Tichys Einblick
Nebenwirkungen der Corona-Politik

Depressions-Experte fordert „systematische Erfassung“ seelischer Lockdown-Folgen

Nach einer Umfrage der Deutschen Depressionshilfe verschlechtert sich die Situation psychisch Kranker massiv. Suizidversuche nehmen offenbar zu.

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In dem seit November andauernden zweiten Lockdown hat sich die Lage von psychisch Kranken deutlich verschlechtert. Bei Menschen, die bereits unter einer Depression litten, verstärkt die Isolation die Krankheit – und offenbar auch Suizidgedanken. Das das aktuelle „Deutschland-Barometer Depression“ – eine jährliche, repräsentative Bevölkerungsumfrage zu Depression, die seit 2017 von der Stiftung Deutsche Depressionshilfe durchgeführt wird. Befragt wurden für die aktuelle Untersuchung 5 135 Personen zwischen 18 und 69 Jahren im Februar 2021.

Deutschland-Barometer Depression 2021
Folge der Corona-Maßnahmen: „Depressionen bis hin zu Suizidversuchen“
Die Corona-Maßnahmen führen demnach zu massiven Einschnitten in der Versorgung psychisch Kranker, vor allem dann, wenn durch die Corona-Maßnahmen die gewohnte Struktur des Alltags wegbricht. In der Umfrage berichten 44 Prozent der Betroffenen mit diagnostizierter Depression von einer Verschlechterung ihres Krankheitsverlaufs in den letzten sechs Monaten – bis hin zu Suizidversuchen. Auch für die Allgemeinbevölkerung ohne psychische Erkrankung stellt sich die Situation den Umfrageergebnissen zufolge aktuell deutlich belastender dar als im ersten Lockdown 2020. Vor allem wachsende Sorgen um die berufliche Zukunft und die familiäre Belastung verschlechtern sowohl bei psychisch gesunden wie auch bei Kranken das Wohlbefinden.

Bei an Depression leidenden Patienten verschlechtert sich auch die medizinische Versorgung während des Lockdowns, warnt die Stiftung Depressionshilfe. In der Umfrage sagten 22 Prozent der Befragten, die sich in einer depressiven Phase befinden, dass sie in den letzten sechs Monaten den Ausfall von Facharzt-Terminen erlebten. Bei 18 Prozent fiel ein Termin beim Psychotherapeuten aus, 21 Prozent der Betroffenen geben an, von sich aus Behandlungstermine aus Angst vor Ansteckung abgesagt zu haben. Während des ersten Lockdowns sagten das nur 14 Prozent. Die schon vor der Pandemie kritisch Versorgungslage psychisch erkrankter Menschen hat sich nach Einschätzung der Stiftung Depressionshilfe weiter verschärft: 22 Prozent der Menschen in einer akuten depressiven Krankheitsphase geben an, derzeit keinen Behandlungstermin zu bekommen.

Depressionsforscher Ulrich Hegerl
„Schaden und Nutzen wurden kaum öffentlich diskutiert“
Fast alle depressiv Erkrankten berichten in der Umfrage außerdem über fehlende soziale Kontakte (89 Prozent, eine Steigerung von 15 Prozentpunkten seit dem ersten Lockdown), Bewegungsmangel (87 Prozent, eine Zunahme von 7 Prozentpunkte) oder verlängerte Bettzeiten (64 Prozent beziehungsweise 9 Prozentpunkte mehr als während des ersten Lockdowns). „Für Depressionspatienten sind Bewegung, ein geregelter Tagesablauf und ein fester Schlaf-Wachrhythmus wichtige unterstützende Bausteine in der Behandlung. Wenn diese wegbrechen, kann das den Krankheitsverlauf der Depression negativ beeinflussen“, erläutert Professor Ulrich Hegerl, Vorstandsvorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Inhaber der Senckenberg-Professur an der Goethe-Universität Frankfurt.

Insgesamt 44 Prozent der Befragten mit diagnostizierter Depression gaben in der Befragung an, dass sich coronabedingt ihre Erkrankung während des letzten halben Jahres verschlechtert habe. Jeweils 16 Prozent der depressiv Erkrankten berichten von einem Rückfall oder einer Verschlechterung der depressiven Symptomatik, acht Prozent entwickelten Suizidgedanken oder suizidale Impulse. Unter den Befragten mit diagnostizierter oder selbst-diagnostizierter Depression berichten laut Depressionshilfe sogar 13 Personen, im letzten halben Jahr einen Suizidversuch unternommen zu haben. „Die Maßnahmen gegen Corona führen zu Versorgungsdefiziten und depressions-spezifischen Belastungen, die gravierende gesundheitliche Nachteile für die 5,3 Millionen Menschen mit Depression in Deutschland bedeuten. Besonders die Zahl der Suizidversuche bereitet mir Sorge“, mahnt Hegerl. „Es ist dringend notwendig, bei der Entscheidung über Maßnahmen gegen Corona den Blick nicht nur auf das Infektionsgeschehen zu verengen. Es müssen auch Leid und Tod systematisch erfasst werden, die durch die Maßnahmen verursacht werden. Eine systematische, repräsentative Erhebung der Suizidversuche wäre hier wichtig.“

Kinder und Alte als Opfer
Die Schwachen und Sensiblen leiden am meisten unter der Corona-Politik
Bis jetzt existiert keine bundesweite Übersicht über Suizidversuche und Suizide im Zusammenhang mit den Corona-Eindämmungsmaßnahmen. Experten für psychische Gesundheit wie Ulrich Hegerl wurden bisher nicht zu den Beratungsrunden der Bundeskanzlerin mit den Ministerpräsidenten geladen.

Nach der aktuellen Umfrage verschlechterte sich auch die Situation für die Allgemeinbevölkerung deutlich. Demnach empfinden 7 Prozent der Bundesbürger die Situation im zweiten Lockdown als bedrückend. Während des ersten Lockdowns empfanden das nur 59 Prozent so, im Sommer 2020, als Covid-19 zwar viele Kulturveranstaltungen unmöglich machten, das Leben sich aber sonst wieder normalisierte, ging der Prozentsatz der Menschen mit einem Bedrückungsgefühl sogar auf 36 Prozent zurück.

Hegerl empfiehlt Menschen mit und ohne Depression angesichts des fortgesetzten Lockdowns, sich einen Wochenplan anzulegen, und darin neben Pflichten auch gezielt Angenehmes einzutragen – etwa ein Spaziergang, Sport, Lesen oder die Beschäftigung mit einem Hobby.


Sollten Sie das Gefühl haben, dass Sie Hilfe benötigen, kontaktieren Sie unbedingt die Telefonseelsorge. Unter der kostenfreien Rufnummer 0800-1110111 oder 0800-1110222 bekommen Sie Hilfe von Beratern, die Ihnen Hilfe bei den nächsten Schritten anbieten können. Hilfsangebote gibt es außerdem bei der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention. Im Netz gibt es – Beispielsweise bei der Stiftung Deutsche Depressionshilfe – auch ein Forum, in dem sich Betroffene austauschen können.