Tichys Einblick
Eurozentrismus als Ursünde des Westens?

Der mögliche Sonderweg Europas in der globalen Geschichte

Das Mehr an Wohlstand, individueller Freiheit und wissenschaftlicher Erkenntnis hat seinen Preis, und Errungenschaften wie der moderne Verfassungsstaat mit individuellen Freiheitsrechten und demokratischer Partizipation ruhen auf kulturellen Fundamenten, die erstmals im Westen konsequent ausgebildet wurden.

Vor weniger als 20 Jahren, 2003, veröffentlichte der österreichische Wirtschafts- und Sozialhistoriker Michael Mitterauer ein Buch mit dem Titel Warum Europa? Mittelalterliche Grundlagen eines Sonderwegs. Für dieses Werk erhielt er sogar den Preis des Historischen Kollegs. Es wäre sicherlich zu viel gesagt, wenn man behaupten wollte, dass ein solches Buch heute nicht mehr in renommierten Verlagen veröffentlicht werden könnte, aber seine Publikation wäre sicherlich sehr viel kontroverser als damals. Heute wird jede Diskussion über eine mögliche kulturelle Überlegenheit Europas in einer historischen Perspektive zunehmend riskant, ganz besonders gilt das, wenn in einer solchen Debatte die islamische Welt kritisiert wird.

Sicher, wir sind noch nicht ganz so weit wie in den angelsächsischen Ländern, wo solche Interpretationen fast automatisch von interessierten Kreisen als rassistisch diskreditiert werden. Aber sieht man sich die deutschen Universitäten an, ist es unwahrscheinlich, dass sie sich gegen die Rufe nach einer »Dekolonialisierung« des Lehrplans wehren oder sich einer grundsätzlichen Kritik an der vermeintlich rein westlichen Logik der konventionellen Wissenschaft wirklich verschließen werden.

Die vorherrschende Position namentlich in den USA und in Großbritannien, aber zunehmend auch in anderen Ländern ist die, dass der Verweis auf die vermeintliche Überlegenheit des Westens in der Vergangenheit vor allem ein Argument war, um koloniale Expansion und imperiale Herrschaftsansprüche zu rechtfertigen. Deshalb müsse die gesamte Logik eines westlichen Überlegenheitsanspruches in Frage gestellt werden. Lehrpläne müssten dekolonialisiert werden, um den bislang einseitig eurozentrischen Kanon zum Beispiel literarischer und philosophischer Werke aufzubrechen. Im Gegenzug werden nicht-europäische historische Großreiche glorifiziert und alle Schwächen, die solche Reichsbildungen hatten, werden konsequent ignoriert.

Mutiges Grundlagenwerk historischer Forschung
Ein amerikanischer Politologe verteidigt den Kolonialismus
Radikale Anwälte einer umfassenden Dekolonialisierung stellen bisweilen sogar den Wahrheitsbegriff und die Methodik der Naturwissenschaften in Frage, weil sie spezifisch westlich seien und den Normen nicht-europäischer Kulturen und ihrer Form von Wissensproduktion nicht gerecht würden. Das mögen extreme Positionen sein, aber wer heute in der universitären Lehre oder in Forschungsdebatten nicht-westliche Kulturen in einer historischen Perspektive als »rückständig« bezeichnet, riskiert durchaus, als Anwalt einer verderblichen »white supremacy« an den Pranger gestellt zu werden.

Besonders stark zur Ächtung solcher Positionen neigen vermutlich jene Disziplinen, wie die Ethnologie, die sich tatsächlich ursprünglich im Kielwasser der europäischen kolonialen Expansion entwickelt hatten, und die sich daher – im Prinzip zurecht – bewogen sehen, sich mit ihrer eigenen Vergangenheit besonders kritisch auseinanderzusetzen. Hier kann in Begutachtungsverfahren schon ein falscher, weil politisch nicht korrekter Ton in der Formulierung eines Antrages zu einer Ablehnung führen.

