Seit dem Anbruch des Zeitalters der sozialen Medien hat sich so viel verändert, dass wir das Ausmaß dessen noch gar nicht begreifen und uns schwertun, die damit verbundenen Probleme in den Griff zu bekommen. Der Zusammenbruch der Barriere zwischen privater und öffentlicher Sprache ist eines davon. Doch das größere, am tiefsten gehende Problem ist (auch wenn es teilweise daraus resultiert): Dass wir uns keinen Mechanismus geleistet haben, der uns aus der Situation befreit, in die uns die Technik gebracht hat. Sie scheint in der Lage zu sein, Katastrophen auszulösen, aber nicht, sie zu beseitigen, sie richtet Schaden an, aber sie heilt nicht. Vergebung ist nicht vorgesehen. Denken Sie nur mal an das unter der Bezeichnung »Public Shaming« bekannte Phänomen, eine Art virtueller Steinigung, eine Hexenjagd im Netz, eine Strafe am digitalen Pranger. (…)
Es wundert nicht weiter, dass verschiedene Studien zeigen, dass immer mehr junge Menschen an Angstzuständen, Depressionen und anderen psychischen Erkrankungen leiden. In meinen Augen ist das nicht die typische Reaktion der Generation Snowflake [so wird in den USA die um 1990 geborene Generation bezeichnet, die oft als emotional überempfindlich und wenig resilient wahrgenommen wird], sondern eine im höchsten Maße nachvollziehbare Reaktion auf eine Welt, deren Komplexitäten sich im Laufe eines Lebens potenziert haben. Eine absolut vernünftige Reaktion auf eine Gesellschaft, die von Technologien angetrieben wird, die endlose Probleme heraufbeschwören können, aber keine Antworten liefern. Es gibt dennoch Antworten.
Obwohl wir nicht wissen, was wir auslösen, wenn wir etwas tun, haben wir keine Möglichkeit, etwas einmal Getanes ungeschehen zu machen. Handlungsabläufe sind nicht nur unvorhersehbar, sondern auch irreversibel; es gibt keinen Urheber oder Handelnden, der das, was er getan hat, wieder rückgängig machen kann, auch wenn ihm das nicht behagt oder die Folgen katastrophal sind.
Es gibt nur einen Schutz vor dieser Unvorhersehbarkeit, nämlich Versprechen geben und einhalten. Und gegen die Irreversibilität unseres Handelns, so Arendt, gebe es auch nur eine Maßnahme: die Fähigkeit, zu verzeihen. Diese beiden Dinge gehören notwendigerweise zusammen – die Fähigkeit, sich durch Versprechen zu binden, und die Fähigkeit verbunden zu bleiben durch Vergebung. Über Letzteres erklärt Arendt:
Ohne die Möglichkeit, dass uns vergeben wird und wir von den Folgen unseres Tuns freigesprochen werden, wäre unsere Handlungsfreiheit gewissermaßen auf eine einzige Tat beschränkt, von der wir uns niemals erholen würden; wir wären für alle Zeit Opfer ihrer Folgen, nicht unähnlich dem Zauberlehrling, dem die magische Formel, den Zauberspruch zu brechen, fehlte.
Das war die Wahrheit, bevor das Internet aufkam, um wie viel wahrer ist es seitdem. (…) Bevor sich das Internet durchsetzte, wussten nur das Umfeld oder bestimmte Kreise eines Menschen von dessen Fehlern, und es bestand grundsätzlich die Möglichkeit, irgendwo anders einen Neubeginn zu wagen. Heutzutage können Menschen von ihren virtuellen Doppelgängern überallhin verfolgt werden. Und selbst nach ihrem Tod geht die Leichenschändung weiter, nicht aus wissenschaftlicher Neugier oder im Zuge der Vergebung, sondern aus Rachegelüsten oder Vergeltungssucht. Hinter all dem verbirgt sich das merkwürdige instinktive Bedürfnis unserer Zeit, Vergeltung für die Untaten der Vergangenheit zu üben, weil wir glauben, wir wären besser als die Menschen der Vergangenheit, weil wir wissen, wie sie sich verhalten haben, und glauben, es besser gemacht zu haben. Doch das ist ein großer neuzeitlicher Trugschluss. Wir Menschen glauben nur, dass wir in der Vergangenheit alles besser gemacht hätten, weil wir wissen, wie die Geschichte endete.
