Tichys Einblick
Pandemieplänen zum Trotz: planloses Berlin

Coronavirus legt Versagen bei Krisenmanagement offen

Das Coronavirus scheint sich langsamer auszubreiten und ist möglicherweise weniger gefährlich als anfangs befürchtet. Trotzdem rutscht Deutschland in eine Krise. Gemessen an ihren eigenen Zielen hat die deutsche Gesundheitspolitik versagt.

Abdulhamid Hosbas/Anadolu Agency via Getty Images

Die Nachrichten sind dramatisch. Die WHO meldet circa 100.000 Menschen weltweit infiziert, 3.500 tot, 94 betroffene Länder. Für Deutschland meldet das Robert Koch Institut 684 bekannte Fälle (Stand 7. März).

684 Erkrankte also in Deutschland, unter Quarantäne und medizinisch versorgt; doch Supermarktregale sind leer gekauft. Das Toilettenpapier wird knapp, Atemschutzmasken, Desinfektionsmittel und Infektionsschutzausrüstung sind nicht mehr verfügbar. In Schleswig-Holstein wurden Apotheken Sondergenehmigungen zur Herstellung von Desinfektionsmitteln gegeben. Manche Krankenhäuser berichten von Desinfektionsmittel-Diebstählen; andernorts müssen Kliniken und Praxen wohl bald schließen, wenn keine Desinfektionsmittel mehr verfügbar sein werden.

Vor einigen Tagen verkündete der Katastrophenschutz Hessens eine Blitzausschreibung: Es werden unter anderem 60.000 Schutzanzüge und 1.000.000 Munschschutzmasken gesucht. Der einzige Posten der Ausschreibung, der erfüllt werden könnte, ist wohl die Suche nach 30.000 Müllsäcken für die Entsorgung der benutzten Schutzkleidung.

Man könnte fast meinen, man befände sich in dem Krisenszenario der Drucksache 17/12051 der Bundesregierung. Hierbei handelt es sich um eine 2013 ausgearbeitete Risikoanalyse, bei der neben dem Szenario „Extremes Schmelzwasser aus den Mittelgebirgen“ auch ein hypothetisches Pandemie-Szenario namens „Pandemie durch Modi-SARS“ ausgearbeitet wurde.

In dem skizzierten Szenario handelt es sich um eine hypothetische Corona-Pandemie, die im Februar von einem chinesischen Markt ausgehend nach Deutschland überschlägt, bevor Abwehrmaßnahmen getroffen werden können.

In dem Krisenszenario heißt es:

„Arzneimittel, Medizinprodukte, persönliche Schutzausrüstungen und Desinfektionsmittel werden verstärkt nachgefragt. Da Krankenhäuser, Arztpraxen und Behörden in der Regel auf schnelle Nachlieferung angewiesen sind, die Industrie die Nachfrage jedoch nicht mehr vollständig bedienen kann, entstehen Engpässe“

Das ganze hat nur einen Haken: Das Szenario geht von einer deutlich dramatischeren Krankheit aus, als der SARS-CoV-2 Virus, der momentan sprichwörtlich als Coronavirus in der Luft liegt.

Hysterie als Volkssport
Was ein Virus schafft
Das hypothetische Virus hat eine Letalität von 10 Prozent – es sterben also zehn von 100 Erkrankten. Außerdem breitet sich das hypothetische Virus in Deutschland aus, bevor die WHO eine Warnung herausgibt. Das Krisenszenario imaginiert 29 Millionen Kranke in der ersten von drei Wellen und: „Aufgrund der hohen Sterberate stellt auch die Beisetzung der Verstorbenen eine große Herausforderung dar (Massenanfall an Leichen, Sorge vor Infektiösität)“. Insgesamt sterben 7,5 Millionen Bürger.

Trotzdem führt ein unendlich kleinerer und besser kontrollierter Krankheitsausbruch (639 statt 29 Millionen Kranke) mit erheblich schwächerem Krankheitsverlauf (3-4 Prozent Letalität statt 10) zu dramatischen Engpässen und gefährdet akut die medizinische Versorgung. In dem Szenario steht:

„Die hohe Zahl von Konsultationen und Behandlungen stellt sowohl Krankenhäuser als auch niedergelassenen Ärzte vor immense Probleme. Die medizinische Versorgung bricht bundesweit zusammen.“

Wenn jetzt Zahnarztkliniken aus Mangel an Desinfektionsmitteln schließen müssen, ist das dann schon ein Zusammenbruch der medizinischen Versorgung?

In dem Krisenszenario heißt es weiter:

„Es ist anzunehmen, dass die Krisenkommunikation nicht durchgängig angemessen gut gelingt. So können beispielsweise widersprüchliche Aussagen von verschiedenen Behörden/Autoritäten die Vertrauensbildung und Umsetzung der erforderlichen Maßnahmen erschweren.“

Dass in der Panik einer Pandemie im Ausmaß der Seuchen des 19. und 20. Jahrhunderts die Krisenkommunikation nicht gelingt, ist verständlich. Wenn allerdings die Regierung bei der jetzigen – noch – relativ ruhigen Situation einerseits einen 10-Tage-Nahrungsmittel-Notvorrat fordert, aber andererseits Atemmasken und Desinfektionsmittel nicht gehortet werden sollen, so lässt dies auf die Planlosigkeit des Gesundheitsministeriums schließen.

Solch planloses Vorgehen äußert sich auch an anderer Stelle: Wie die FAZ berichtete, wurden beim DFB-Pokalspiel im Waldstadion Frankfurt (am 04.03) den Zuschauern persönliche Flaschen mit Desinfektionsmittel von der Security abgenommen. Die normalerweise im Stadion bereitstehenden Desinfektionsspender wurden allerdings abmontiert aus Angst vor Diebstahl. Selbstvorsorge wird verhindert, öffentliche Vorsorge unterlaufen – nur Desinfektionsmittel in offiziellen Lagern sind gute Desinfektionsmittel.

Engpässe als Folge von Hamsterkäufen von besorgten Bürgern waren absehbar, ebenso Versorgungsengpässe in der Industrie. In dem Krisenszenario steht dazu:

„Generell ist zu berücksichtigen, dass Unternehmen die Auswirkungen der Pandemie selbst bei guter Planung und Vorbereitung ggf. nicht mehr kompensieren können (generelle Rationalisierungstendenzen: dünne Personaldecke, Abhängigkeit von Zulieferern, Just-in-TimeProduktion usw.). Dies kann sogar dazu führen, dass weltweit Produktionsketten zum Erliegen kommen. […]

Zahlreiche Güter und Dienste werden weltweit jeweils von nur wenigen Schlüsselproduzenten bereitgestellt. Somit könnten Ausfälle im Bereich importierter Güter und Rohstoffe auch in Deutschland zu spürbaren Engpässen und Kaskadeneffekten führen“

Die Bundesregierung sagt, sie sei vorbereitet auf den Ernstfall. Es gäbe Pandemiepläne, so Gesundheitsminister Jens Spahn. Doch ein Pandemieplan, bei dem Hamsterkäufe die medizinische Grundversorgung auch nur ansatzweise in Gefahr bringen, obwohl der Anteil Erkrankter sich im Promille-Bereich bewegt, der ist wenig wert. Eine strategische Reserve von grundlegenden Medikamenten – daran hat wohl niemand gedacht. Die Schweinegrippe, Vogelgrippe und EHEC verliefen glimpflich, die Idee, diese als Warnsignale für möglicherweise schwerwiegendere Epidemien zu begreifen, kam wohl niemandem – zugegebenermaßen auch dem Autor nicht – in den Sinn.

Der Grund für die Engpässe und Schwierigkeiten, die Produktion von Schutzausrüstung anzukurbeln, liegt in der Organisation der deutschen Wirtschaft. Deutschland ist Exportweltmeister, importiert aber auch viele Produkte aus China, der EU und der ganzen Welt. Das neue Coronavirus bedroht insbesondere den Nachschub aus China, aber auch aus anderen Ländern.

Dadurch lässt sich die Produktion von Dingen wie Desinfektionsmitteln und Schutzmasken nicht einfach hoch fahren – sofern sie überhaupt in Deutschland produziert werden.

Dank der sonst fast reibungslos verlaufenden internationalen Logistik produzieren viele Firmen nach „just-in-time“ Prinzip. Der Bedarf an Rohstoffen wird vorher ausgerechnet und Nachlieferungen so getaktet, dass immer wenn der Rohstoff oder die Bauteile auszugehen drohen, die neue Lieferung erfolgt. Große Warenlager können so vermieden und Kosten gespart werden. Das Problem: Will man die Produktion nun kräftig ankurbeln, so hat man allerhöchstens eine kleine Notreserve an Rohstoffen, die man verarbeiten kann. Außerordentliche Lieferungen sind nicht vorgesehen und müssen im Zweifel vom Großhändler erst bestellt werden, doch diese haben eine signifikante Anlaufzeit. Ein Frachtschiff braucht aus China 30 Tage, Hafen-zu-Hafen. Ein Güterzugtransport braucht auch noch 16 Tage, von Bahnhof-zu-Bahnhof. Selbst Luftfracht braucht zwei bis sieben Tage, um durch den Zoll zu kommen.

