Tichys Einblick
Grünenpolitikerin Julia Willie Hamburg

Eine Radfahrerin für den VW-Aufsichtsrat

Niedersachsens grüne Kultusministerin Julia Willie Hamburg sitzt künftig für das Land Niedersachsen im Aufsichtsrat von VW. Sie hat keine erkennbare Qualifikation dazu – und fährt nicht einmal Auto. Bislang war der Wirtschaftsminister in das Konzerngremium entsandt worden.

Julia Willie Hamburg

IMAGO / Sven Simon

Die Volkswagen AG ist immer für eine Schlagzeile gut. Kaum ist die öffentliche Aufregung über den Rauswurf von Herbert Diess und den Ersatz durch Porsche-Chef Oliver Blume abgeebbt und der anschließende Porsche Börsengang durch den Neu-Vorsitzenden Blume glänzend abgewickelt, schon rauscht es erneut im Blätterwald: Die Grünen-Politikerin Julia Willie Hamburg – 36, Jahre, Politik- und Philosophie-Studium abgebrochen – sitzt künftig für das Land Niedersachsen im Aufsichtsrat von VW.

Bild schreibt dazu: „Sie hat kein Auto, ist bekennende Radfahrerin und Autobahn-Feindin. Nun wird sie für das Land Niedersachsen die erste Autogegnerin im Kontroll-Gremium des Traditionsunternehmens.“ Sic! 

Unerwähnt blieb dabei, dass Julia Hamburg auch noch Fan des FC St. Pauli ist, zwar Hamburg heißt aber aus Hannover stammt, und zwei Kinder und einen Lebensgefährten hat. Den Zweitnamen „Willie“ bekam sie, weil ihre Eltern während der Schwangerschaft den Bauch liebevoll „Willi“ nannten. „Als sie herausfanden, dass es für diesen Namen auch mit „Willie” eine weibliche Form gab, ist er nach meiner Geburt dauerhaft geblieben,“ (O-Ton Julia Willie Hamburg). 

Und unerwähnt blieb auch, dass der Aufsichtsrat der Volkswagen AG, entsprechend dem deutschen Mitbestimmungsgesetz, 20 Mitglieder umfasst, darunter auch zwei Anteilseigner aus dem Wüstenstaat Katar, der als Austragungsort der Fußball-WM wegen Menschenrechtsverletzungen gerade in der öffentlichen Kritik steht.

Die ersten Kommentare aus der Wirtschaft zu der Berufung von Julia Hamburg als VW-Aufsichtsrat: „Sie hat kein Auto. Nur Fahrrad und sonst auch keine Ahnung…“ Und: „An ihrer Kompetenz dürfte es kaum liegen…“

Ja woran denn sonst? 

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Am 9. Oktober 2022 wurde in Niedersachsen ein neuer Landtag gewählt. Die Grünen mit dem Spitzenduo Christian Meyer und Julia Hamburg haben ihr Ergebnis im Vergleich zur Wahl 2017 fast verdoppelt, die neue Regierung steht, Stephan Weil hat seine dritte Amtszeit bekommen. Die Grünen-Vorsitzende Julia Willie Hamburg, geboren in Hannover, zieht in die Regierung Weil ein, wird Kultusministerin und stellvertretende Ministerpräsidentin. Und in den Aufsichtsrat von Volkswagen geht sie als Vertreter des Anteilseigners Niedersachsens, also aus politischen Gründen, nicht wegen wirtschaftlicher Sachkompetenz.

Bleibt man sachlich, knüpfen sich an diesen Vorgang drei grundsätzliche Fragen:

  1. Soll die das? Was sind die Aufgaben eines Aufsichtsrates in einer AG?
  2. Kann die das? Wie steht’s um die Qualifikation von Aufsichtsräten? Welche persönlichen und fachlichen Qualifikationen zeichnen ein gutes Aufsichtsratsmitglied aus? Was bringt Frau Wille mit?
  3. Bringt das VW was? Kann das VW Aufsichtsgremium in seiner künftigen Zusammensetzung einen Aufgaben überhaupt beziehungsweise besser gerecht werden. 

Eine Bestandsaufnahme in der Privatwirtschaft legt nahe, dass die Anforderungen und Erwartungen an Aufsichtsräte und ihre Tätigkeit in der Wirtschaft erheblich  größer geworden sind. 

