Tichys Einblick
Ansprache zum Holocaust-Gedenktag

Steinmeier und sein Kunststück des Beschweigens

Frank-Walter Steinmeiers Ansprache zum Holocaust-Gedenktag ist eine sprachliche Qual. Aber seine Meisterschaft im kommunikativen Beschweigen der Gegenwart ist beachtlich.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier

IMAGO / photothek

Die eigene Gedankenlosigkeit in angemessene Worte zu fassen: Das ist und bleibt die vornehmste Aufgabe des Bundespräsidenten. Frank-Walter Steinmeier entledigt sich dieser Pflicht auch zum Shoa-Gedenktag so, wie sein Publikum draußen an den Laptopmonitoren es erwarten darf. Wobei der 27. Januar, der Tag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz, jedes Jahr aufs Neue das darstellt, was Politiker gern Herausforderung nennen. Die Rede des Staatsoberhaupts zum Gedenktag muss gravitätisch daherkommen, unbeholfen und frei von intellektuellem Glanz, dabei unbedingt die wichtigsten Regeln des kommunikativen Beschweigens einhalten, kurzum, sie ähnelt dem Kunststück, einen Medizinball so auf dem präsidialen Schreibtisch zu platzieren, dass er nicht herunterfällt. Mit Hilfe des Bundespräsidialamts bewältigte Steinmeier diese Jonglage auch am  27. Januar 2021 souverän.

Die Exegese seines Redetextes geht flott; zum Glück umfasst seine Ansprache nur 1 610 Zeichen (inklusive Leerzeichen). Die Gedenkrede beginnt mit der bei Politikern und Organisationen beliebten elliptischen Form, die früher fast ausschließlich in der Werbewelt vorkam („Aus Erfahrung gut“). Heute finden sich diese subjektlosen Satzstümpfe vorzugsweise als Überschriften über Regierungspapieren oder eben am Anfang einer Steinmeierschen Rede, und zwar nicht nur in Schriftform, sondern auch als gesprochenes Wort: 

„Aus der Vergangenheit lernen. Die Zukunft schützen.“ 

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In diesem Fall handelt es sich tatsächlich um einen Slogan, den sich eine Agentur ausgedacht hat: „Learn form The Past. Protect The Future“, und der in Berlin zum Holocaust-Gedenktag völlig kontextlos plakatiert wurde. Erfolgreich waren und sind  Sätze dieser Sorte in der Werbung deshalb, weil sie vage appellativ wirken, sich aber an niemanden konkret richten. Jeder kann sich angesprochen fühlen, muss es aber nicht. Wie die Zukunft, also das, was noch eintritt, heute geschützt werden kann, erschließt sich aus Steinmeiers Rede nicht. Es bleibt, wie sich zeigt, auch nicht seine einzige Konfusion der Zeitebenen. 

„Deutschland will diesem Anspruch gerecht werden“, heißt es dort weiter: „Wir wollen nicht vergessen, was geschehen ist. Und wir werden nicht vergessen, was geschehen kann.“ Was geschehen ist, unterscheidet er richtigerweise von dem, was geschehen kann, was also im Hypothetischen liegt. Allerdings: Wie kann man heute schon vergessen, was sich erst in der Zukunft ereignen könnte? 

„Deswegen liegt mir auch in diesem Jahr daran, mit der Gedenkveranstaltung des World Jewish Congress und des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau an die Opfer der Shoah zu erinnern“, erklärt der Bundespräsident, um etwas Aktualität einzustreuen, eine Markierung, an der Historiker später diese Rede zum 27. Januar von denen der anderen Jahre unterscheiden können: „Auch wenn wir das in diesen von der Pandemie bestimmten Tagen nur virtuell tun können, ist uns das gemeinsame Gedenken nicht weniger wichtig.“

Womit er präventiv alle niederschlägt, die sich eben zu der Frage aufraffen wollten: ‚Ist Ihnen das Gedenken weniger wichtig, weil ihre Ansprache nicht vor Publikum stattfindet?’

