Tichys Einblick
Fragen offen gelassen

Plädoyer für eine neue Ostpolitik?

Eine Rezension des Buches von Horst Teltschik „Russisches Roulette: Vom kalten Krieg zum kalten Frieden.“

Wer in Deutschland das Verhältnis zu Russland unter realpolitischen Gesichtspunkten betrachtet und dementsprechend der russischen Föderation das Bestehen legitimer Machtinteressen zugesteht, kommt schnell unter einen Generalverdacht. Dies mag daran liegen, dass zu den Russland-Verstehern eine Reihe von Politikern gehört, die trotz unterschiedlichen Niveaus nicht für sich in Anspruch nehmen können, von Russland, seinen Interessen und seinem besonderen Verhältnis zu Deutschland sehr viel zu verstehen. Gemeint ist nicht nur der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder, der als Angestellter russischer Energiekonzerne interessenwahrend auch gegenüber dem starken Mann Russlands, Wladimir Putin, auftreten muss und bereits von daher bestimmte Gangarten der russischen Politik nicht unvoreingenommen beurteilen kann. Die Rede ist natürlich auch von Martin Schulz, der zusammen mit Sigmar Gabriel und anderen SPD-Politikern meinte, bei Hinterzimmertreffen mit russischen Politikern oder gar mit dem russischen Präsidenten selbst geopolitische Kompetenz demonstrieren zu müssen.

Schließlich kommt ein Generalverdacht gegenüber der realpolitischen Beurteilung russischer Politik meist auch dadurch zustande, dass in bestimmten Ländern wie in Polen ein geradezu pathologisches Russlandverständnis grassiert: Jeder Schritt Deutschlands in Richtung Russlands wird mit einem historischen soupcon verbunden.

Nicht zu vergessen ist gewiss der Werkzeugkasten russischer Politik im Westen. Die Organisation des Russlandbilds durch den staatlichen Sender Russia Today ist davon nur eine Facette. Die unbestrittenen Einmischungsversuche der russischen Politik in den amerikanischen Wahlkampf gehören ebenso zu jenen Methoden russischer Politik, die in der Tat an den kalten Krieg erinnern.

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Dieses wohlwissend hat ein Kenner der deutsch-russischen Beziehungen, der ehemalige Kohl-Berater und langjährige Vorsitzende der Münchener Sicherheitskonferenz Horst Teltschik, den verdienstvollen Versuch unternommen, das Unverhältnis zwischen Russland und dem Westen und die zunehmende Sprachlosigkeit zwischen den politischen Eliten rational zu analysieren. Teltschik ist ein Mann ohne Illusionen und weiß aus eigener Erfahrung im Umgang mit der russischen Politik, welche Gefahren im Verhältnis zwischen Russland und dem Westen von Bruchstellen wie der damaligen Transformation der Sowjetunion in den Bund unabhängiger Staaten ausgehen können. So schildert Teltschik zunächst die Aufbruchstimmung der 90er Jahre, in denen berechtigt oder unberechtigt aufgrund des besonderen Vertrauensverhältnisses zwischen Helmut Kohl und Michail Gorbatschow der Grundsatz der Realpolitik „Es gibt keine Erbfeindschaft, auch nicht nach grausamen Kriegen“, durch eine beherzte Politik des Neuanfangs bei der Gestaltung eines europäischen Sicherheitssystems bekräftigt wurde.

Teltschik zeichnet in verständlicher Sprache mit vielen Einblicken aus seinem politischen Leben nach, wie die Geschäftsgrundlage des neu gefundenen Vertrauens der 90er Jahre zwischen Russland und dem Westen fahrlässig verspielt wurde. Wurde damals noch davon ausgegangen, dass auf deutschem Boden bzw. auf dem Boden der ehemaligen DDR keine Nato-Truppen stationiert werden dürfen und dementsprechend auch die Nato sich nicht ostwärts bewegen würde, so sieht zwischenzeitlich die Lage vollständig anders aus. Nahezu ganz Osteuropa, insbesondere Polen, Tschechien, Ungarn und Rumänien sind ebenso wie die baltischen Staaten der Nato beigetreten, so dass das alte Schreckgespenst der ehemals sowjetischen Politik von der Einkreisung durch den Westen eine neue Gestalt angenommen hat.

Es ist zweifellos ein Verdienst der Darstellung Teltschiks, dem westlichen Leser die russische Perspektive nahezubringen und Verständnis dafür einzufordern, dass aus russischer Sicht die Osterweiterung der Nato bereits seit Jelzin als ein Bruch jener Geschäftsgrundlage angesehen wird, die einst Gorbatschow dazu veranlasste, der deutschen Einheit in Frieden und Freiheit seinen Segen zu geben.

