbeschwerde von TE beim Bundesverfassungsgericht eingegangen
In Berlin gibt es – gegenüber allen anderen Bundesländern und der Bundesebene – eine wahlprüfungsrechtliche Besonderheit. Nämlich die, dass für Wahleinsprüche gleich und unmittelbar der Verfassungsgerichtshof zuständig ist. Überhaupt nur deswegen ging es mit der Wahlwiederholung so schnell! Sonst hätte es noch viel länger gedauert. Überall sonst, und auch auf Bundesebene, müssen Wahleinsprüche an das – ja gerade fehlerhaft gewählte! – Parlament selber gerichtet werden, das dann nach Vorbereitung durch seinen Wahlprüfungsausschuss über die Notwendigkeit einer Wahlwiederholung entscheidet. Dies ist eine so alte wie sinnlose Tradition – das gerade erst gewählte Parlament entscheidet erfahrungsgemäß nämlich nie, dass es gleich wieder aufgelöst gehört!

So hat der Deutsche Bundestag – obwohl doch aufgrund der mangelnden Wahlvorbereitung durch die Innenbehörde bei den gleichen Wahlen in den gleichen Wahllokalen mit den gleichen Wahlhelfern am gleichen Tag genau dieselben Fehler gemacht worden sind! – am 10. November 2022 entschieden, dass die Bundestagswahl in Berlin nicht insgesamt wiederholt werden müsse, sondern nur in 431 – von 2.256! – Berliner Wahlbezirken (= Wahllokalen)!

Gegen diese Entscheidung des Bundestages haben etliche Einspruchsführer – darunter unsere zwei Musterkläger, die Leser von Tichys Einblick sind – die Wahlprüfungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht erhoben. Wir meinen, dass – aus den genannten Gründen, und wegen der hier völlig offensichtlichen Identität der Fehler bei Landes- und Bundestagswahl! – auch die Bundestagswahl in ganz Berlin wiederholt werden muss.

Melden Sie Unregelmäßigkeiten
Checkliste für faire Berliner Wahlen
Demgegenüber behauptet die Senatsverwaltung für Inneres – sowie eine Gruppe von Abgeordnetenhausmitgliedern wie sonstigen Berliner Bürgern, die, bislang erfolglos, vor dem Bundesverfassungsgericht versucht hat, die Neuwahlen auch auf Landesebene irgendwie zu verhindern –, dass der Verfassungsgerichtshof von Berlin andere Maßstäbe der Wahlprüfung eingeführt habe als bislang das Bundesverfassungsgericht. Der Verfassungsgerichtshof schrieb nämlich in seinem Urteil, dass selbst die ihm bekanntgewordenen, erheblichen und gravierenden Wahlfehler vermutlich nur die „Spitze des Eisberges“ seien. Aber neu und unerhört ist nicht der rechtliche Maßstab des Verfassungsgerichtshofs gewesen, sondern der in Berlin eben vorliegende Sachverhalt, der so noch nie von einem Gericht entschieden worden ist!

Und es gibt ja noch ein weiteres Problem. Der Briefwähleranteil – in Berlin bei der Bundestagswahl über 47 Prozent war viel zu hoch! Das Bundesverfassungsgericht, das bislang – trotz bestehender, erheblicher Bedenken – immer sehr „briefwahlfreundlich“ war, hatte zuletzt 2009 geurteilt, die Briefwahl dürfte jedenfalls nie zum „Regelfall“ werden. Das ist sie offenbar aber jetzt!

Die Briefwahl ist für Wahlbetrug viel anfälliger als die Urnenwahl im Wahllokal. Zu den insofern sich anbietenden Möglichkeiten gehören etwa

  • der Blankoverkauf von Briefwahlunterlagen durch den Wahlberechtigten oder deren eigenhändige Ausfüllung durch den Wahlberechtigten im Beisein eines zahlenden Stimmenkäufers;
  • das Abfangen, Festhalten, Verzögern, Verändern oder Vernichten von (insofern leicht erkennbaren) Briefwahlunterlagen auf dem Postweg oder aber die Entwendung aus der Verwahrung durch die Gemeinde, oder aber
  • die Bestellung von Briefwahlunterlagen an eine andere Adresse mit gefälschter Unterschrift.
  • Auch hören wir immer wieder, dass Hilfspersonen, die etwa in Altersheimen damit betraut werden, gebrechlichen Menschen beim Ausfüllen der Briefwahlunterlagen zur Hand zu gehen (§ 36 Abs. 2 Satz 1 2. Alt BWahlG; § 66 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. § 57 BWO), nicht selten eine Art „Nachkorrektur“ einführen, indem sie, wenn ihnen die Wahlentscheidung eines alten Menschen nicht förderungswürdig vorkommt, beim Ausfüllen der Eidesstattlichen Erklärung (§ 66 Abs. 3 Satz 3 BWO) bewusst den eigenen Namen wie den Namen des Wahlberechtigten so unleserlich schreiben, dass der Wahlbrief später vom Wahlvorstand nicht anerkannt wird.
  • Ferner sind die Briefwahlunterlagen nicht fälschungssicher, sondern können mit einem Farbkopierer vervielfältigt werden. Da die Wahlbehörden die eingehenden Wahlbriefe nicht mit den Wahlscheinnummern der ausgegebenen Briefwahlunterlagen abgleichen, würden Fälschungen erst auffallen, wenn die Zahl der Briefwähler die der ausgegebenen Wahlscheine übersteigt.

Außerdem sind bei der Briefwahl drei zentrale wichtigte verfassungsrechtliche Wahlgrundsätze nicht gewahrt, nämlich Öffentlichkeit, Freiheit und der Geheimheit der Wahl.

Wir sind daher zuversichtlich, dass das Bundesverfassungsgericht den Selbst-Freispruch des Deutschen Bundestages im Hinblick auf die Berliner Wahlen nicht akzeptieren wird.

Die gesamte Wahlprüfungsbeschwerde können Sie hier nachlesen.


In eigener Sache: Roland Tichy, Herausgeber von TE, hat eine Initiative gegründet, um die Wiederholung der Bundestagswahl in allen Berliner Bezirken einzuklagen. Die Klage vor dem Bundesverfassungsgericht wird von Verfassungsrechtler Ulrich Vosgerau im Namen von zwei Tichys-Einblick-Lesern geführt. Die Finanzierung hat „Atlas – Initiative für Recht und Freiheit“ übernommen.

Die von TE eingereichte Wahlprüfungsbeschwerde ist dem Bundesverfassungsgericht am 5. Januar per Fax und am 7. Januar per Brief zugegangen. Am Donnerstag, dem 26. Januar, hat das Gericht den fristgerechten Eingang bestätigt und der Beschwerde ein Aktenzeichen (2 BvC 15/23) gegeben.

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