Tichys Einblick
Achtung, Glosse

Die Bajazzo-Republik

Rentner wollten gegen die Republik putschen. Nun will die AfD in einer Wiederauflage der Wannsee-Konferenz alle Ausländer vertreiben. Beide Male sind die Medien aus dem Häuschen. Deutschland einen Operettenstaat zu nennen, wäre eine Aufwertung.

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Den freundlichen Reaktionär von nebenan beherrscht schon seit Jahren die Frage, ob er selbst, oder alle anderen verrückt geworden sind. Die Antwort war lange Zeit ungewiss. Nun ist sie unangenehm. Denn wer die real existierende Bundesrepublik in den letzten Jahren beobachtet hat, kann sich nicht des Eindrucks erwehren, in eine schlechte Operette geraten zu sein. Das ist im Übrigen ein eklatanter Unterschied zum Operettenstaat – Letzterer hat wenigstens gute Musik, Unterhaltung und eine wohlige Dekadenz, in der man dahinschwelgen konnte. Wir haben heute nur die graue Fernsehkost von Frau Reschke, Herrn Böhmermann oder Herrn Welke, wobei wenigstens zwei der Genannten von sich behaupten, „Comedy“ zu machen. Bei allen anderen Formaten geschieht das eher unfreiwillig.

Spätestens bei der im Wagnerschen Ernst vorgetragenen Version des Spektakels Rentnerputsch mussten Zweifel an der Realität aufkommen. Dass die Statisten zudem an das Stück glaubten, dass sie spielten, machte die ganze Sache nicht viel besser. Dass aber die Massenmedien Deutschlands derart aus dem Hause waren, kann man nur damit erklären, dass Deutschland ein dermaßen friedliches Land ist, dass man nicht weiß, was ein echter Putsch ist.

Historisch kann man das leicht erklären: Selbst die NS-Diktatur übernahm die Macht überraschend friedlich. Und im echten tausendjährigen Heiligen Römischen Reich wurden nur zwei Herrscher Opfer eines Attentats. Gewalt gegen die Obrigkeit, das gehört sich einfach nicht. Neu ist seit letztem Jahr: nicht einmal in der Fantasie schrulliger Gestalten mit Zweispitz auf dem Kopf.

Nicht erst seit dieser Bundesregierung, dafür umso ikonischer seit dem Ampelantritt, hörten wir Äußerungen für die Ewigkeit. Geschlossene Bäckereien seien nicht insolvent, erklärte der Bundeswirtschaftsminister. Sie führe einen Krieg gegen Russland, bekannte die Bundesaußenministerin. Die Zitatesammlung des Bundesgesundheitsministers würde die Länge und Lesbarkeit dieses Beitrags in unangenehme Sphären ziehen.

Jeden Tag begleiten uns Medienberichte und Faktenchecker, warum dieses oder jenes nicht der Fall sei – und in Wirklichkeit ganz anders. Die jahrelange Sabotage der deutschen Wirtschaft durch Klimaextremisten sei zu loben, bei Bauern, die um ihre Existenz fürchten, ist dagegen Schluss mit lustig. Auch dafür gibt es wieder zahlreiche aus Fördermitteltöpfen bezahlte Personalien. Die Angst, dass die Menschen auf die dumme Idee kommen könnten, sich eine eigene Meinung zu bilden, scheint seit ein paar Jahren bestimmend in Politik und Medien zu sein.

„Clownrepublik“ als Titel dieser Glosse ginge aus Sicht der verschwörungstheorieaffinen Faktenchecker schon gar nicht – das ist zu nah an „Clownwelt“, einem nach investigativen Recherchen klar rechtsextremen Begriff. Clowns sind heute überhaupt verdächtig, wenn sie nicht auf dem Gehaltszettel der öffentlich-rechtlichen Sender stehen und alles und jeden karikieren, nur nicht ihren Arbeitgeber.

