Tichys Einblick
Auf subversiven Wegen zur Wahrheit

Die leisen Widerworte des Hendrik Streeck

Wie geht man mit der Pandemie um? Das ist längst kein medizinisches oder wissenschaftliches Thema mehr, sondern eine politische Machtfrage. Nicht die Menschen zählen, sondern die politische Durchsetzungskraft

Der Virologe Hendrik Streeck hat ein neues Sachbuch vorgelegt. Es kommt harmlos daher, mit fast kindlich wirkenden Zeichnungen des Autors. Aber es ist ein eminent politisches Buch, denn es zeigt, wie Wissenschaft in Deutschland mittlerweile politisch mißbraucht wird – und dass wissenschaftliche Wahrheiten sich nicht mehr gut hörbar, sondern nur noch versteckt durchsetzen – zu Lasten der Menschen und des Landes.

Doch zunächst zu Streecks harmlos daherkommendem Ansatz mit verborgener wissenschaftlicher Sprengkraft. Streeck beschreibt das Immunsystem als eine Streitmacht des Körpers mit Spezialisten für jeden erdenklichen Einsatz. Angeführt wird sie nicht von einem Oberbefehlshaber, sondern von vielen Generälen; die gesamte Armee arbeitet dabei wie ein Orchester.

„Das Immunsystem ist eines der kompliziertesten und faszinierendsten Bestandteile des Körpers“, führt Prof. Dr. Hendrik Streeck ins Thema ein und fährt ein paar Zeilen später fort: „Was es macht, sagt schon sein Name: es hilft uns, ›frei von‹ etwas – auf Latein immunis – zu bleiben. Tagein, tagaus verteidigt es unseren Körper gegen Eindringlinge. Oder, etwas weniger spektakulär gesagt: Es setzt sich für uns mit der Umwelt auseinander. Meist ohne dass wir es bemerken. Überwiegend unauffällig und leise perfektioniert das Immunsystem unser persönliches Hospitality Management. Willkommenskultur ist dabei meist nicht angesagt. Nach dem Motto: Better safe than sorry. Rasch und zielgenau unterscheidet das Immunsystem Eigenes und Fremdes. Bekanntes und Unbekanntes. Willkommenes und Gefährliches.“

Tichys Lieblingsbuch der Woche
Entspannen Sie sich - die nächsten Katastrophen kommen bestimmt, nur anders
Sein neues Buch widmet Streeck ganz dieser „Wunderwaffe unseres Körpers“ und erläutert, wie unser Immunsystem eigentlich funktioniert, warum es manchmal überreagiert, was Antikörper sind, den Unterschied zwischen Viren und Bakterien und – von aktuell höchster Relevanz – wie Impfstoffe wirken.

Man lernt sehr viel bei Streeck über den eigenen Körper und Gesundheit. Corona, das beherrschende Thema unserer Zeit, kommt nur so am Rande vor, auf nicht einmal einem halben Dutzend Seiten. Es geht um die Pest, deren Schrecken gebrochen werden konnte, um das lästige Lippen-Herpes, das fast jeden befällt, um AIDS und wie es entdeckt wurde, erkannt und behandelt werden kann sowie um Gürtelrose, Syphilis und Ebola-Fieber. Ein Panoptikum des Schreckens, das unser Körper meist erfolgreich abwehrt. Der Direktor des Instituts für Virologie am Universitätsklinikum Bonn erläutert, wie uns unser körpereigenes Abwehrsystem tagtäglich schützt, warum wir Fieber bekommen, was wir selbst für unsere Abwehrkräfte tun können, wie viele Bakterien wir um Mund haben und warum Küssen trotzdem gesund ist.

Faszinierend wie elegant Streeck auf diese Weise die Schrecken von Corona relativiert. Wir lernen, dass die Menschheit seit jeher mit immer neuen Angriffen auf die Gesundheit umgehen mußte und umzugehen lernte. Corona ist dabei eine eher bescheidene Gefahr. Während die Pest ein Drittel der Bevölkerung dahinraffte, ist Corona kaum an der Sterblichkeitsrate meßbar. So schlimm jeder einzelne Verlust ist – worüber regen wir uns gesellschaftlich eigentlich auf? Die subtile Botschaft Streecks: bleibt besonnen, bedenkt den Schaden, der dadurch entsteht, dass mit den Mitteln der Politik ein Virus ausgerottet werden soll, das sich nicht ausrotten läßt. Weil es zur Welt gehört und nicht daran denkt, sie wieder zu verlassen, ganz egal woher es gekommen ist. ZeroCovid und NullCovid-Strategien würgen das gesellschaftliche Leben und die Wirtschaft ab, schädigen Kinder, Erwachsene und Ältere durch Vereinsamung und Angstpaniken und richten so vermutlich mehr Schaden an als eine Krankheit, die längst beherrschbar ist und bald mit einer Pille erträglich gemacht werden kann – so wie das viel gefährlichere AIDS längst medizinisch beherrscht und in seinem Schrecken eingehegt wurde.

Corona ist auch eine politische Pandemie
Hendrik Streeck rechnet mit dem Lockdown ab: "Hotspot - Leben mit dem neuen Corona-Virus"
Aber diese Schlussfolgerung muss der Leser selber ziehen. Streeck ist ein gebranntes Kind. Wir erinnern uns: der Virologe berichtete zu Beginn der Corona-Krise auf einer Pressekonferenz des Landes Nordrhein-Westfalen in Gegenwart von Armin Laschet über erste Ergebnisse seiner Heinsberg-Studie und empfahl der Politik sogleich, Öffnungsschritte einzuleiten und insbesondere die Schulen wieder zu öffnen. Sein populärer Kollege Christian Drosten hielt das angesichts der bis dahin vorliegenden Datenlage für leichtfertig. ER legte seinerseits ein Studie vor, die Schulschließungen nahelegte – und von der eigenen Zunft zerrissen wurde: Stefan Willich, Direktor des Instituts für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie der Charité, kritisierte abschließend  allgemeinen Teil von Drostens Arbeit: „Die epidemiologischen und statistischen Schlussfolgerungen werfen aus unserer Sicht Fragen auf und beruhen stellenweise auf einer Interpretation, die die Maßnahmen und das Infektionsgeschehen in unrealistischer Weise monokausal verbindet.“ Soweit ein Streit unter Wissenschaftlern, soweit der Wahrheitsfindung dienlich.

Aber dann kam die Politik ins Spiel. An der Seite Streecks stand der nordrheinwestfälische Ministerpräsident Armin Laschet. Drosten dagegen fand seinen politischen Schutzherrn in Bayerns Ministerpräsidenten Markus Söder, der gegen Laschet um die Kanzlerkandidatur antrat. Damit wurde der Streit um die Frage, wie die Pandemie bekämpft werden sollte, endgültig politisch.

Mit einem gewieften Trick gelang es Drosten, sich endgültig als Starvirologen zu etablieren und so gegen Streeck die Lufthoheit in den Medien und der Politikberatung durchzusetzen – und die Schulen in einen Lockdown zu manipulieren, der einer ganzen Generation von Schülern und Eltern immensen Schaden zufügen wird:

Er setzte mit seiner wachsenden Anhängerschaft nicht wissenschaftliche Argumente, sondern die  Waffen der Klimapolitik ein, die jede Kritik damit abschmettert, auf der Seite der Wissenschaft zu stehen und gegen Wissenschaftsleugner zu kämpfen. Wer den menschengemachten Klimawandel auch nur ansatzweise mit Einsichten ergänzt, die nicht in den vorgegebenen, bedingungslos zu akzeptierenden Bestätigungsrahmen fallen, wird generell als „Klimaleugner“ geächtet. In einem politisch heiklen Moment, als der von Drosten und der Akademie Leopoldina geforderte „Weihnachtslockdown“ anstatt weniger Wochen mehrere Monate dauerte und dennoch erkennbar sein Ziel verfehlte, beklagten er und mehrere Wissenschaftsjournalistinnen eine „False Balance“ der Coronaexperten in nationalen Medien.

Dieser Begriff hatte zuvor Karriere in der Klimakrise gemacht, um Forscher, die in den Medien angeblich wissenschaftlich überholte Positionen zum Klimawandel vertraten, aus dem öffentlichen Diskurs zu verbannen. Nun aber galt der Kampfbegriff auch Forschern, die sich für eine andere Pandemiepolitik aussprachen. Gemeint war in erster Linie Hendrik Streeck. Die Angriffe gegen ihn wurden gerade nicht in der Absicht vorgetragen, seine Aussagen zur Fallsterblichkeit bei Covid-19 als wissenschaftlich fragwürdig auszuweisen, sondern ihn als „zu lockeren“ oder gar „gefährlichen“ Experten darzustellen. Indem der Aufruf zur Zensur von der wissenschaftlichen auf die politische Ebene verlagert wurde, kam er einer versteckten Kampagne zur Gleichschaltung der Medien gleich, wie Caspar Hirschi, Professor für Allgemeine Geschichte an der Universität St. Gallen anläßlich des Kongresses „Follow the Science“ in Berlin rekapitulierte.

Besonnen und mit kühlem Kopf
Klimawandel – Zeit für kühle Argumente in einer überhitzten Debatte
Drosten selbst legte noch eine Schippe drauf, als er Ende März 2021 ein wissenschaftstheoretisch primitives Schema zur Bekämpfung von Desinformation über den Klimawandel mit dem Akronym PLURV aufgriff, um Streeck vor versammeltem Radiopublikum der Wissenschaftsleugnung zu überführen. Als Beweis für die Vollstreckung des akademischen Todesurteils diente ihm ein ebenso banaler wie wahrer Satz, den Streeck wiederholt gesagt hatte: Es gehe darum, „mit dem Virus leben zu lernen“. Damit hatte Drosten erreicht, was er wollte. Sein eigener Nachfolger auf dem Lehrstuhl für Virologie der Universität Bonn war bei den Querdenkern entsorgt, und in deutschen Medien dominierte die Haltung: Drosten zu folgen, hieße, der Wissenschaft zu folgen. Es ist ein ebenso bemerkenswertes wie verwerfliches und folgenreiches Geschehen. Es erinnert an den Fall Ignaz Semmelweis.

Semmelweis führte das häufigere Auftreten von Kindbettfieber im Wiener Universitätskrankenhaus darauf zurück, dass zunehmend Ärzte in der Geburtshilfe tätig wurden, die auch mit Kranken und Leichen in Berührung kamen und – verbunden mit der Unkenntnis um die Notwendigkeit von Desinfektion – Keime auf die entbindenden Mütter übertrugen. Dagegen setzte Semmelweis auf  Hygienevorschriften, die den Ärzten für sie unangenehmes Händewaschen abverlangte um zum Beispiel das Leichengift zu entfernen, ehe es in den Unterleib der Gebärenden gelangen konnte. Später wurde er „Retter der Mütter“ genannt. Seine Studie von 1847/48 gilt heute als erster praktischer Fall von evidenzbasierter Medizin in Österreich und als Musterbeispiel für eine methodisch korrekte Überprüfung wissenschaftlicher Hypothesen. 

Zu seinen Lebzeiten wurden seine Erkenntnisse nicht anerkannt und von Kollegen als „spekulativer Unfug“ abgelehnt. Dieser Rückblick zeigt, dass wissenschaftlicher Fortschritt nicht durch „Mehrheitsmeinung“ entsteht, sondern dass diese sogar meist fortschrittsfeindlich wirkt, weil sie eingefahrene und gewohnte Methoden nicht in Frage stellt. Später hat der Wissenschaftstheoretiker Thomas Samuel Kuhn Wissenschaft in seinem Hauptwerk The Structure of Scientific Revolutions als eine Folge von Phasen der Normalwissenschaft beschrieben, die von wissenschaftlichen Revolutionen und meist einzelnen Revolutionären durchbrochen werden: Dabei werden die wirklichen Erkenntnisfortschritte von Außenseitern gegen die eingefrorenen Ansichten der herrschenden Lehre durchgesetzt; diese Außenseiter jedoch zuvor meist verlacht, verspottet, verhöhnt und oft sogar aus der Wissenschaftsgemeinde ausgeschlossen.

Missbrauch von Wissenschaft
Corona-Politik ist unverhältnismäßig und freiheitsgefährdend
In der Klima- wie der Pandemiefrage übersteigert sich dieser Prozess: Nicht mehr Erkenntnisse werden verlangt, sondern ständige Bestätigungen der bestehenden Linie von Politik und Medien. „Abweichler“ werden nicht nur nicht gehört, sondern verdammt und aus dem öffentlichen Diskurs ausgeschlossen, wobei die Technik der „Cancel Culture“ zum Einsatz kommt.

Hätte sich in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung der Star-Virologen Streeck durchgesetzt, wären zumindest Schulschließungen, harte Lockdownmaßnahmen und brutale Ausgrenzung Ungeimpfter vermieden worden und es hätte sich ein ähnlich gelassener Umgang wie in Schweden bei vergleichbarer oder sogar entspannterer Gesundheitsbelastung durchgesetzt. Frei gewordene Energie wäre zu einer Konzentration der Schutzmaßnahmen auf wirklich vulnerable Gruppen von Alten und Vorerkrankten nutzbar gewesen. Die falsche Weichenstellung in der deutschen Pandemiepolitik, geprägt von Hardlinern und politischen Karrieristen wie Markus Söder, schadet dagegen erkennbar Menschen und Wirtschaft und hat die Verantwortung für zahllose Tote zu tragen.

„Wenn es in der deutschen Berichterstattung über Corona eine Unausgewogenheit gab, so war sie genau anders herum, als es die False-Balance-Polemiker behaupteten. Es bestand eine erdrückende Dominanz von Regierungspolitikerinnen und ihren Experten, die gemeinsam die Illusion erzeugten, die Politik folge ‚der‘ Wissenschaft“, resümiert Caspar Hirschi.

Gegen diese Technik der Ausgrenzung politisch unerwünschter Erkenntnisse durch Medien und Politik ist schwer anzukommen. Es wäre unangemessen, Streeck mit Semmelweis zu vergleichen. Der wurde von „der“ Wissenschaft der Händewasch-Feinde buchstäblich in den Wahnsinn getrieben. Muss Streeck auch um sein Leben fürchten? Der ZDF-Star Jan Böhmermann rief öffentlichkeitswirksam dazu auf, Abweichler von der offiziösen Linie wie Streeck „aufzuhängen“; dass der Nutznießer des öffentlich-rechtlichen Gebührenfunks für diesen Mordaufruf nicht mit Folgen rechnen muss, ist Teil des Erfolgs der „Cancel Culture“ und Klimapolitik. Auch Streeck kämpft weiter. Mit einem Buch, das Bestseller-Rang hat. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte ist: In der Zeit der Parallelschaltung von Wissenschaft, Medien und Politik verhelfen der Wahrheit nur noch subversive Methoden zum Durchbruch; der Wettbewerb um das bessere Argument scheint ausgeschaltet.


Prof. Dr. Hendrik Streeck, Unser Immunsystem. Wie es Bakterien, Viren & Co. abwehrt und wie wir es stärken. Piper Verlag, 224 Seiten, 22,00 €


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