In einem Fach wie Geschichte mag das Diskussionsklima einstweilen noch liberaler sein, aber Protagonisten postkolonialer Ansätze, denen es darum geht, vor allem als Ankläger der westlichen Welt und ihrer Untaten aufzutreten, und die etwa den Holocaust primär als natürliche Konsequenz der Kolonialpolitik sehen, die vor 1914 betrieben wurde, wie der Hamburger Lehrstuhlinhaber Jürgen Zimmerer, werfen ihren Gegnern dann schon gern einmal in denunziatorischem Ton vor, in einer »eurozentrischen Blase« zu leben, um ihre Argumente beiseite zu fegen.

Solche Angriffe dürften nur ein Vorspiel zu dem darstellen, was uns noch erwartet. Wir werden uns darauf einzustellen haben, dass jeder, der etwa als Historiker das Prinzip in Frage zu stellen wagt, dass alle Kulturen im Kern mindestens gleichwertig sind, wenn nicht sogar der Westen wegen seiner aggressiven Neigungen in der Vergangenheit durchweg als besonders »böse« zu gelten habe, unter Druck geraten wird.

In den USA, die hier die Richtung zeigen, in die wir uns bewegen, werden zum Beispiel die Klassischen Altertumswissenschaften zunehmend zum Ziel einer scharfen politischen Kritik. Ihnen wird vorgeworfen, nicht mehr als ein intellektuelles Arsenal zu sein, aus dem sich die Verteidiger einer angeblichen Überlegenheit der weißen Rasse nach Belieben bedienen können. Es ist durchaus damit zu rechnen, dass solche Debatten auch auf Kontinentaleuropa übergreifen, soweit das noch nicht geschehen ist, denn die Tendenz, gerade im universitären Milieu Europas die Kultur der amerikanischen »wokerati« zu übernehmen, ist ungebrochen.

Nun ist den Kritikern des westlichen Überlegenheitsanspruches freilich zuzustimmen, dass dieser in der Vergangenheit oft in heuchlerischer Weise instrumentalisiert wurde. Auf literarischer Ebene hat niemand das besser dargestellt als Joseph Conrad in seiner Novelle Heart of Darkness, die sich mit den Kongo-Greueln auseinandersetzt. Ohnehin muss man sich davor hüten, im Sinne einer »Whig-Interpretation of History« die historische Entwicklung des Westens als triumphale Geschichte eines immerwährenden Fortschritts hin zu Freiheit, Wohlstand und Rationalität zu betrachten. Das wäre absurd, denn allzu ambivalent ist das, was wir gemeinhin Fortschritt nennen, oft in seinen Auswirkungen.

Säkularismus und Wertegemeinschaft
Das Ringen um die Trennung von Macht und Moral
Schon der große Historiker Jacob Burckhardt merkte in einer seiner Vorlesungen an, es sei falsch, das Mittelalter – mit dem er selbst freilich sehr viel weniger anfangen konnte als mit der Renaissance – nur als eine Epoche der Rückständigkeit zu begreifen, in der sich die Anlagen des Menschen nicht wirklich hätten entfalten können. Keineswegs habe der mittelalterliche Mensch selbst das Bestreben gehabt, aus dieser Epoche »als einem dunkeln, unglücklichen Zustande herauszukommen«. Das Mittelalter sei vielmehr »eine Zeit der heilsamen Zögerung« gewesen und wenn es die »Erdoberfläche ausgenutzt« hätte wie spätere Generationen, »so wären wir vielleicht gar nicht mehr vorhanden.« Diese Bemerkung von Burckhardt mutet angesichts der heutigen ökologischen Probleme, mit denen wir in massiver Weise in Form der Erderwärmung konfrontiert sind, geradezu prophetisch an.
Ein Sonderweg Europas?

Ein Blick auf die Errungenschaften Europas und des Westens seit der Renaissance sollte daher stets selbstkritisch bleiben. Aber es ist Eines zu erkennen, dass das Mehr an Wohlstand, individueller Freiheit und wissenschaftlicher Erkenntnis, das uns die vergangenen Jahrhunderte sicher per saldo trotz aller Rückschläge gebracht haben, auch ihren Preis haben, und ein Anderes zu leugnen, dass Errungenschaften wie der moderne Verfassungsstaat mit seinen individuellen Freiheitsrechten und seiner demokratischen Partizipation auf kulturellen Fundamenten ruhen, die erstmals im Westen konsequent ausgebildet wurden.