Ursache dafür waren und sind konkrete Missstände in Leuchtturm-Unternehmen der Industrie, vor allem Autoindustrie, etwa im Falle von für die Öffentlichkeit unerwarteten existenzgefährdenden Verlusten oder Korruptionsvorgängen, bei denen nicht zuletzt ein Versagen der Aufsichtsräte als eine der wesentlichen Ursachen bemängelt wird. Im Einzelnen wurden etwa mangelnde Sorgfalt bei der Ausübung der Überwachungstätigkeit, zu geringes Engagement vor allem solcher Aufsichtsratsmitglieder, die über zahlreiche andere Mandate verfügen und zeitintensive Tätigkeiten ausüben, fehlende Sachkenntnis hinsichtlich Unternehmenstätigkeit und -vorgängen bemängelt. Vor allem wurde und wird immer wieder eine zu geringe Distanz zu den verantwortlichen Vorständen kritisiert. 

Diese kritischen Erkenntnisse haben dazu geführt, dass intensiv über Standards „guter Unternehmensführung“ – Corporate Governance – nachgedacht wurde. Das Ergebnis der Denkarbeit war die Tätigkeit der Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex, nach ihrem Vorsitzenden auch „Cromme Kommission“ genannt, die 2002 erstmals den gleichnamigen Kodex für die AGs vorlegte.

Einzelnen Konzerne, so auch Daimler und Volkswagen, richteten später nach erheblichen Verstößen gegen diese Verhaltensregeln eigene Vorstandsressorts für diese Kontroll-Funktionen ein. Im Nachhinein wohl eher als Ausweis guter PR-Arbeit denn einer effiktiven Kontrolle zu bewerten. Zumindest schieden die Kontrolleure* nach kurzer Verweildauer immer hochdekoriert aus ihren Ämtern aus.  

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Hinsichtlich der Qualifikation von Aufsichtsratsmitgliedern wird im Cromme Kodex  empfohlen, dass dem Aufsichtsrat „jederzeit Mitglieder angehören, die über die zur ordnungsgemäßen Wahrnehmung der Aufgaben erforderlichen Kenntnisse, Fähigkeiten und fachlichen Erfahrungen verfügen. Dabei sollen die internationale Tätigkeit des Unternehmens, potenzielle Interessenkonflikte und eine festzulegende Altersgrenze für Aufsichtsratsmitglieder berücksichtigt werden.“ (Deutscher Corporate Governance Kodex i.d. F.v. 14. Juni 2007, Abschnitt 5.4.1). 

Im Weiteren wird gefordert, dass dem Aufsichtsrat eine „nach seiner Einschätzung ausreichende Anzahl unabhängiger Mitglieder angehören (soll)“ (Abschnitt 5.4.2). Unabhängigkeit wird vom Kodex u.a. dadurch definiert, dass keine geschäftlichen oder persönlichen Beziehungen zum Unternehmen oder dessen Vorstand bestehen sollen, aber auch nicht Tätigkeiten bei oder für wesentliche Wettbewerber. Von Politik ist keine Rede.

In Ausfüllung der Anforderungen des Deutschen Corporate Governance Kodex haben von Werder und Wieczorek zehn Thesen zur Qualifikation von Aufsichtsratsmitgliedern vorgelegt (vgl. Axel v. Werder/Bernd J. Wieczorek: Anforderungen an Aufsichtsratsmitglieder und ihre Nominierung, in: Der Betrieb v. 9. Februar 2007, S. 297–303). Demnach ist es nicht erforderlich, dass das einzelne Aufsichtsratsmitglied alle Kenntnisse und Fähigkeiten auf sich vereint, die für die Erfüllung seiner Aufgaben notwendig sind. Vielmehr sollte die Zusammensetzung des Gremiums insgesamt sicherstellen, dass alle notwendigen Qualifikationen vorhanden sind. Das Qualifikationsprofil für den Aufsichtsrat als Ganzes könne nicht generell, sondern nur für ein einzelnes Unternehmen und seine spezifische Situation entwickelt werden. 

Hinsichtlich der individuellen Anforderungen gelten bei speziellen Aufgaben, etwa Mitgliedschaft im Prüfungsausschuss, besondere Anforderungen. Von Werder/Wieczorek verlangen jedoch von jedem Aufsichtsratsmitglied „professionelle Sachkompetenzen und Lösungsorientierung sowie Strategie und Veränderungskompetenzen“. Dabei sollte jedes Mitglied des Aufsichtsrates für mindestens einen Bereich besonders kompetent sein, etwa für den Bereich Finanzen oder die Produkte und Märkte des Unternehmens. 

Die Strategiekompetenz soll die Aufsichtsratsmitglieder in die Lage versetzen, die strategischen Konzepte des Vorstandes verstehen und hinterfragen zu können. Dagegen bedeutet Veränderungskompetenz die Fähigkeit, „kreativ und unkonventionell“ zu denken und vorgeschlagene Lösungswege in Frage zu stellen. Darüber hinaus müssten sie über „governance-spezifische Qualifikationen“ verfügen, wobei ein proaktiver Umgang mit der vorgegebenen Rolle in der „Gewaltenteilung“ der Unternehmensverfassung erwartet wird. 

Aufsichtsräte sollten mithin die Kontrollansprüche der Anteilseigner wahrnehmen, auf der anderen Seite aber auch den Vorstand beraten können. So wird es auch als Kompetenzanforderung an Aufsichtsräte gesehen, unterschiedliche Interessenlagen von Anspruchsgruppen innerhalb und außerhalb des Unternehmens („Stakeholder“) miteinander in Einklang bringen zu können. 

Legt man diesen Anforderungskatalog in Summe der Besetzung der heutigen Aufsichtsräte in der deutschen Wirtschaft zugrunde, würden sich daraus zwangsläufig viele Vakanzen ergeben. 

Im konkreten Fall der Besetzung des VW-Aufsichtsgremiums durch die grüne Spitzenpolitikerin Julia Willie Hamburg kann man aufgrund des vorliegenden Profils zu folgender Bewertung kommen:

  1. Julia Willie Hamburg bringt für die Kontroll- und Beratungstätigkeit als Aufsichtsrat des VW-Konzerns keinerlei fachliche und akademischen Voraussetzungen mit, die sich aus ihrem bisherigen Berufsweg ableiten ließen. Eine strategische Beratung im Automobilgeschäft ist kaum zu erwarten. 
  2. Strategiekompetenz ist nicht zu erwarten, Veränderungskompetenz dagegen schon.
  3. Julia Willie Hamburg nimmt im VW-AR ausschließlich eine politische Funktion wahr keine betriebswirtschaftliche. Sie hat die öffentlichen, nicht privatwirtschaftlichen Interessen des Landes Niedersachen als Kapitaleigner zu vertreten. Dies betrifft insbesondere die regionalen Investitions-Strategien des VW-Konzerns sowie die Sicherung der Beschäftigung und der Arbeitsplätze im VW-Konzern, Schwerpunkt Niedersachen.
  4. So sehr Julia Willie Hamburg aus rein betriebswirtschaftlicher Sicht aufgrund ihres beruflichen Werdegangs eine AR-Fehlbesetzung wäre, so nachhaltig könnte sie ihre AR-Tätigkeit für das Land Niedersachen als Polit-Profi einsetzen. Und ähnlich wie Grünen Chef Robert Habeck im Wirtschaftsministerium könnte sie den VW-Aufsichtsrat als Lernstatt nutzen, ihre bisherigen politischen Ziele und Überzeugungen an der Durchsetzbarkeit in der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Realität zu messen. Und zu justieren! 

decarbonize vs. urinate
Wissenschaftler-Rebellen kleben sich bei VW fest – mit allzu menschlichen Problemen
Aufgrund der Verantwortung jedes einzelnen Aufsichtsrates für das wirtschaftliche Wohlergeben und die Prosperität von Stakeholdern wie von Shareholdern gleichermaßen – das Eine funktioniert nicht ohne das Andere – erwachsen aus der AR-Tätigkeit von Julia Hamburg auch große Chancen. Nämlich die Chance des Lernens, grüne Illusionen und Wunschvorstellen im Verein mit 19 andere AR-Mitgliedern auf das wirtschaftlich Sinnvolle und Machbare zu diskontieren. 

Mit anderen Worten, die Wirtschaft sollte sich nicht immer über politische und fachliche Außenseiter in Aufsichtsräten und Kontrollgremien beklagen, sondern das als learning by doing verstehen. Wenn schon die Wirtschaftsbosse nicht in die Politik gehen, sollte man den Politik-Bossen den Einzug in die Wirtschaft nicht verwehren. Sondern ihn fördern…

Die Gefahr, dass VW künftig Fahrräder statt Verbrennerautos produziert, ist jedenfalls vergleichsweise gering. 

Jedenfalls kann man sich auf diese Weise eine Entscheidung schönreden, die die mühsam errungenen Regelungen der Qualifizierung von Aufsichtsräten kaputt macht. Den Schaden der Lernkurve wird VW tragen müssen – und viele andere Unternehmen. Denn nichts steht mehr der Rückabwicklung strenger Regelungen der Corporate Governance im Wege. Was gut ist für den halbstaatlichen VW-Konzern muss auch für andere Unternehmen gut sein: Inkompetenz im Aufsichtsrat und Unternehmen, die aus Fehlern bitter werden lernen müssen.

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