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Daneben gibt es eine Fülle von Belegen der Ungeschicklichkeit amerikanischer Politik, die dazu beigetragen hat, dass sich die Spirale der Misstrauenseskalation zwischen Russland und dem Westen schicksalshaft fortsetzt. Dazu gehört beispielsweise die Interpretation der Krim-Annexion durch Russland. Zwar rechtfertigt Teltschik diesen Schritt russischer Expansionspolitik mit keinem Wort. Indessen weist er darauf hin, dass Russland seit je her zu diesem neuralgischen Sicherheitspunkt der europäischen Landkarte einen besonderen Zugang verlangte. Ebenso fällt die Würdigung des Ukrainekonfliktes aus. Teltschik kann sich in der Gesellschaft des Historikers Kissinger wissen, wenn er darauf hinweist, dass die Ukraine zu jenem Siedlungsgebiet Rus gehört, welches einstmals der Nukleus der Staatswerdung der ostslawischen Völker war. Für Russland ist es als ein ohnehin um den Großmachtstatus kämpfendes Land schwerlich hinzunehmen, dass in einem Großraum, für den es bislang den Status eines führenden Landes beanspruchen konnte, fremde Mächte operieren. Teltschik hätte an dieser Stelle die Monroe-Doktrin anführen können. Was würden die Vereinigten Staaten von Amerika sagen, wenn Russland in Sezessionskonflikte auf dem nordamerikanischen Kontinent eingreifen oder auch nur in mittel- und südamerikanischen Staaten mehr als nur Freundschaftsadressen hinterlassen würde?

Interessant, wenn auch nicht originell ist auch der Hinweis Teltschiks darauf, dass die Messlatte russischer Politik stets die Entscheidung in Washington ist. Washington ist der internationale Sparringspartner, mit dem sich die russische Großmacht nach wie vor misst. Sie ist jenes Fixgestirn der internationalen Politik, durch dessen Anspruch, unilaterale Politik zu betreiben, sich Moskau oder Russland unter Putin besonders herausgefordert fühlt.

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Etwas zu kurz kommt in dem Buch von Teltschik die von ihm wohl gesehene Unberechenbarkeit der Trump Administration. Waren es in der Vergangenheit bei Obama linguistische Versprecher („Russland ist eine regionale Macht“), so hat bei Präsident Trump die Kombination von Unkenntnis und Unberechenbarkeit einen neuen Ausdruck gefunden. Russland will als Großmacht ernst genommen werden und sucht händeringend auf diesem Weg Druckpunkte in der westlichen Politik. So analysiert Teltschik zutreffend die Bemühungen Russlands, mit der Türkei militärisch wie wirtschaftlich ins Geschäft zu kommen sowie wirtschaftlich weiter mit dem Iran zusammenzuarbeiten und sich gleichzeitig als „Friedensmacht“ im Nahen Osten aufzuführen.

Ob das Russland Putins aufgrund der auch von Teltschik konzedierten Rechtsstaats- und Demokratiedefizite ein berechenbarer Partner werden kann, untersucht Teltschik nicht. Genauso wenig nimmt er sich der Frage an, wie man Russland auf dem Weg einer rechtsstaatlichen Demokratie mit einem pluralistisch organisierten politischen Personal bewegen könnte. Auch fehlen Ausführungen über das Zusammenwirken von politischer Elite und Staatskonzernen in so wichtigen Feldern wie der gesamten Energiepolitik. Die Aufforderung an die deutsche Politik, verbunden mit Elogen auf den Dialog von Angela Merkel mit Putin, weisen gewiss den Weg in die richtige Richtung, um das Unverhältnis Russlands mit dem Westen durch einen signifikanten deutschen Beitrag zu überwinden. Indessen verlangt es angesichts der völlig verfahrenen Situation und der auf tradierten Feindbildern fixierten US Administration gewiss mehr als nur eines Anstoßes von Deutschland. Gefragt ist nach einer neuen Ostpolitik, also dem Entwurf einer neuen Politik, bei der sich Deutschland, wie einstmals konzipiert durch Willy Brandt und Egon Bahr, auf eigene Beine stellt und den Dialog mit Russland neu ordnet.

Es ist zu hoffen, dass Horst Teltschik sich nicht das letzte Mal in die Debatte eingemischt hat, sondern in einer Zweitauflage des Buches diese offenen Fragen beantwortet.


Von Markus C. Kerber ist das folgende Buch erschienen: