Tichys Einblick
Pressekonferenz zum EU-Gipfel

Merkel: Frankreich ist sicheres Herkunftsland

Wer glaubt, das System Merkel sei am Ende, weil es nicht mehr funktioniert, der bleibt ungenau: Das System Merkel ist am Ende, weil es erkennbar geworden ist. Das ist ein feiner, aber ein wichtiger Unterschied.

Ben Stansall/AFP/Getty Images

Tichys Einblick attestiert der „Einigung“ auf dem EU-Gipfel in Brüssel ein großes „Nichts“ zu sein, EU-Kommissar Günther Oettinger will einen großen Schritt erkannt haben und ProAsyl spricht von einem „Gipfel der Inhumanität“. Nun ist in Brüssel noch einiges mehr ausgehandelt und beschlossen worden als nur das Thema Migration. Was da mutmaßlich im Windschatten des Masterthemas mit durchgewunken wurde, soll Thema späterer Betrachtungen sein.

Nun die Pressekonferenz in Brüssel. „Die Kanzlerin nimmt erst einmal einen Schluck Wasser“, sagt die Bundeskanzlerin und macht es so, wie sie es im Bundestag gerne aufbaut: Alle warten auf das Masterthema, aber Merkel zählt erst einmal auf, um was es noch so ging. Eine Dramaturgie der vorauseilenden Beschwichtigung. So seien Einigungen mit der Nato erzielt worden, die – für die EU ungewöhnlich –  so Merkel, „schnell, effizient und präzise“ gelungen seien.

„Den Abend gestern haben wir natürlich mit dem großen wichtigen Thema Migration verbracht.“ Der so entstandene Eindruck: Sie, Angela Merkel, hebt explizit die Bedeutung eines Themas hervor. Fast so, als wäre es allen anderen lieber gewesen, nicht darüber zu sprechen. Die Quadratur des Kreises. Aber Merkel bleibt dann zunächst bei den Themen Handelskrieg mit den USA, der Vollendung der Bankenunion und dem Stabilitätsmechanismus (Währungsfond).

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Nun die Migrationspolitik der EU: „Ich darf zusammenfassen, dass wir in den frühen Morgenstunden ein Ergebnis erzielt haben, von dem ich sagen will, dass es ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung ist. Wir sind natürlich nicht am Ende des Weges, aber Sie können sich vorstellen, dass die Sichtweisen extrem unterschiedlich waren unter den Mitgliedsstaaten.“ Aber es sei gelungen, diese Interessen zusammenzubinden „in allen Dimensionen, die mit der Migration verbunden sind.“ Das wäre nun die adäquate Antwort auf ein Thema, „dass uns wie kein anderes Thema bewegt und herausfordert.“

Merkel redet weiter von der Entwicklung eines umfassenden Migrationskonzeptes, welches man „sozusagen“ entwickelt hätte, „dass die Außengrenzen und die Kontrolle dieser Außengrenzen umfasst.“ Auch die inneren Aspekte, die so genannte Sekundärmigration wären mit in den Blick genommen worden. Sozusagen.

Lange gearbeitet hätte man daran, überhaupt festzustellen, dass die Migration alle Staaten der EU angeht. Festgestellt wurde ebenfalls, dass man viel erreicht hätte, so seien beispielsweise die Seelandungen um 95 Prozent reduziert worden.

Was hier bei Angela Merkel wie bei vielen anderen Erzählungen dieser „Abnahme“ von Migration allerdings regelmäßig vergessen wird, ist die schlichte Tatsache, dass immer mehr Zuwanderer nach Europa kommen. Die schlichte Wahrheit ist doch jene: Es werden Tag für Tag mehr Migranten, die sich in Europa, vornehmlich in Deutschland oder auf dem Weg nach Deutschland, aufhalten und dann niederlassen. Wer hier wie Merkel von einem „Rückgang“ spricht – und das muss immer wieder erwähnt werden – spricht lediglich über das Tempo der Zunahme. Niemals über eine Abnahme der sich im Land aufhaltenden Migranten, die sich weiterhin fast ausnahmslos auf das Asylrecht berufen, ganz gleich, wo sie herkommen.

Wenn weniger viele kommen als auf dem Höhepunkt, ist das keine Abnahme!

