Tichys Einblick
Demokratieposse

Entweder darf jeder demonstrieren oder niemand

In Berlin werden die Anti-Coronabestimmungs-Demonstrationen unter dem Vorwand "Infektionsschutz" verboten. Die angemeldeten Gegendemonstrationen allerdings nicht. Aber in der Demokratie darf entweder jeder demonstrieren - oder eben niemand.

imago Images/Stefan Zeitz

In Berlin waren für das Wochenende zahlreiche Proteste gegen die Corona-Bestimmungen der Bundesregierung geplant. Die Berliner Versammlungsbehörde verkündete am Mittwoch allerdings ein Verbot dieser Demonstrationen. Die zahlreichen angekündigten Gegendemonstrationen, bei denen mehrere tausend Teilnehmer angekündigt wurden, wurden aber nicht verboten. Das meldete am Mittwochabend die Welt. Demonstrationen sind wohl nur noch denen erlaubt, die für die Regierung demonstrieren. So etwas hieß früher Kundgebungen.

Die Verbote der Anti-Coronabestimmungsdemonstrationen werden damit begründet, dass die Berliner Polizei mit zahlreichen Verstößen gegen die Berliner Hygienevorschriften rechnet. Alleine die Erwartung von Ordnungswidrigkeiten und Straftaten reicht also schon aus, um das Versammlungsrecht einzuschränken – also wenn es sich um Verstöße gegen die Hygienebestimmungen handelt. Kann man dann im nächsten Jahr erwarten, dass die Demonstrationen zum 1. Mai linker Gruppen verboten werden, weil mit Körper- und Sachbeschädigungen zu rechnen ist? Wohl kaum. Dutzende verletzter Polizisten sind kein Argument, nicht einmal brennende Stadtteile wie anlässlich des G-20-Gipfels in Hamburg. Das Demonstrationsrecht ist so gewichtig, dass diese Schäden achselzuckend in Kauf genommen werden. Eine Sanktion aufgrund noch nicht erfolgter Vergehen kann nicht, darf nicht möglich sein.

Was die Berliner Versammlungsbehörde wohl auch nicht beachtet hat, ist die Frage, ob Versammlungsverbote aufgrund von Infektionsschutzbestimmungen zur Zeit überhaupt gerechtfertigt sind. Nach den Demonstrationen der letzten Wochen ist es bei den Teilnehmern nicht zu größeren Corona-Ausbrüchen gekommen; die Krankenhäuser melden wenige hundert Corona-Patienten, aber viele Tausend freie Intensivbetten: Der Verfassungsrechtler Dietrich Murswiek hält Versammlungs- und Demonstrationsverbote daher für mindestens fragwürdig, wenn nicht gar ganz grundgesetzwidrig. Wenn aber die Situation schlimm genug ist, um Grundrechtseinschränkungen zu begründen, wenn Demonstrationen verboten werden müssen, warum dürfen die Gegendemonstrationen dann stattfinden? Die richtige politische Einstellung macht schließlich nicht immun gegen Corona.
Der Staat ist kein Oberlehrer

So oder so muss der Staat akzeptieren, dass er nicht alle möglicherweise selbst schädigenden Verhaltensweisen seiner Bürger kontrollieren und verbieten kann. Trotz größter Bemühungen der Politik. Die Bürger entscheiden selbst, wie viel sie fressen, saufen, rauchen, wie schnell sie mit dem Auto fahren und wie oft sie Sport treiben – und auch ob sie Maske tragen oder eben nicht. Die Bürger sind keine Kinder, die erzogen werden müssen, und der Staat sollte nicht versuchen, zum Klassenfahrt begleitenden Oberlehrer werden, der seinen Schülern die Zigaretten und das Bier wegnimmt. Der Oberlehrer hat einen Erziehungsauftrag und eine Fürsorgepflicht. Der Staat so nicht.

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Deutsche Politiker sind dünnhäutig geworden gegenüber Kritik an ihrem Handeln. Jede Kritik, die nicht von Links kommt, ist mindestens suspekt. Die Demonstrationen in Berlin sind eine fundamentale Kritik am Handeln der Bundesregierung. Manche bezweifeln, dass SARS-CoV-2 eine Gefahr ist. Manche bezweifeln, dass SARS-CoV-2 zu diesem Zeitpunkt eine relevante Gefahr ist.

Manche glauben, dass der Bürger auch die Freiheit haben muss, selbstschädigende Entscheidungen treffen zu dürfen. Manche hängen Verschwörungstheorien an und Andere glauben, mit der politischen Unzufriedenheit der Demonstranten ihre eigene politische Agenda vorantreiben zu können. Die Strategie der Politik ist politische Gegner, Unwillige, Verschwörungstheoretiker, Reichsbürger und Neonazis in einen zu Topf werfen, damit man auf die schlimmsten unter ihnen zeigen kann und so den Rest, der eigentlich die große Mehrheit ist, zum Verstummen bringt.

Man muss keine der oben beschrieben Meinungen teilen, man muss kein Anhänger der Anti-Coronademonstrationen sein, um solch eine perfide Zersetzungsstrategie für falsch zu halten. Denn so kann Demokratie nicht funktionieren. Demokratie muss alle aushalten, die nicht zu Waffen greifen. Aber eine Politik, in der ein zu großes Auto, ein zu billiges Schnitzel oder die falsche Anwendung der neu erfunden Grammatik schon für einen Faschismus-Verdacht reichen, für solch eine Politik wird jede Opposition unerträglich.

Und so entlarvt sich Geisel wieder einmal selbst und kommentiert das Verbot der Anti-Coronabestimmungs-Demonstrationen:

„Ich bin nicht bereit ein zweites Mal hinzunehmen, dass Berlin als Bühne für Corona-Leugner, Reichsbürger und Rechtsextremisten missbraucht wird. Ich erwarte eine klare Abgrenzung aller Demokratinnen und Demokraten gegenüber denjenigen, die unter dem Deckmantel der Versammlungs- und Meinungsfreiheit unser System verächtlich machen“.

Nun, Herr Geisel, Sie scheinen das System nicht verstanden zu haben, wenn sie glauben, dass Demonstrationen es verächtlich machen.

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