Tichys Einblick
Mit der Mistgabel im rot-rot-grünen Labor

„Aus sozialistischer Sicht ist Berlin eine Erfolgsgeschichte“

Der Berliner Abgeordnete Marcel Luthe beschreibt in „Sanierungsfall Berlin“ die Berliner Koalition aus miserabler Verwaltung, Linksextremismus und organisierter Kriminalität

Muckraker, Mistkratzer, frei übersetzt: Dreckschaufler – so nannten sich investigative Journalisten und Autoren in den USA lange selbst, abgeleitet von „the man with the muckrake“, dem Mistgabelmann aus dem Roman „The Pilgrim’s Progress“ des britischen Schriftstellers John Bunyan. Ihrem Selbstverständnis nach erledigten sie keine angenehme, aber eine notwendige Dauerarbeit, indem sie den Dreck beiseite schaufelten und zum Missfallen von Politikern und Unternehmer in unappetitlichen Dingen wühlten. In einem großen Teil der amerikanischen Medien steht diese Technik nicht mehr hoch im Kurs. In Deutschland gehörte sie noch nie zum Kernbestand der Branche.

Mit der Bezeichnung Muckraker hätte der Berliner Abgeordnete Marcel Luthe vermutlich kein Problem. Er begreift sich als ein Vertreter dieser Spezies, die dort wühlen, wo es viele andere lieber nicht tun. Diese Tätigkeit und ihre Resultate beschreibt er nun in seinem Buch “Sanierungsfall Berlin. Unsere Hauptstadt zwischen Missmanagement und organisierter Kriminalität“ auf fast 300 Seiten. Ein bemerkenswerter Satz in Luthes Buch findet sich schon auf der ersten Seite, und eigentlich hätte er auf das Cover gehört: „Aus sozialistischer Sicht ist Berlin eine Erfolgsgeschichte.“

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Im Jahr 2016 wurde der Unternehmer für die FDP ins Berliner Abgeordnetenhaus gewählt. Er machte sich schnell einen Namen wegen seiner Anfragen, mit denen er der Regierung zusetzte. Weil sich seine Vorstellung von Oppositionspolitik von der seiner Fraktionsführung unterschied, verließ er 2020 die FDP, um als Einzelabgeordneter weiterzumachen. Zu den Abgeordnetenhauswahlen im September tritt Luthe als Spitzenkandidat der Freien Wähler an. Vermutlich wäre sein Buch auch ohne diesen Parteiwechsel entstanden. Aus seinen kleinen Anfragen samt Antworten, seinen Reden und Erfahrungen als Abgeordneter fügte sich in den vergangenen Jahren mehr oder weniger ein Gesamtbild der Hauptstadtpolitik zusammen.

Dieses Panorama besteht aus zwei Arten von Einzelbildern: Zum einen den in Berlin und darüber hinaus bekannten Einzelskandalen, etwa die chaotische, teure und für einige wenige sehr profitable Beschaffung von Corona-Schutzmasken durch das Land Berlin, oder der berlinspezifische Einfluss von früheren Staatsicherheits- und SED-Kadern auf die Landespolitik. Daneben stehen die Daueraffären, mit denen sich die meisten Einwohner des Hauptstadt-Bundeslands mehr oder weniger abfinden, weil den Skandalen der erkennbare Anfang genauso fehlt wie ein absehbares Ende: Ob nun die miserable Ausstattung von Justiz und Polizei, das verschlissene, legendär schlechte staatliche Schulnetz, die Duldung von Zonen in der Stadt, in der bestimmte Gruppen ihre Regeln selbst gestalten, ob in der Rigaer Straße 94 oder in Clan-Gebieten. Wie hängt das alles miteinander zusammen? Hauptsächlich dadurch, dass der rot-rot-grüne Senat davon entweder nichts wissen will, sich nicht zuständig fühlt oder – auch dazu führt Luthe etliche Beispiele auf – Informationen systematisch unterdrückt.

Ganz nebenbei erzählt „Sanierungsfall Berlin“ auch von den Möglichkeiten eines einzelnen Parlamentsabgeordneten. Ihm stehen, wie Luthe aufzählt, etliche Instrumente zur Verfügung, Akteneinsicht, parlamentarische Anfrage, Klage, falls die Verwaltung nicht antworten will. „Es ist unsere Aufgabe als Abgeordnete, so viele Informationen wie möglich zu gewinnen – und diese mit dem Souverän, dem Bürger zu teilen“, schreibt der Politiker. Seine Bekanntheit in Berlin verdankt er vor allem der Tatsache, dass kein anderes Mitglied des Abgeordnetenhauses in der fast abgelaufenen Wahlperiode so viele Anfragen stellte wie er. Woraus umgekehrt auch folgt: nicht jeder ist so neugierig. Geteiltes Wissen kann sich in eine gewisse politische Macht verwandeln. Sie reicht nicht so weit, um die Zustände zu beenden. Aber vieles wäre ohne Luthes Grabungsarbeiten im Berliner Grund gar nicht erst bekannt geworden.

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Er zeichnet beispielsweise in einem Kapitel die Geschichte des früheren Staatssekretärs in der Senatsverwaltung für Bau und Wohnen Andrej Holm nach, der erst nach vielen Winkelzügen und Ausreden wegen seiner zunächst vertuschten Vergangenheit als Offiziersschüler der Staatssicherheit zurücktrat. Luthe legte damit auch einen Fall eine Etage darunter frei: In der sozialistischen „Initiative Deutsche Wohnen & Co enteignen“, die wiederum in einem dank grüner Hilfe steuerzahlerfinanzierten Stadtteilbüro in Friedrichshain residierte, gehörte der frühere Major der Staatssicherheit Klaus-Peter Meinel zu den führenden Köpfen, ehemals Leiter der Abteilung „spezifische Kampfkräfte“ des MfS.