Sein Sprachprozessor steuert nun folgende Sätze zum virtuellen, aber nicht weniger wichtigen Gedenken bei: 

„Wir tun es, um der Opfer zu gedenken, aber wir tun es auch für unsere, für eine gemeinsame Zukunft. Es ist eine Pflicht, aber auch eine Verantwortung.“ 

Zweimal hintereinander aber auch, ohne dass mit dieser Wendung eine These mit einer Antithese verbunden, ein Gedanke dialektisch behandelt oder überhaupt irgendein Sinn geschöpft würde außer der abgeleiteten Erkenntnis: Der Redner ist Bundespräsident, aber auch kein Liebhaber der Sprache. 

Es folgt eine bemerkenswerte Aussage über die Verantwortung: 

 „Wir übernehmen sie“, nämlich die Verantwortung, „von jenen, die den Schrecken noch erlebt haben und deren Stimmen weniger werden.“

Also hatten die Überlebenden der Shoa ursprünglich die Pflicht aber auch die Verantwortung, an sich selbst und die Ermordeten zu erinnern, jedenfalls solange, bis wir diese Verantwortung übernommen haben? Höchst merkwürdige erscheint auch die Passage „den Schrecken noch erlebt“. Wahrscheinlich meinte der Redenschreiber oder sogar Steinmeier selbst: Die damals verfolgten Juden, die noch leben. Und dann schoben sich nicht nur Zeit- sondern auch Aussagenebenen ineinander wie Autos bei einem Auffahrunfall.  Die Wendung „noch erlebt“  wird üblicherweise für ein spätes Lebensereignis verwendet („er erlebte noch den Fall den Mauer“), manchmal in entgegengesetzter Perspektive auch für ein sehr frühes (“sie erlebte noch den Kaiser“, also: solange noch einen Kaiser gab). Im Bezug auf Holocaustopfer ist sie grotesk deplaziert, zumal nur eine kleine Minderheit der Häftlinge die Vernichtungslager überstand. Steinmeier hätte sagen können, er erinnere an die Opfer der Shoa; das sei um so wichtiger, als die letzten Überlebenden in den nächsten Jahren sterben werden. Stattdessen werden in seiner Rede „ihre Stimmen weniger“. So klingt es, wenn ein Politiker redet, der keinen geraden Satz über die Lippen bekommt, sondern zwanghaft jede Aussage zu einem Sprachknödel mit Kitschsauce kneten muss. 

"Aktion #lichtfenster"
Im Gegen das Vergessen hat Steinmeier sehr Wichtiges vergessen
Über längere Strecken klingt Steinmeiers Text wie Eckard Henscheids Nachrufparodien „Wir standen an offenen Gräbern“ („Unverrichteter Dinge mußte Adolf Hagel neulich von einer Urlaubsreise mit seiner Frau nach Mallorca wieder heimkehren, nachdem diese Frau, die rheinisch stämmige Frau Marie Hagel schon am Frankfurter Flughafen einem heimtückischen Herzleiden erlegen war“.)

In der Steinmeieriade geht es noch ein Stück weiter, nicht so komisch wie bei Henscheid, dafür aber nicht mehr lang. Im Schlussteil heißt es: 

„Die größte Gefahr für uns alle geht vom Vergessen aus. Davon, dass wir uns nicht mehr daran erinnern, was wir einander antun, wenn wir Antisemitismus und Rassismus in unserer Mitte dulden.“

Die größte Gefahr geht also nicht davon aus, „was wir einander antun“, wer immer sich hinter dem Wir verbirgt, das Antisemitismus und Rassismus duldet, sondern, dass wir uns „nicht mehr daran erinnern“, und zwar offenbar schon dann, während wir einander etwas antun. Aber gut, für den Erfinder der sehr speziellen Relativitätstheorie, der auch davor warnt, zu vergessen, was geschehen könnte, die Zukunft schützen will und weniger werdende Stimmen von Menschen hört, die Auschwitz noch erlebt haben, stellt auch diese weitere kleine Konfusion kein Problem dar. 

Ganz zuletzt noch ein Aufruf, ohne den nichts geht: 

„Ein jeder von uns ist aufgerufen, jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger vor Bedrohungen, Beleidigungen und Gewalt zu schützen. Nicht in Zukunft, sondern hier und heute, in dem Land, in dem wir gemeinsam leben. Ich will Ihnen versichern: Wir werden nicht zurückweichen. Wir werden weiter gegen Antisemitismus, Rassismus und Menschenfeindlichkeit kämpfen.“

Bürger, ob jüdisch oder nicht, vor Bedrohung und Gewalt zu schützen: ist das nicht in erster und zweiter Linie und überhaupt die Aufgabe des Staates? Gewiss, wenn  Frank-Walter Steinmeier zum Feierabend seine Leibwächter verabschiedet, um von Bellevue mit Bus und Bahn nach Hause zu fahren, dort erlebt, wie drei Jugendliche einen Mann mit Davidstern an der Halskette Yahud schimpfen und auf ihn losgehen, so, wie es mehrmals so ähnlich in der Hauptstadt passiert ist, dann würde sich der Präsident erheben, nicht zurückweichen und mit sonorer Stimme rufen: „So nicht, meine Herren“. Aber nicht jeder fühlt sich dazu in der Lage. 

„Das Gedenken an die Opfer der Shoah“, jetzt sind wir bei der Schlussformel,  „übersetzt sich für die Zukunft in ein ‚Niemals wieder’. Darin liegt unsere Verantwortung, die bleibt.“

Unfreiwillige Selbstdarstellung
Frank-Walter Steinmeier, der Maskenlose
Wer übrigens fragt, ob Steinmeier wirklich zum Jahrestag der Befreiung von Auschwitz reden konnte, ohne auch nur einmal den Begriff „Nationalsozialismus“ in den Mund zu nehmen oder den Krieg zu erwähnen, der fragt ganz richtig, gehört allerdings auch zu einer raren Publikumssorte, der das überhaupt auffällt, anders als den meisten Mitpolitikern und Mitjournalisten. Von den aus fast ganz Europa in die Vernichtungslager gebrachten Juden spricht Steinmeier zwar nicht direkt in einer Weise, als würde es sich um die eigenen Großeltern handeln, allerdings so, als wären es angeheiratete Großonkel und -tanten gewesen. Er, der unentwegt betont, wie wichtig Erinnerung sei, verzichtet gleichzeitig auf jede geschichtliche Konkretisierung. Die Shoa wird bei ihm zu einem voraussetzungslosen Schrecken, den manche eben erlebten, andere nicht. Möglicherweise ist ihm das ganze Thema und jeder einzelne Satz seiner Suada Wurst beziehungsweise Knödel. 

Die Geschichtslosigkeit verbindet sich bei ihm mit einer Gegenwartslosigkeit. Wie Henryk Broder zum gleichen Thema schrieb, läuft das abstrakte ‚niemals wieder’ leer, denn die Vergangenheit wiederholt sich nie auf gleiche Weise. Die Anstrengung, ein zweites Auschwitz zu verhindern, so Broder, sei ungefähr so einleuchtend wie der Appell, man dürfe die Titanic nicht zum zweiten Mal sinken lassen. Heute sehen sich Juden zwei Bedrohungen gegenüber: Vor allem in Frankreich durch islamische Gewalttäter; Sarah Halimi und die 85jährige Holocaust-Überlebende Mirelle Knoll wurden in Paris in ihren Wohnungen ermordet, weil sie Jüdinnen waren. Und sie waren nicht die einzigen Opfer eines neuen tödlichen Antisemitismus der Gegenwart.

Zum anderen gibt es auch nach der Entspannung im Nahen Osten noch den verbreiteten Wunsch, Israel als jüdischen Staat auszulöschen. Frank-Walter Steinmeier dürfte die entsprechenden Bestrebungen der Führung in Teheran gut kennen, der er Anfang 2020 eigentlich nicht zum Nationalfeiertag gratulieren wollte, wobei er dann, wir erinnern uns, durch einen Fehler in der präsidialen Poststelle das Glückwunschtelegramm trotzdem abschickte. 

In Deutschland formierte sich im Dezember 2020 die „Initiative GG5.3 Weltoffenheit“, in Gang gebracht von Spitzenvertretern staatlicher Kulturinstitutionen, die unter Weltoffenheit vor allem das Recht der Israel-Boykott-Bewegung BDS verstehen, in Deutschland staatliche Mittel und öffentliche Räume zu bekommen. Nur das – den Ausschluss öffentlicher Mittel für die BDS-Bewegung und deren Ziele – hatte der Bundestag mehrheitlich beschlossen. Für viele Kulturschaffende ist es, Corona hin, Lockdown her, das derzeit wichtigste Branchenthema, diese Ungerechtigkeit anzuprangern. Die Israel-Boykottunterstützungsbewegung staatlicher Kulturrepräsentanten wird unter anderem von Andreas Görgen unterstützt, Leiter der Kultur- und Kommunikationsabteilung im Auswärtigen Amt. Görgen war es auch, der die Idee hatte, die stellvertretende Vorsitzende des Zentralrats der Muslime Nurhan Soykan als Beraterin des Außenministeriums anzuheuern.

Soykan hatte ihre Sympathie für den „Al Quds-Tag“ deutlich gemacht, einen von dem Regime in Teheran initiierten Aktionstag mit weltweiten Demonstrationen, auch in Deutschland, bei dem zur Zerstörung Israels aufgerufen wird. 

Diese Zerstörung muss nicht zwangsläufig mit Bomben stattfinden. Der Journalist Malcolm Ohanwe schlägt wie viele andere Aktivisten einen eleganteren Weg vor: 

Screenprint via twitter

Staatsbürgerschaft und „Recht auf Rückkehr“ für alle, die sich als Palästinenser bezeichnen, wäre das demografische Ende Israels als jüdischer Staat. Genau deshalb schlägt Ohanwe es ja vor. 

Ohanwe arbeitet für den Bayerischen Rundfunk, außerdem gehört er zu den Aktivisten der „Neuen Deutschen Medienmacher“, einer aggressiven identitätslinken Vereinigung von Medienleuten, die allein 2019 für ihre Projekte mehr als eine Million Euro aus dem Etat von Bundeskanzlerin Angela Merkel erhielt.

Judenfeinde der Gegenwart sind nicht ominöse „böse Geister in neuem Gewand“ – auch das eine Formulierung des Knödelkönigs von Bellevue

  • , sie verfügen anders als Geister in Gewändern über Körper, Namen und Adressen. Die Chefs der Kulturinstitutionen, die für einen weltoffenen Israelboykott kämpfen, sind Angestellte des Staates, den Steinmeier repräsentiert. Das Auswärtige Amt, in dem man diese Kulturschaffenden wohlwollend unterstützt und eine Israelfeindin als anstellungswürdig betrachtet, wird von seinem Parteifreund geleitet, der bekanntlich wegen Auschwitz in die Politik ging. Die nicht zum ersten Mal auffällige Ressentimentmanufaktur „Neue Deutsche Medienmacher“ bekommt ihr Steuergeld nicht durch die Entscheidung von Geistern, sondern nach dem Willen der Bundeskanzlerin. Steinmeier könnte sie, bevor er Courage von anderen verlangt, öffentlich fragen, was sie dazu treibt. 

Die Jusos, die kürzlich ihre Beziehung zur Jugendorganisation der Fatah als „Schwesterorganisation“ bekräftigten, sind die Jugendorganisation von Steinmeiers Partei. 

Für einen Mahn- und Erinnerungsprofi an der Staatsspitze, der Bürger verpflichtet, vor Gewalt nicht zurückzuweichen, gäbe es also genug Konkretes zur Gegenwart zu sagen. Vorzugsweise in einfachen Aussagesätzen. 

Auch zu der Frage, welche Ansicht über Islam und Juden viele der Einwanderer mitbringen, die vor allem seit 2015 nach Deutschland kommen. So wie Fayez Kanfash, der 2015 aus Syrien kam, und heute in der Nähe von Berlin als Youtuber lebt. Im November 2020 wurde er einer größeren Öffentlichkeit bekannt, als er einen Mann mit Macron-Maske und blonder Perücke durch die Sonnenallee in Berlin zerrte und symbolisch auspeitschte.

Von Kanfash gibt es auch eine Video-Aufnahme, die ihn in seiner neuer Heimat bei einer Tätigkeit zeigt, die ihm offenbar sehr am Herzen liegt: Dem Zerreißen einer Israelfahne.

Screenprint via twitter

Vor kurzem ließ Frankreichs Innenminister einen Algerier ausweisen, der sich als Fahrer als Lieferdienstes geweigert hatte, Juden zu beliefern. Kanfash braucht nicht fürchten, seine Videoarbeit demnächst von Damaskus aus fortsetzen zu müssen. 

Das alles wären Themen für eine Rede zum 27. Januar gewesen. 

Allerdings nicht in einem Land, in dem die beliebtesten Juden Herr und Frau Stolperstein heißen. 

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