Weiter Merkel: Man hätte sich verständigt, alles dafür zu tun, dass sich das Jahr 2015 nicht wiederholt. Klar wird schnell: Es geht Merkel und Co hier nicht um eine Beendigung dieses Zustandes, sondern um eine kontrollierte Weiterführung. Man darf behaupten: Es sind exakt diese sprachlichen Nuancen, diese Unbestimmtheiten, die, wenn sie nicht als solche erkannt werden, weiterhin die Wählerschaften der Kanzlerin sichern.

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Und Angela Merkel deutet in der Pressekonferenz mal eben die Aufgabe der Operation „Sophia“ um, die für den Kampf gegen Schleuser und Schlepper im Mittelmeer unterwegs ist. Nein, Seenotrettung ist kein Auftrag, sondern auf See für alle Schiffe verbindlich. Also auch für jene der Operation Sophia. Aber diese Seenotrettungen sind nicht das Mandat der Operation. Die Bundeswehr titelt auf ihrer Website über „Sophia“ nicht ohne Grund exakt das: „Gegen Schleusernetzwerke – Der Einsatz im Mittelmeer“ Bei Merkel klingt das nun so: „Hier ist der europäische Ertrag der Mission Sophia ja nicht nur die Rettung von Menschen in Not, sondern eben auch der Kampf gegen Schleuser und vor allem  die Ausbildung der libyschen Küstenwache.“ Nein, „nicht eben auch“, sondern an erster Stelle.

Es sind diese feinen Verdrehungen, verpackt in einer gespielten Harmlosigkeit, begleitet von einer unverdächtigen Altmütterlichkeit, die Merkel bisher noch partiell vor dem Zorn aller geschützt haben. In der Migrationsfrage ist dieses Instrument offensichtlich nutzlos geworden, weil der Bogen überspannt, die maximale Belastung überreizt wurde: Die Bürger hören genauer hin, lassen sich nicht mehr automatisch einschläfern: so fällt dann immer öfter auf, was von der Kanzlerin eigentlich wirklich erzählt wird. Das, was sie verbergen will.

Das EU-Türkei-Abkommen soll endlich in allen Facetten greifen. So sei die nächste Rate von drei Milliarden – „natürlich projektbezogen für die Betreuung der Flüchtlinge“ – endlich auf den Weg gebracht worden. Und Afrika bekäme weitere 500 Millionen zugesprochen.

Auch Marokko müsse jetzt unterstützt werden, fügt Merkel nahtlos an die Drei-Milliarden-Euro-Frage an. Immer mehr Migranten würden in Spanien anlanden, weiß Merkel. Also doch kein Rückgang, sondern eine drohende Zunahme?

Es sollen so genannte „regionale Ausschiffungsplattformen außerhalb Europa“ eingerichtet werden.

Nein, es soll hier überhaupt nicht um eine glaubwürdige Begrenzung oder Beendigung der Migration gehen, wenn Merkel deutlich sagt, was verhindert werden soll. Eben nicht diese Massenmigration. Die Maßnahmen sollen greifen, „um den Weg der Flüchtlinge und Migranten zu verhindern, sozusagen in die Unsicherheit und Gefährdung überhaupt auf See zu sein.“

Ein Satz, der wie kaum ein anderer erklären kann, wie Angela Merkel agiert. Zunächst beginnt er mit einer angeblichen Verhinderung, dann folgt die Umdeutung der Aussage noch im selben Satz. Das mag man für äußerst geschickt halten, man kann es aber auch mit mehr Härte dechiffrieren und dann benennen.

Immer noch keine Einsicht
Wie tief ist die Regierungskrise?
Das alles geht „nur zusammen mit dem UNHCR und der Internationalen Organisation für Migration.“, erteilt Merkel allen nationalen Alleingängen eine Absage. Aber auch hier gibt es zwei Lesarten. Die zweite ist die Absicherung. So kann Merkel weiter alle ihre unpopulären Maßnahmen in der Massenzuwanderung damit begründen, dass ihr national die Hände gebunden sind. So wie sie schon zuvor immer wieder – auch in der letzten Regierungserklärung – davon erzählt, dass ihr der europäische Gerichtshof längst eine Art Alibi verschafft hätte, was ihre politischen Entscheidungen Ende 2015 betrifft. Dass eben diese nun allerdings nationaler Alleingang war, lässt die Bundeskanzlerin unter den Tisch fallen, das wird dann von der AfD und manchmal auch von Herrn Lindner im Bundestag erzählt und ist anschließend schon wieder vergessen.