Keine Antwort bekam Luthe bisher auf seine Frage an Innensenator Andreas Geisel von der SPD nach dessen früheren Stasi-Kontakten. Er lässt sie bis heute unbeantwortet; bekannt ist nur, dass nicht alle Mitglieder der Berliner Senatoren- und Staatssekretärsriege auf MfS-Vergangenheit überprüft wurden – obwohl das Abgeordnetenhaus eine obligatorische Durchleuchtung beschlossen hatte.

Im Kapitel zur desorganisierten und unterfinanzierten Justiz erfährt der Leser, dass in der Hauptstadt bis zu drei Jahre vergehen können, bis ein verurteilter Täter seine Haftstrafe antreten muss, und dass sich ein Zivilprozess schon einmal über 18 Jahre hinziehen kann.

Gut organisiert zeigt sich dagegen die Kriminalität der Stadt. Der neugierige Abgeordnete und Buchautor demontiert die Strategie von Innensenator Geisel, die Clan-Wirtschaft vor allem durch Razzien in Shisha-Bars zu bekämpfen, um das Material für entsprechende Pressemitteilungen zu organisieren. Der Ertrag des amtlichen Aktionismus besteht dann beispielsweise in der Sicherstellung von 400 Gramm unverzolltem Tabak oder einer unkorrekt ausgepreisten Getränkedose. Mit Schlägen dieser Sorte können die Vertreter verschiedener Familien und Gruppen ganz passabel leben.

Einen ebenfalls hoch interessanten Abschnitt widmet der Autor einem anderen wenig beleuchteten Teil der Wirtschaft – der Preistreiberei auf dem Wohnungsmarkt, die der Mietendeckel-Senat selbst verursacht. Luthe rechnet an Beispielen vor, wie das Land Berlin nach 2015 Asylbewerberquartiere finanzierte, bei denen es sich in Wirklichkeit mitunter um Wohnungen von nur etwas über 40 Quadratmeter und sieben Betten handelte. Durch den Finanzierungssatz des Senats kam der Vermieter auf einen Quadratmeterpreis von 135 Euro. Grundsätzlich gilt in Berlin wie eigentlich überall: Steuergeld ist nie weg. Es landet nur woanders. Nur liegt das transferierte Volumen – per Länderfinanzausgleich überhaupt erst aus dem Süden herbeitransferiert – an der Spree auffällig hoch.

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Ein eigenes Kapitel bildet der Anschlag auf dem Breitscheidplatz im Dezember, den der Täter Anis Amri unter den Augen der Sicherheitsbehörden vorbereiten konnte. Luthe saß im Untersuchungsausschuss – und listet in seinem Buch eine lange Reihe bis heute ungeklärter Fragen auf.

Berlin mit seinem rot-rot-grünen Senat, meinte einmal eine ARD-Tagesthemen-Kommentatorin, sei ein „Experimentierlabor“. Ganz unmöglich scheint es nicht, dass die Hauptstadt-Regierungskoalition ab Herbst auch im großen Berlin zusammenfindet. Wer sich ein Bild davon verschaffen möchte, wie es in dem Labor zugeht, der findet bei Luthe reichlich Material.

„Sanierungsfall Berlin“ zeigt, dass die Inkompetenz der politisch Verantwortlichen in Berlin als Erklärung nicht ausreicht. Es kommt vieles zusammen: die spezielle Wurstigkeit dieser Stadt, die Fusion von west- und DDR-sozialisierten Linken, auch die Strebsamkeit und Effizienz von Beutegemeinschaften, ob nun in der Rigaer Straße 94, in Clangebieten oder auf dem Immobilienmarkt. Auf der anderen Seite gibt es einen Gewöhnungseffekt: Die Einzel- und Dauerskandale Berlins erzeugen einen Geräuschteppich, den die meisten Bürger inzwischen für den natürlichen Sound dieser Stadt halten.

Das liegt auch nicht zuletzt daran, dass es in der Stadt trotz des erheblichen Bedarfs nur sehr wenige professionelle Dreckkratzer wie Luthe gibt. Im Politikbetrieb wirkt er damit exotisch. Auch in den Medien hantiert nur eine Minderheit der Journalisten mit der Mistforke.  Etwa der Journalist Gunnar Schupelius von der B.Z., den Luthe erwähnt. Im Jahr 2014 brannte dessen Auto, am 31. Dezember 2019 das nächste. Linksradikale schickten ein Bekennerschreiben, veröffentlichten die Privatadresse des Journalisten, und empfahlen ihm „dringend den Job zu wechseln“. Marcel Luthe zitiert auch den Kommentar von Innensenator Geisel dazu: „Bei Autobränden muss man vorsichtig sein mit zu schnellen Bewertungen.“

In einer Abgeordnetenhaus-Debatte über politischen Extremismus meinte Geisel: „Wer austeilt, muss auch einstecken können.“

Marcel Luthe, Sanierungsfall Berlin. Unsere Hauptstadt zwischen Missmanagement und organisierter Kriminalität. FBV, 304 Seiten, 19,99 €


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