Der Narr hat sich am frühneuzeitlichen Fürstenhof dagegen ja gerade dadurch ausgezeichnet, dass er den Fürsten ungestraft – nun ja – narren darf. Wer das für einen reinen Mythos hält, dem sei ins Gedächtnis gerufen, dass Triboulet, der Hofnarr Ludwigs XII. von Frankreich, dem König den Hintern versohlte – eine Tat, gegen die sich hämische Ziegengedichte noch harmlos ausnehmen. Zur Verteidigung antwortete Triboulet: „Verzeiht, Eure Majestät, ich hielt Euch für die Königin!“ Der König, halb erzürnt, halb belustigt, ließ den Narren die Art seiner Hinrichtungsmethode frei wählen. Der Narr antwortete: „Guter Herr, um des Heiligen Nitouche und des Heiligen Pansard willen, Schutzherren des Wahnsinns, entscheide ich mich dafür, an Altersschwäche zu sterben!“ Ludwig war sprachlos ob dieser Antwort – und brach in schallendes Gelächter aus, worauf er Triboulet begnadigte.

Wir leben bekanntlich im besten Deutschland aller Zeiten, aber weder dürfen wir darauf hoffen, dass Böhmermann Olaf Scholz oder Robert Habeck den Hintern versohlt, noch dürfte die Krawallschachtel der Nation über den Scharfsinn eines Triboulet verfügen, um den Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Dass in Deutschland die Narren politisch sind und die Politiker närrisch, das kann tatsächlich nur unter dem Schutzschirm von Nitouche und Pansard passieren.

Dass vermeintlicher Investigativjournalismus und „Faktenchecks“ von (nicht nur!) einem staatlich finanzierten Portal betrieben wird, muss ebenfalls unter dieses Patronat fallen. Man darf dem österreichischen Kanzler Metternich einiges vorwerfen, aber mit Sicherheit waren die vermeintlich dunkelautoritären Zeiten ehrlicher. Wenn man die „richtige“ Meinung lesen wollte, las man die offizielle Staatspresse, die auch Wert darauf legte, vom Kaiser approbiert zu sein. Und wenn man nur das lesen sollte und wollte, was die Regierung gut fand, dann befürwortete man offen die Zensur.

Demokratien sind deutlich heuchlerischer als Monarchien. Sie haben perfidere Instrumente als Gefängnis und Galgen. Im Übrigen ist das keine Feststellung von Gegenaufklärern, sondern eine Betrachtung, die schon Alexis de Tocqueville tätigte, der – aus welchen Gründen auch immer – als Liberaler galt und überdies wusste, dass die gewaltlose Verstummung und Vereinzelung des Bürgers in der Demokratie tyrannischer sein kann als die monarchistische Gewalt.

Es gibt noch einen bezeichnenden Unterschied zur Vergangenheit. Früher haben Operetten und Bühnenstücke das tonangebende Juste Milieu durch den Kakao gezogen; Jacques Offenbachs „Orpheus in der Unterwelt“ ist heute vor allem bekannt wegen seines berühmten Can-Can, war aber in Wirklichkeit eine Parodie auf das von Napoleon III. etablierte Empire. Freilich konnte dieses angeblich so autoritäre Regime aber besser damit umgehen als so mancher demokratisch gewählter Bundeswirtschaftsminister, der in weinerlichen Tonfall verfällt, wenn seine Fähre an der Anlandung gehindert wird und deswegen einen nervösen Elfminutenbeitrag per Video in die ganze Narrenrepublik ausstrahlen muss, in dem er vor nicht weniger als einem zweiten Weimar warnt und damit natürlich vor der Machtergreifung eines Nazi-Widergängers. Dass Habeck damit gleichzeitig die eigene Regierung als politische Endzeit deklamiert, fällt ihm nicht auf.

Die Correctiv-Komödie hätte eigentlich Stoff für eine Operette, doch die Selbstironie des grünen Kulturhegemons ist so gering ausgeprägt, dass das Berliner Ensemble die ganze Posse auf die Bühne bringt – nicht etwa als Abgesang auf diese durch und durch verstaubte und mit geradezu preußischem Ernst beseelte grüne Gesellschaft, sondern als Hochjubelwerk der Investigativarbeit der neuen Nationalhelden, die den AfDlern ihr Sedan beigebracht haben.

Närrisch ist obendrein, das, was wichtig ist, unwichtig zu machen, und das, was unwichtig ist, wichtig zu machen. Das Existenzielle wird zur Nebensache, der Schwank zur Hauptsache. Das, was den Bürgern derzeit unter den Nägeln brennt, ist der fortschreitende Wohlstandsverlust, ob durch Inflation, durch Steuern, ob durch Technologie oder Klimapolitik – der Anlass spielt eine nachgeordnete Rolle. Die Bauernproteste sind Sinnbild der Unzufriedenheit mit dieser Politik, deswegen haben sie weit übergreifende Unterstützung in der Bevölkerung (anders als die Klimaextremistenchimäre). Wer allerdings den Schirmherren des Unsinns huldigt, findet, dass das, was eine private Runde irgendwo bei Potsdam im kleinen Kreis besprochen hat, als deutlich wichtiger für das Schicksal des Landes.

