Tichys Einblick
Wichtige Diskussionen, die wir führen müssen

Leben und leben lassen

Im Ringen um die Anerkennung jedes Einzelnen, riskieren wir unsere Vernunft, unsere gemeinsamen Werte und unsere Menschlichkeit zu verlieren – ein Plädoyer gegen den aufkeimenden Wahnsinn in Zeiten der Massenhysterie.

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Einer der Nachteile, wenn wir das Leben als einziges Nullsummenspiel begreifen, wenn unterschiedliche Gruppen darüber streiten, wer von ihnen mehr unterdrückt wird, ist, dass es uns ziemlich viel Zeit und Energie kostet, die uns dann woanders fehlt. Sollten wir zum Beispiel nicht besser darüber nachdenken, wieso es dem Feminismus und anderen nach all den Jahren und Jahrzehnten nicht gelungen ist, die Rolle der Mutterschaft für den Feminismus zu klären?

Die feministische Autorin Camille Paglia war – so kennen wir sie ja – ehrlich genug, um zuzugeben, dass die Mutterschaft eine der großen noch offenen Fragen für Feministinnen ist. Und dass dieses Thema zu gewaltig ist, um es totzuschweigen oder zu beschönigen. Paglia hat in diesem Zusammenhang geschrieben: »Die feministische Ideologie hat sich noch nie ernsthaft mit der Rolle von Müttern in unserem Leben auseinandergesetzt. Die Geschichte als Ausbund männlicher Unterdrückung und weiblicher Opferrolle darzustellen ist eine enorme Verzerrung der Fakten.«

Auf die Frage nach ihren drei größten Helden des 20. Jahrhunderts antwortet Paglia mit Amelia Earhart, Katharine Hepburn und Germaine Greer. Diese drei Frauen, so Paglia, »symbolisieren die neue Frau des 20. Jahrhunderts«. Dennoch räumt sie ein:

»Alle diese Frauen hatten keine Kinder. Das ist eines der größten Dilemmas von Frauen Ende des letzten Jahrhunderts. Der Feminismus der zweiten Welle gab allein den Männern, insbesondere dem ›Patriarchat‹ die Schuld an der Situation von Frauen. […] Der feministische Fokus richtete sich ausschließlich auf externe soziale Mechanismen, die entweder einer Reform bedurften oder zerschlagen gehörten. Der Feminismus hat es versäumt, auf die komplexe Verbindung von Frauen und ihrer natürlichen Fähigkeit der Fortpflanzung einzugehen. Stellt sich nunmehr die Frage, weshalb die Rolle als Mutter im Zeitalter der Karrierefrauen entwertet und herabgewürdigt wurde.«

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Die fortwährende Unaufrichtigkeit zieht einen ganzen Rattenschwanz an nicht minder unehrlichen Behauptungen nach sich, die in hässlichen, menschenfeindlichen Äußerungen über die Rolle der Frauen münden. Im Januar 2019 zeigte CNBC einen Beitrag mit dem Titel »Sie sparen eine halbe Million Dollar, wenn Sie keine Kinder kriegen.« Weiter hieß es darin: »Ihre Freunde sagen, Kinder machen glücklich. Vermutlich lügen sie.« Danach wurden alle Nachteile der Elternschaft aufgelistet wie »mehr Verantwortung, mehr Hausarbeit und natürlich das liebe Geld …«

Neulich schrieb The Economist über die »Ursachen des Lohngefälles zwischen den Geschlechtern« – Kinder. Eine der Hauptursachen, weshalb Frauen in ihrem gesamten Arbeitsleben im Durchschnitt weniger verdienen als Männer, ist, dass sie Kinder in die Welt setzen und großziehen. Dazu noch einmal The Economist: »Kinder zu haben bedeutet für Frauen Einkommenseinbußen, die als »Mutterschaftsstrafe« bezeichnet werden.« Es fällt mir schwer, mir vorzustellen, dass jemand diesen Ausdruck liest, ohne zusammenzuzucken. Schon klar, wenn der Sinn des Lebens darin besteht, so viel Geld wie möglich anzuhäufen, fallen Kinder in die Kategorie »Strafe«. Denn mit Kindern wird das Bankkonto der Mutter – wenn sie irgendwann mal stirbt – kein so hohes Plus aufweisen wie ohne Kinder. Entscheidet sie sich jedoch dafür, diese Geldstrafe zu bezahlen, hat sie das Glück, eine der wichtigsten und befriedigendsten Aufgaben im Leben einer Frau zu erfüllen.

Der Standpunkt des Economist deutet auf etwas hin, das seit Jahrzehnten Konsens ist und somit weitverbreitet. Auf der einen Seite müssen – die meisten – Frauen keine Kinder mehr kriegen, wenn sie keine wollen, sondern können sich anderen bedeutsamen Dingen in ihrem Leben widmen. Die Umorientierung in Sachen Lebenszweck hat sich nicht wirklich schwer damit getan, es so aussehen zu lassen, als wäre der ursprüngliche Sinn des Lebens nie einer gewesen. Der amerikanische Romancier Wendell Berry hat schon vor 40 Jahren seinen Finger daraufgelegt, als – wie er es nannte –, »schlechte Zeiten für die Mutterschaft« anbrachen. Das ganze Konzept von Mutterschaft war irgendwie in Verruf geraten: »Manche sagen, Mutterschaft sei eine einzige biologische Plackerei, die Frauen aufzehrt, die Besseres mit ihrem Leben anfangen könnten.« Und dann brachte es Berry auf den Punkt:

»Wir alle brauchen doch etwas, was uns aufzehrt. Auch wenn ich selbst keine Mutter sein kann, lasse ich mich doch gerne von der Mutterschaft und wozu sie führt, aufzehren, genauso wie ich – die meiste Zeit – gerne zu meiner Frau, meinen Kindern, mehreren Rindern, Schafen und Pferden gehöre. Gibt es einen besseren Weg, aufgezehrt zu werden?«

Ist das nicht eine bessere Sicht auf Mutterschaft und das Leben? Im Geist der Liebe und Vergebung und nicht mit dieser endlosen Litanei von Verbitterung und Gier?

Was wirklich los ist

Wenn die mangelnde Auseinandersetzung mit wirklich relevanten Themen und die Widersprüchlichkeiten in und an sich schon genügen würden, um der neuen Religion der sozialen Gerechtigkeit Einhalt zu gebieten, wäre dieser Stein gar nicht erst ins Rollen gekommen. Wer darauf wartet, dass diese Bewegung von sich aus ein Ende findet, wartet vergebens. Das liegt zum einen daran, dass die marxistische Unterkonstruktion eines Großteils dieser Bewegung nicht gewürdigt wird, und auch daran, dass sie diese Widersprüchlichkeiten nicht abschrecken. Sie führen nicht dazu, sich einmal anzusehen, wo diese Widersprüchlichkeiten aufeinanderprallen und ob das nicht bedeuten könnte, dass etwas in die falsche Richtung läuft.

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Zum anderen genügen diese Widersprüchlichkeiten allein schon deshalb nicht, weil nichts an dieser intersektionellen Bewegung der sozialen Gerechtigkeit darauf hindeutet, die Probleme, die ihnen doch angeblich so wichtig sind, auch tatsächlich zu lösen. Wie ich darauf komme? Nun, der erste Hinweis ist die einseitige, voreingenommene, nicht repräsentative und unfaire Darstellung, wie es um unsere Gesellschaft bestellt sein soll. Es dürfte zwar nur sehr wenige Menschen geben, die allen Ernstes überzeugt sind, ihr Land bedarf keiner Verbesserungen, aber unsere Gesellschaft als von Ignoranz, Hass und Unterdrückung durchsetzt zu beschreiben, ist im besten Fall einseitig und im schlechtesten einfach nur feindselig. Das hat mit konstruktiver Kritik rein gar nichts zu tun, sondern erinnert vielmehr an einen Feind, der am liebsten alles und jeden kaputtschlagen will. Und die entsprechenden Zeichen sind überall zu finden.

Sehen wir uns noch einmal die Trans*-Bewegung an. (…) Eric Weinstein hat festgestellt, dass jeder, der ernsthaft etwas gegen die Stigmatisierung und das Unglück der Menschen, die im falschen Körper stecken, hätte tun wollen, sich zunächst einmal mit dem Themenkomplex Intersexualität hätte befassen müssen. Dann wäre erkannt worden, dass Intersexualität mit Sicherheit eine Frage der Hardware ist, was jedoch im allgemeinen Getöse untergeht. Und dann wäre auch erkannt worden, wie brisant die Situation der Betroffenen ist. Es hätte zu mehr Verständnis geführt, wie wir ihnen helfen können, denn diese Menschen sind wirklich auf medizinische und psychologische Unterstützung angewiesen. Wer sich soziale Gerechtigkeit auf die Fahne schreibt, hätte all das tun müssen.

Aber das haben sie nicht getan. Stattdessen wurde das Thema Trans* aufgegriffen und massiv in den Vordergrund gedrängt: Es wurde der kniffligste Teil der ganzen Frage herausgepickt (»Ich bin, was ich sage, dass ich bin, und du kannst mir ja schlecht das Gegenteil beweisen«), was geendet hat in: »Transmenschen sind bedeutsam.« »Manche Leute sind trans*. Finde dich damit ab.« Im ganzen Land haben die Leute, die sich über jeden Aspekt unseres ach so patriarchalischen, hegemonialen, cis-rassistischen, homophoben, sexistischen Landes, in der sich eine Vergewaltigungskultur breitgemacht hat, mit ermüdender Vorhersehbarkeit beschwert haben, die »Transsache« einfach hingenommen und nicht im Ansatz hinterfragt. Insbesondere wurde behauptet, wenn ein Mann von sich sagt, er wäre eine Frau, dann wäre sie eben eine Frau, auch wenn sie sonst nichts weiter in die Wege geleitet hat. Wem das nicht genügte, der wurde als transphob abgestempelt. Das Muster ist klar. Weshalb wohl hat Alexandria Ocasio-Cortez in den ersten Wochen nach ihrer Amtseinführung im US-amerikanischen Kongress Spendengelder für die britische Aktivistengruppe »Mermaids«, die sich für die Rechte von Transmenschen einsetzt, gesammelt, die für eine Hormonbehandlung von Kindern sind? Weshalb nur setzen sich diese Leute dermaßen für den verzwicktesten Part des komplexen Problems ein?

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2018 kam es zu einem Wortgefecht im britischen Unterhaus über die Trans*-Problematik, und auch der Fall Karen White kam zur Sprache. Dieser Mann war wegen Vergewaltigung zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden, wollte inzwischen jedoch als Frau leben. Obwohl er keine geschlechtsangleichende Operation hatte vornehmen lassen, beantragte er, in ein Frauengefängnis verlegt zu werden. Dort angekommen, machte er sich bei vier Frauen der sexuellen Nötigung schuldig (über den männlichen Körper verfügte er ja). Während der Debatte brachte die Abgeordnete der liberalen Partei Großbritanniens, Layla Moran, die extreme Denkweise der Trans*-Bewegung auf den Punkt. Auf die Frage, ob sie sich gerne einen Umkleideraum mit jemanden teilen würde, dessen Körper männlich ist, antwortete Moran: »Wenn dieser Jemand eine Transfrau ist, auf jeden Fall. Ich sehe das Problem nicht. Und auf die Frage, ob sie einen Bart tragen (auch diese Frage kam auf) würde ich mich zu sagen trauen, dass auch manche Frauen Bartwuchs haben. Es gibt alle möglichen Gründe, weshalb der Körper unterschiedlich auf Hormone reagiert. Den menschlichen Körper gibt es in höchst unterschiedlicher Gestalt. Ich blicke in die Seele meiner Mitmenschen und begreife sie als Person. Es interessiert mich nicht, ob sie den Körper eines Mannes haben.«

Kein vernünftiger Mensch auf der Suche nach Verbündeten und Gesinnungsgenossen, um sich mit ihnen gemeinsam für die Rechte von Transmenschen einzusetzen, würde so etwas je behaupten. Sie würden auch nicht behaupten, jemand wäre transsexuell, wenn er das von sich sagt. Mit Sicherheit würden sie auf die Frage, ob sie den Umkleideraum mit einem bärtigen Mann teilen würden, nicht antworten: »Ich würde mich zu sagen trauen, dass auch manche Frauen Bartwuchs haben.« Und sie würden auch nicht behaupten, in die Seele ihrer Mitmenschen blicken und sagen zu können, ob sie es mit einem Mann oder einer Frau zu tun haben. In meinen Augen sind das irrsinnige Behauptungen – und wie so viele andere in der Trans*-Debatte aufgestellte Behauptungen. Sie dürften jeden normalen Menschen verwirren, der ihnen zuhören muss oder dazu gedrängt wird, in eine Richtung mit ihnen zu marschieren oder gar anzunehmen, dass diese Behauptungen der Wahrheit entsprechen. Eine Bewegung, die sich für Transgender-Menschen einsetzt, würde sich zunächst mit Intersexualität befassen und sich anschließend mit Bedacht an den ganzen anderen Thesen und Behauptungen des Trans*Spektrums entlanghangeln und sie mit wissenschaftlicher Gründlichkeit analysieren. Eine solche Bewegung würde sich keineswegs gleich auf den kniffligsten Teil stürzen und darauf pochen, dass alles, was über Transmenschen behauptet wird, wahr ist und dass das gefälligst jeder zu denken hat. So läuft das eben nicht mit Bewegungen und Bündnissen. So geht nur vor, wer keinen Konsens erzielen will. So handelt nur jemand, der spalten will.

Sobald man dieses widersinnige Spiel einmal durchschaut hat, fällt einem auf, dass es immer und überall gespielt wird. Es gibt zum Beispiel unterschiedliche Lohngefälle. Wie Jordan Peterson herausgefunden hat, gibt es sogar eines zwischen angenehmen und unangenehmen Zeitgenossen. Und es betrifft gleichermaßen Frauen und Männer. Es ist tatsächlich so, dass eine nicht nette Frau bei gleicher Tätigkeit mehr verdient als ein umgänglicher Mann. Und umgekehrt. Weshalb kümmert sich jemand, dem Lohngefälle sauer aufstoßen, dann nicht um eben beschriebenes? Weshalb gibt es keine endlose Debatte nach ausgleichender Gerechtigkeit samt der Forderung, dass nette Menschen künftig mehr verdienen und nicht so nette ihnen den Vortritt lassen müssen? Weil das nicht zum übergeordneten Ziel passt. Und nein, das lautet weder, Frauenrechte nachzubessern, noch das Gehalt von Frauen aufzustocken, sondern Frauen als Hebel für ganz andere Dinge zu nutzen.

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"Ihr schuldet uns was" – statt Klassenkampf spaltet jetzt Minderheitenpolitik
Bei jedem Thema meines Buches lautete das Ziel der Aktivisten, denen es um soziale Gerechtigkeit geht, durchgängig, sich jeden – Schwule, Frauen, Farbige und Transgender – vorzunehmen, um auf eklatante Rechtsverstöße zu verweisen und damit möglichst aufwieglerisch zu sein. Ihr Ziel lautet nicht, gemeinsam für die gute Sache zu kämpfen, sondern die Gesellschaft zu spalten, sie wollen nicht deeskalieren, sondern sie eskalieren. Sie löschen nicht, sie entzünden. Und auch hier erkennen wir noch einen letzten Teil der marxistischen Unterkonstruktion. Wer eine Gesellschaft nicht regieren kann – oder wenigstens so tun kann als ob, oder es zumindest probiert und dabei alles kaputtmacht – macht einfach etwas anderes. Eine Gesellschaft, die sich ihrer Schwächen bewusst ist und die alles andere als perfekt ist, ist immer noch die bessere Option als alles andere, was da sonst angeboten wird – und trotzdem werden Zweifel gesät, die Gesellschaft wird gespalten, Feindseligkeit und Ängste greifen um sich. Am besten, man bringt die Menschen dazu, wirklich alles zu hinterfragen. Sollen sie sich doch den Kopf darüber zerbrechen, ob an der Gesellschaft, in der sie leben, überhaupt etwas gut ist. Sollen sie doch darüber nachdenken, ob die Menschen dort gut behandelt werden. Sollen sie doch anzweifeln, ob es die Gruppierungen Männer und Frauen tatsächlich gibt. Ach, sollen sie doch einfach alles anzweifeln. Und das Beste zum Schluss: Dann stellt man sich als denjenigen dar, der auf alles eine Antwort weiß, der beeindruckende, umfassende Antworten auf wirklich alle Fragen kennt – die Details werden dann in einem Post nachgereicht.

Vielleicht wissen sie ja wirklich schon, wohin die Reise gehen soll. Vielleicht missbrauchen die Anhänger der neuen Religion ja Homosexuelle, Frauen, Farbige und Transmenschen als eine Art menschlichen Rammbock, um Menschen gegen die Gesellschaft aufzubringen, in der sie groß geworden sind. Vielleicht gelingt es ihnen ja sogar, jedermann und jedefrau gegen das »Patriarchat männlicher CisWeißer« aufzubringen, und zwar noch bevor sich alle »unterdrückten Opfer verschiedenster Gruppierungen« gegenseitig zerfleischen. Das wäre möglich. Doch jeder, der diesen Albtraum verhindern will, sollte sich schleunigst auf die Suche nach Lösungen machen.

Auszug aus:
Douglas Murray, Wahnsinn der Massen. Wie Meinungsmache und Hysterie unsere Gesellschaft vergiften. Edition Tichys Einblick im FinanzBuch Verlag, 352 Seiten, 24,99 €


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