Das heißt natürlich in keiner Weise, dass nicht-westliche Länder diese Modelle nicht erfolgreich übernehmen, adaptieren und weiterentwickeln können, am Ende vielleicht sogar in einer Weise, dass sie in manchen Bereichen den Ländern, aus denen diese Modelle stammen, überlegen sind. Aber ganz ohne Bezug auf das ursprüngliche westliche Modell kommen sie eben doch nicht aus, oder wie es der amerikanische Historiker Antony Pagden mit Blick auf die Geschichte der Menschenrechte formuliert hat: »Die Geschichte der Menschenrechte kann uns vor Augen führen, dass wir, wenn wir uns zu universalen Werten bekennen wollen, nicht umhin kommen, zunächst zumindest einige der Werte eines ganz spezifischen Lebensentwurfes und einer spezifischen Kultur anzunehmen und zu verteidigen.«

Die Frage stellt sich freilich, was den relativen Sonderweg des Westens, auf dem die Moderne beruht, begründet hat. Dieses Problem kann hier natürlich schon aus Raumgründen nur sehr essayistisch und rein eklektizistisch erörtert werden. Es soll im Folgenden weniger darum gehen, systematisch die Sonderstellung des Westens, der aus der lateinischen Christenheit des Mittelalters hervorging, zu begründen, sondern eher darum zu zeigen, dass eine – natürlich ergebnisoffene – Debatte über eine solche Sonderstellung weiterhin legitim und sogar politisch wichtig ist, wenn wir dem radikalen Kulturrelativismus, der uns heute bedroht, entgegentreten wollen.

Eine unverzichtbare Streitschrift
Wie der Westen im Zeitalter der Unvernunft bestehen kann
In dieser Diskussion muss sich der Blick in besonderer Weise auf die Frühe Neuzeit richten, denn es wäre recht schwierig, für ältere Epochen von einer grundsätzlichen Überlegenheit des Westens auszugehen. Das gilt für die wirtschaftliche Leistungskraft – hier geht ein Großteil der neueren Forschung ohnehin davon aus, dass Europa erst im späten 18. Jahrhundert die Kerngebiete des chinesischen Kaiserreiches an Produktionskraft übertraf – ebenso wie für das Niveau wissenschaftlicher und intellektueller Auseinandersetzungen und der allgemeinen Bildung.

Damit soll natürlich nicht geleugnet werden, dass wichtige Fundamente für die spätere Sonderentwicklung Europas schon im Mittelalter gelegt wurden. Hier wäre etwa auf das Konkurrenzverhältnis zwischen weltlicher und geistlicher Obrigkeit zu verweisen, das in dieser scharfen Ausprägung – mit dem Papst als Herrscher über die Kirche und als Rivale nicht nur der Kaiser, sondern auch der einzelnen Könige und Fürsten – so nicht leicht in anderen Kulturen zu finden ist.

Natürlich waren auch in Europa weltliche und religiöse Ordnung auf das Engste miteinander verbunden, aber wichtig bleibt doch, dass weltliche und kirchliche Gerichte, weltliches und kirchliches Recht miteinander konkurrierten, wobei das gelehrte weltliche Recht, das auf dem Corpus Iuris Civile beruhte, seinen Ursprung sogar in der heidnischen Antike hatte, also mit einem Wertesystem verbunden war, das nicht das des Christentums war. Überhaupt ist die durchgehende Orientierung der lateinischen Christenheit und auch noch des frühneuzeitlichen Europas an einer älteren Kultur, die sich von der eigenen unterschied, wohl ein Spezifikum unserer Tradition.

Sicher wurde das Erbe der Antike auch in der arabischen Welt rezipiert und in der Philosophie und Wissenschaft sogar lange Zeit deutlich intensiver, aber für Europa galt die Antike in Dichtung und Literatur, aber auch in ihren Bildungsmodellen und tendenziell auch im gelehrten Recht durchgehend als Maßstäbe setzendes, schwer erreichbares und kaum je zu übertreffendes Vorbild, auch schon vor der Renaissance, obwohl sie gleichzeitig durchaus als fremde Kultur gesehen wurde. (…)

Ein wichtiger Faktor war überdies die relative Fragmentierung Europas – im Sinne des Gebietes der westlichen Christenheit – schon im späten Mittelalter, wenn nicht schon nach dem Zerfall des Karolingerreiches. Das war in vieler Hinsicht auch eine Schwäche, wenn man Europa mit Großreichen wie China oder dem Reich der Osmanen vergleicht, aber diese Zersplitterung erschwerte es der Kirche gleichermaßen wie den weltlichen Obrigkeiten, »systemgefährdende« Innovationen zu verhindern oder zu verbieten.