Und niemand möge die versteckte Botschaft überhören: Wo ich mich bei meinen Ausreden, national nicht Handeln zu dürfen, nicht mehr auf die EU berufen kann, wg. Kurz, Salvini und so weiter, tue ich dies eben mit Berufung auf die UN.

Wer glaubt, das System Merkel sei am Ende, weil es nicht mehr funktioniert, der bleibt ungenau: Das System Merkel ist am Ende, weil es erkennbar geworden ist. Das ist ein feiner, aber ein wichtiger Unterschied.

Schnell hat Angela Merkel in dieser Pressekonferenz mit Antworten zu den wirklich wichtigen und konkreten Fragen zur Migration abgeschlossen. Was dann noch kommt, sind Allgemeinplätze, sind wieder nur vage Versprechen und Optionen für die Zukunft. Es entsteht der Eindruck, dass sich hier Staatsmänner und Angela Merkel zusammengesetzt über die offene Schatulle der EU überlegt haben, welches Häufchen auf welchen Teller kommt. Drei Milliarden hier, eine halbe Milliarde dort. Hier ein weiterer Fonds, dort eine Zusage, verbunden mit einem laschen wenn-dann.

Die Summe aller Wünsche
EU: Alles und Nichts
„Die Sekundär-Migration droht die Integrität des Schengen-Besitzstandes, also die Freizügigkeit, zu gefährden.“ Und was will man tun? Was wurde dazu beschlossen? Was ist die konkrete Einigung? Hier und an diesem Punkt wird das „Nichts“ noch einmal deutlich, die Handlungsunfähigkeit: „Deshalb wollen wir die Zusammenarbeit verstärken.“ Viel will man, noch mehr sollte man ja wollen, aber es passiert am Ende nichts. Ein gemeinsames EU-Asylsystem sei in fünf Rechtsakten geplant und vorangebracht, zwei ständen allerdings noch aus, das bedeute, das man noch einen großen Weg von Arbeit vor sich hätte, erzählt Merkel.

Solange es keine neue Dublin-Verordnung gäbe, will Merkel weiter an bilateralen Vereinbarungen arbeiten. So sei bereits vereinbart, dass an kontrollierten Grenzübergängen zu Österreich Migranten, die bereits im EuroDac-System registriert seien, wieder abgewiesen werden könnten. Merkel betont extra, dass dies eben nur an diesen Übergängen so gehandhabt werden könne. Es ist also für die sekundäre Migration nur eine Frage des gewählten Grenzübergangs?

Ganz egal, für dieses Flickwerk sollen Griechenland und Italien wie auch immer finanziell weitere Hilfen bekommen. Die Puderdose kreist in zunehmender Geschwindigkeit. Die deutsche ebenso, wie die von Deutschland aufgefüllte der EU. Und die Familienzusammenführung soll mit Hilfe von Griechenland optimiert werden, die ja über die selbe Route läuft.

Die sekundäre Migration, die bei der Rückführung bisher bei gerade einmal fünfzehn Prozent liegt, soll durch gegenseitige Verwaltungsakte optimiert werden. Immerhin ringt sich Angela Merkel zu der weltbewegenden Feststellung durch, Frankreich zum sicheren Herkunftsland zu erklären. Sie erwähnt es tatsächlich explizit auf dieser Pressekonferenz. Ein Schmunzler für die gefällige Presse zum Schluss?

„Insgesamt also sehr arbeitsreiche Stunden, wie sie sich vorstellen können. Und ich muss sagen, dass es doch substantielle Entwicklungen gegeben hat, wo wir längst nicht am Ende eines Weges sind, aber sehr viel mehr Ordnung und Steuerung in die Dinge hineinbringen können, wenn wir das auch wirklich alles zielstrebig umsetzen.“ Ja, wenn. Das große merkelsche „wenn“, die merkelsche Sprache am Ende Ihrer Wirkmacht angekommen. Endlich.