Insofern ist das, was Correctiv geleistet hat, der Verfassungsschutzpräsident postuliert und die Bundesinnenministerin abliefert, genau das, was zu erwarten ist: ein Narrenstück. Überraschung: Die AfD ist für Massenabschiebungen! Das ist die Quintessenz eines Beitrags, der mittlerweile durch die Zeitungen geht. Will man etwa damit behaupten, über derlei sei hinter den Vorhängen des Innenministeriums in der Vergangenheit nie gesprochen worden? War es nicht der Kanzler höchstpersönlich, der über Massenabschiebungen nachdachte? Und: Kann man von einem Geheimplan sprechen, wenn Martin Sellner auf seinen Kanälen seit rund einem Jahrzehnt immer wieder seine politischen Programme und Ansichten in die Welt strahlt? Was ist die Nachricht?

Folgende: Die Sache hat in einer Villa an einem See bei Potsdam stattgefunden! Genau wie die Wannsee-Konferenz! Musik ab, Licht an, Applaus. Ist das noch Journalismus, oder schon die Fledermaus von Johann Strauß? Sie ahnen es: Nicht nur die Pointen, sondern auch die Musik war früher besser – aber was erwartet man auch von einem Land, das einen Bundespräsidenten ins Amt hievt, der feiner Sahne mit Fischfilet den Vortritt gegenüber Beethoven und Palatschinken lässt?

Der nächste Akt in der Bajazzo-Republik war daher sonnenklar. Hans Christian Limmer, Miteigner der Gastronomiekette Hans im Glück, musste seinen Posten räumen. Obwohl er laut Pressemitteilung selbst „bestürzt“ über die Inhalte der Konferenz gewesen sei. Obwohl er sich selbst davon distanziert hatte. Obwohl er gar nicht bei der Konferenz anwesend war. Und obwohl er nach eigener Aussage nicht – im Gegensatz zur Correctiv-Kolportage – Mitveranstalter war. Das Opfer beteuert seine Unschuld, senkt das Haupt, widerlegt die falschen Anschuldigungen – und geht freiwillig ins Gefängnis. Wenn das keine Bajazzo-Republik ist, was dann?

Man könnte an dieser Stelle auf die Lücken des Beitrags eingehen. Etwa, dass die Abschiebung von Staatsbürgern – der Kernskandal der Correctiv-Operette – von nahezu allen Anwesenden inklusive des Vortragshalters bestritten wird. Dass die von Correctiv abgebildete Nachfrage von Silke Schröder – wie mit Staatsbürgern mit Migrationshintergrund zu verfahren sei – darauf hinweist, dass Sellner offenbar nichts dazu gesagt hat. Und warum Correctiv nicht die Originalantwort von Sellner auf diese Frage wiedergibt, was jeden Zweifel ausräumen könnte, dass der Identitäre genau das gefordert hätte. Aber Sie wissen ja, wie das ausgeht, wenn man mit Narren streitet – von außen weiß man dann nicht mehr, wer der Narr ist.

Natürlich ist der Verschwörungstheorie von Sellner, es handele sich um eine Politkampagne im Stile des berüchtigten Ibiza-Videos, auf Entschiedenste zu widersprechen. Denn Politkampagnen sind seriös. Politkampagnen haben Wirkung. Politkampagnen, dahinter stecken Masterminds. Das kann man mit ruhigem liberaldemokratischem Bewusstsein hier ausschließen. Operetten werden von Meistern geschrieben, nicht von Narren.

Wir freuen uns nach dem vereitelten Rentnerputsch und dem verhinderten Wannseegalopp auf den dritten Teil aus den Federn der Bajazzos. Aber vielleicht kann der Wiener Sellner den Piefkes Haldenwang und Faeser noch etwas Nachhilfe geben, wie das mit dem Walzer geht. Ansonsten muss man davon ausgehen, dass Correctiv, Haldenwang und Faeser der AfD gerade ein zusätzliches Umfragenprozent für die kommenden Landtagswahlen in Deutschland gespendet haben. Und das wäre eine echte rechte Verschwörung.

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