Im Osmanischen Reich wurde der Buchdruck (jedenfalls die Publikation von Büchern in arabischer Schrift, die sich an muslimische Leser wandten) im frühen 16. Jahrhundert durchaus erfolgreich verboten, sicher auch, um das Wissensmonopol der Korangelehrten, der ulema, zu verteidigen, auch wenn eine politisch korrekte Interpretation das gerne bestreitet und versucht, harmlosere Gründe für dieses Verbot wie den Schutz des Gewerbes der Kalligraphen anzuführen. Auch wenn das Verbot im 18. Jahrhundert gelockert wurde, wurde vor dem frühen 19. Jahrhundert nur eine vergleichsweise geringe Zahl von Büchern im Herrschaftsgebiet der Osmanen gedruckt. Es hätte sicherlich auch in Europa Kräfte gegeben, die ein solches Verbot versucht hätten durchzusetzen, wenn sich eine Chance dafür geboten hätte, aber das wäre angesichts der vielen konkurrierenden Herrschaftsinstanzen aussichtslos gewesen.

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Die mangelnde territoriale Einheit Europas war aber noch in anderer Hinsicht bedeutsam. Aus ihr erwuchsen zumindest in West- und Mitteleuropa die Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts, auch wenn diese Entwicklung nicht immer gradlinig war. Der englische Philosoph Roger Scruton, der nicht zuletzt wegen seiner mutigen Verteidigung europäischer kultureller Traditionen wiederholt, zuletzt kurz vor seinem Tode, Ziel diffamierender Angriffe war, hat betont, dass die Identifikation mit der Nation als primär territorialer Einheit die Bindung an ältere vorstaatliche Solidargemeinschaften wie die Familie, die Konfessionsgemeinschaft oder auch an kleinere ethnische Gruppen relativierte und in den Hintergrund treten ließ: »Loyalität gegenüber einer Nation verdrängt andere Loyalitäten, etwa gegenüber der Familie, dem Stamm und der Glaubensgemeinschaft und fokussiert in den Augen der Bürger patriotische Gefühle nicht auf eine Person oder Gruppe, sondern ein Land.«

Damit erlaubte der Nationalstaat auch die Entwicklung einer politischen Ordnung, die keiner religiösen Legitimation mehr bedurfte. Dort, wo der Nationalstaat fragil bleibt oder fehlt, lassen sich Religion und Politik weniger leicht trennen, wie noch heute in der islamischen Welt. Diese Wirkung nationaler Identitätszuschreibungen setzt allerdings voraus, dass das Territorium, das einer Nation zugeordnet werden kann, klare Grenzen hat, was für England, die Nation, auf die Scruton in besonderer Weise blickt, schon frühzeitig galt, für andere europäische Nationen, etwa in Ostmitteleuropa sehr viel weniger.

Heute freilich, in einer Zeit, in der alle nationalen Grenzen relativiert werden, drohen neue Gefahren, denn, »wenn man Grenzen gänzlich aufhebt, dann beginnen sich die Menschen nicht mit Bezug auf ein Territorium und eine Rechtsordnung eine Identität zuzuschreiben, sondern gemäß ihrer Zugehörigkeit zu einem Stamm, einer Rasse oder einer Religionsgemeinschaft«.

Ronald G. Asch, Eurozentrismus als Ursünde des Westens? Der mögliche Sonderweg Europas in der globalen Geschichte aus der Sicht der frühen Neuzeit.

Leicht gekürzter und um die im Buch enthaltenen Anmerkungen und Quellenangaben bereinigter Auszug aus: Schulze-Eisentraut/Ulfig, Angriff auf die Wissenschaftsfreiheit. Wie die Cancel Culture den Fortschritt bedroht und was wir alle für eine freie Debattenkultur tun können. FBV, Hardcover, 256 Seiten, 25,00€.


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