Tichys Einblick
Fragmentierungs- statt Inflationsangst

Europäische Zentralbank beendet die Negativzins-Ära – aber nicht den Anleihenkauf

Zum ersten Mal seit 2011 erhöht die Europäische Zentralbank die Zinsen. Doch die Bekämpfung der Inflation wird von der neuen Möglichkeit zum Kauf von Krisenstaaten-Anleihen überschattet.

IMAGO / Kai Koehler

Die Europäische Zentralbank (EZB) erhöht die Zinsen stärker als allgemein erwartet. Der Einlagenzins soll um einen halben Prozentpunkt auf null Prozent steigen. Auch der offizielle Leitzins, der bisher bei null lag, und der Zins zur Spitzenrefinanzierung werden um je einen halben Prozentpunkt steigen. Das gab die Notenbank am Donnerstag nach ihrer Ratssitzung bekannt.

Die unausgesprochene Aufgabe der EZB
Die Europäische Zentralbank kann die Inflation nicht bekämpfen
Dass die Zinswende, also die erste Erhöhung seit 2011, kommt, war angesichts der dramatischen Inflationsdaten zu erwarten. Die Inflationsrate im Euroraum ist im Juni auf einen Rekordwert von 8,6 Prozent gestiegen. Nach dem Urteil vieler Ökonomen kommt die Zinswende viel zu spät. Doch jetzt kommt sie stärker, als die jüngsten Signale erwarten ließen, die eher auf nur 25 Basispunkte hingedeutet hatten. Für Sparer, die ihr Geld auf Bankkonten liegen haben, ist der heutige Tag ein guter. Die meisten Banken hatten sogar schon im Vorgriff auf den EZB-Entscheid die Negativzinsen gestrichen. Auf Zinsen von mehr als 2 Prozent kommt man bei Festgeldanlagen aber auch jetzt kaum – real verlieren die Sparer also angesichts von Inflationsraten um 8 Prozent. Für Bauherren ist es ein schlechter Tag. Allerdings hatten auch für sie viele Banken schon vor der Notenbank die Zinsen angehoben. Die Bauzinsen waren seit Jahresbeginn von 0,8 auf mehr als 3 Prozent für Baudarlehen mit zehn Jahren Zinsbindung gestiegen.

Von einer Normalisierung der Zinspolitik zu sprechen, ist angesichts der langen Dauer der niedrigen, schließlich Null- und sogar Negativzinsära fast anachronistisch. Seit 2011 – damals noch unter Christine Lagardes Vorvorgänger Jean-Claude Trichet – waren die Zinsen nicht mehr angehoben worden. Mario Draghi hatte dann kurz nach seiner Amtsübernahme sofort die Zinsen stark gesenkt.

Mit Blick auf die hohe Inflation wäre eigentlich ein noch viel deutlicherer Zinsschritt fällig, wie zuletzt auch der Präsident des Münchner Ifo-Instituts, Clemens Fuest, gefordert hatte. In den 1970er Jahren hatte die Bundesbank mit Leitzinsen von bis zu fast 15 Prozent auf die damals nicht einmal ebenso hohen Inflationsdaten reagiert.

Doch das ist eben das Dilemma, in dem die EZB mit ihrer jahrelangen Politik des billigen Geldes und der De-Facto-Staatsfinanzierung sitzt: Sie hat das ihr ursprünglich auferlegte Ziel der Geldwertstabilität längst zugunsten des Erhalts der Gemeinschaftswährung durch Stützung der potenziellen Pleitestaaten und einer aus eigener Kraft nicht mehr wachstumsfähigen Wirtschaft aufgegeben. Sie kann die Inflation daher nicht mehr wirklich effektiv bekämpfen (wie es die Deutsche Bundesbank vor 1999 tat), ohne dadurch existenzielle Krisen auszulösen. Nicht die Gefahr der Inflation, die jetzt Wirklichkeit geworden ist, hat die Zentralbanker zumindest seit der Ära Draghi angetrieben, sondern die Verhinderung des Zerfalls der Eurozone. Nicht Inflation, sondern „Fragmentierung“ lautet der Begriff, um den sich das Denken in der Frankfurter EZB-Zentrale dreht.

Vor der EZB-Ratssitzung
Die Ära sinkender Reallöhne hat begonnen
Darum ist vielleicht auch die zweite Nachricht aus der EZB noch entscheidender als der Zinsschritt. Sie wird ein neues Instrument schaffen, damit die Zinserhöhungen nicht die Renditen der Staatsanleihen hoch verschuldeter Euroländer in die Höhe treiben. Wie gesagt, auf der Fragmentierung, also der Zersplitterung des Euroraums liegt das Hauptaugenmerk. Das neue Instrument ist die Erlaubnis der EZB an sich selbst, auch nach Auslaufen der bisherigen Programme Anleihen einzelner Euroländer kaufen zu können, wenn deren Renditen aus vermeintlich spekulativen Gründen schnell steigen. Der Spread, also der Renditeunterschied zu den (noch?) als sehr sicher geltenden deutschen Anleihen soll somit gering gehalten werden.

Den ersten Anlass dazu gibt es bereits in Italien, ausgelöst sinnigerweise durch den Rücktritt ausgerechnet des früheren EZB-Präsidenten Mario Draghi als Italiens Ministerpräsident. Im Zuge der dortigen Regierungskrise stiegen die italienischen Renditen schon. EZB-Präsidentin Lagarde hatte spontan schon eine Notsitzung des EZB-Rates einberufen, um dieses neue Instrument schneller ins Leben zu rufen.

Und das könnte dann so laufen: Die EZB wird gezielt italienische Staatsverschuldung kaufen – und damit der Inflation frisches Brennmaterial zuführen. Sie kauft also gezielt italienische Staatspapiere, die am Markt nur zu höheren Zinsen absetzbar wären. Bislang mußte die EZB nach dem wirtschaftlichen Gewicht der jeweiligen Mitgliedsländer der Euro-Zone kaufen. Deshalb waren deutsche Staatsanleihen mit rund 25 Prozent am Kaufvolumen beteiligt. Das ist jetzt vorbei und der Übergang zur direkten Finanzierung der Staatsverschuldung einzelner Länder offen. Dieselbe Maßnahme gilt dann auch für Spanien, Griechenland usw. Deren Staatsverschuldung wird künstlich verbilligt und damit ausgeweitet. Deutschland ist erneut der Verlierer: Es kann seine Stabilitätsvorteile nicht mehr in Zinsvorteile umsetzen. Es lohnt sich also nicht mehr in Europa, die Staatsverschuldung zu kontrollieren oder zu begrenzen. Das Tor zur Euro-Schuldenmacherei ist damit noch weiter aufgestoßen.