Es ist an der Zeit, dass wir zumindest den Versuch wagen. Immerhin haben wir inzwischen gefährlichstes Terrain betreten. »Public Shaming« ist mittlerweile ein generationsübergreifendes Phänomen. Im August 2018 gab das Pharmaunternehmen Lilly Diabetes bekannt, dass es nicht länger Sponsor des 26 Jahre alten Profirennfahrers Conor Daly sei, der zum ersten Mal ein NASCAR-Rennen fahren sollte. Doch nicht Conor Daly hatte etwas skandalöses gesagt oder getan. Nein, der Sponsor zog sich aufgrund einer Geschichte aus den 1980er-Jahren zurück. Damals – lange Zeit bevor Conor auf die Welt kam – hatte sein Vater ein
Radio-Interview gegeben und Afroamerikaner mit einem verächtlichen Ausdruck belegt. Daly senior entschuldigte sich dafür und erklärte, dass dieses Wort in seinem Heimatland Irland eine andere Bedeutung und Konnotation habe, und er erst vor Kurzem in die USA gezogen sei. Er drückte sein Bedauern und seine Scham aus und bat um Vergebung. Dennoch bedeutete es – rund 30 Jahre später – für seinen Sohn das Aus für das Sponsoring durch den Pharmariesen.
Und so wir leben in einer Welt, in der der Anreiz nicht mehr im Agieren liegt, sondern im Reagieren auf andere Menschen: Vor allem, um für die Rolle des Opfers oder des Richters vorzusprechen, für ein Stück der moralischen Tugend, die das Leid fälschlicherweise mit sich bringen soll. In einer Welt, in der niemand so recht weiß, wer uns die Schwere unserer Sünden nehmen kann, aber jeder sich aus Imagegründen berufen fühlt, Vergebung entgegenzunehmen und damit zu verschwinden. In einer Welt, in der stets die größtmögliche Macht ausgeübt wird – die Macht, über das Leben eines anderen zu Gericht zu sitzen und es gegebenenfalls zu ruinieren.
Bis zum heutigen Tag gibt es nur zwei sehr schwache, vorübergehende Lösungen für dieses vertrackte Problem. Die erste ist, wir vergeben den Menschen, die wir mögen oder deren Herkunft oder Ansichten am besten zu unseren eigenen passen oder mit denen wir unsere Feinde am wenigsten verärgern. (…)
Es gibt noch einen zweiten Weg, damit umzugehen. Und wie es der Zufall will, hat ihn ein anderer Rennfahrer – Lewis Hamilton – eingeschlagen. Weihnachten 2017 hat er ein Video über seinen Instagram-Account gepostet. Darauf war Hamilton zu sehen, wie er sagte: »Puh, ist das traurig. Schaut euch mal meinen Neffen an.« Dann schwenkte der 32-Jährige die Kamera auf den kleinen Jungen, der ein rosaviolettes Kleid trug und einen Zauberstab in der Hand hielt. »Weshalb trägst du ein Prinzessinnenkleid?«, hört man Hamilton ihn fragen. »Jungs tragen doch keine Kleider.« Der kleine Junge lacht die ganze Zeit.
Klar, das war nicht genug. Ein paar Monate später, im August 2018, war Lewis Hamilton auf dem Titelbild des Männermagazins GQ zu sehen, im Innenteil des Blatts gab es ein langes Interview mit ihm und eine Fotoserie. Auf allen Bildern – ja, auch auf dem Cover – trug er einen Rock. Auf der Titelseite trug er ein offenes Hemd mit Karos in verschiedenen Farben, das einen Blick auf seinen durchtrainierten Oberkörper freigab, und dazu einen Kilt-ähnlichen Rock, ebenfalls in unterschiedlichen Karos. Dazu die Schlagzeile: »›Ich will eine Scharte auswetzen.‹ Lewis Hamilton geht dem Problem nicht aus dem Weg.«
Und damit wären wir bei der einzigen derzeit verfügbaren Form von Vergebung angelangt. Vorausgesetzt, Sie zählen zu den Reichen und Berühmten, dann können Sie es im Rock und mit der tatkräftigen Unterstützung Ihrer PR-Leute aufs Cover eines Männermagazins schaffen und vor den flüchtigen Dogmen unserer Zeit auf die Knie fallen. Vielleicht ist es ja nicht weiter verwunderlich, dass immer mehr Menschen zu der Überzeugung gelangen, es wäre am besten, sich genau diesen Dogmen anzuschließen. Keine Fragen zuzulassen. Keine Fragen zu stellen.
Gekürzter Auszug aus:
Douglas Murray, Wahnsinn der Massen. Wie Meinungsmache und Hysterie unsere Gesellschaft vergiften. Edition Tichys Einblick im FBV, 352 Seiten, 24,99 €.
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