Insgesamt ist die internationale Logistik anfällig:

Die Lufthansa kündigt an, jeden zweiten Flug zu streichen – diese Flüge dienen zwar hauptsächlich dem Personenverkehr, doch fliegt Luftfracht auch immer mit. China wird von der Lufthansa gar nicht mehr angeflogen. Flughäfen wie Gesellschaften sind auf spezialisiertes Personal angewiesen, genauso wie die Deutsche Bahn. Ihre Fähigkeit, eine erhöhte Krankheitsrate bei Zugführern abzufedern, ist fragwürdig. Es müssen die Lokführer oder Fluglotsen gar nicht erst krank werden: Denn einer, der mit schwerer Erkältung aus Rücksicht auf Kollegen und Gäste zuhause bleibt, statt wie sonst trotzdem zum Dienst zu erscheinen, der fällt ja genauso aus, wie einer der tatsächlich krank ist. Diese Angst vor einer zwar möglichen, aber eher unwahrscheinlichen Erkrankung wirkt sich auch in anderen Branchen aus.

Kommt es zum Börsencrash?
Markus Krall: Das Coronavirus und die Wirtschaft
Tourismus und Fremdenverkehr leiden unter dem Einbruch der Kreuzfahrt-Buchungen und Messeabsagen. Auch Bahn und Fluggesellschaften werden mit sinkenden Ticketverkäufen rechnen müssen, denn Touristen und Geschäftsreisende bleiben zuhause oder steigen auf das Auto um, um Menschenansammlungen zu vermeiden. Wenn in der Industrie das Gesundheitsamt bei einer Coronainfektion eine Werksschließung verfügt, dann hat die Firma kein Einkommen mehr, trotz Lohnfortzahlung. Sechs Wochen lang müssen die Firmen dann Lohnfortzahlung leisten, und können diese Kosten danach von der Regierung zurück erstattet bekommen. Jedoch gerade Firmen die schon klamm sind – wie zum Beispiel Autozulieferer – oder gerade große Investitionen getätigt haben, können da schnell in Gefahr kommen; besonders weil nicht nur Löhne anfallen, sondern auch Mieten, Zinszahlungen und andere Fixkosten.

Normalerweise wäre die Reaktion einer Zentralbank, hier die Geldmenge in der Volkswirtschaft zu erhöhen und die Zinsen zu senken, um Firmen und Regierungen eine Möglichkeit zu geben, sich günstig zu finanzieren und die Krise zu überleben. Doch die Zinsen sind schon bei null, also kann die EZB nichts tun, um die wirtschaftlichen Folgen abzufedern.

Bleibt also nur noch die Fiskalpolitik als Mittel gegen eine kombinierte Gesundheits- und Wirtschaftskrise. Die Steuern zu senken, wäre eine Methode, um den Konsum anzufeuern. Hier schlägt die FDP zum Beispiel eine beschleunigte und totale Abschaffung des Solidaritätszuschlags vor. Ein anderer Ansatz könnte es sein, Firmen Finanzhilfen zu gewähren. So könnte zum Beispiel bei Werksschließungen aufgrund von Lieferschwierigkeiten der Arbeitgeberanteil der Sozialversicherung erlassen werden. Das würde im Effekt bedeuten, dass Firmen bei Lohnfortzahlungen trotz Schließungen geringere Lohnkosten hätten, ohne dass den Arbeitnehmern dadurch ein Nachteil entsteht. Am Sonntag treffen sich die Spitzen der Regierungsparteien, um mögliche Krisenhilfen zu besprechen. Im Gespräch sind unter anderem Bürgschaften und Kredite der KfW und mögliche Steuerstundungen sowie Verschiebungen von Vorrauszahlungen an die Finanzämtzer.

Die Mühlen der Regierung in Berlin setzten sich langsam in Bewegung, doch den letzten Abschnitt der Risikoanalyse von 2013 scheint niemand gelesen zu haben:

„Es ist von einem hohen öffentlichen Interesse während der gesamten Lage auszugehen. Der Ruf nach einem schnellen und effektiven Handeln der Behörden wird früh zu vernehmen sein. Die Suche nach „Schuldigen“ und die Frage, ob die Vorbereitungen auf das Ereignis ausreichend waren, dürften noch während der ersten Infektionswelle aufkommen. Ob es zu Rücktrittsforderungen oder sonstigen schweren politischen Auswirkungen kommt, hängt auch vom Krisenmanagement und der Krisenkommunikation der Verantwortlichen ab.“

 

Dieser Artikel wurde am 07.03 um 21:30 aktualisiert.

 

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