Tichys Einblick
"Voltswagen"

Wenn VW wie Tesla sein will und Chefs ihre eigene Marke nicht verstehen

Die Umbenennung von Volkswagen USA in "Voltswagen" war ein gut gesetzter Aprilscherz mit Breitenwirkung. Er verrät viel über die devote Selbstverkleinerung und Orientierungslosigkeit großer Unternehmen, wenn eine übergreifende Ethik Geschäftsmodelle bestimmt. 

Volkswagen ID.4 zur Auslieferung in der "Autostadt"

IMAGO / regios24

Der 3. September 2020 war ein regnerisch-trister Abend in der norddeutschen Tiefebene. Gegen 21 Uhr war Technoking und Rulebreaker Elon Musk im Privatjet auf dem Provinzflugplatz Braunschweig-Wolfsburg gelandet. Programmpunkt: Gemeinsame Fahrt mit VW-CEO Harald Diess im iD.3, dem Vorzeigeelektroauto des Wolfsburger Weltkonzerns über das nasse und dunkle Rollfeld. Die gemeinsame Fahrt der beiden Herren brachte den Status quo europäischer Autobaukultur gegenüber der amerikanischen Konkurrenz auf den Punkt: Devot und entschuldigend erklärte Diess (vom Sozius aus) der Lichtfigur Musk Vor- und vor allem Nachteile seines Elektroautos und hielt ihn mit kleinen Scherzen bei Laune während dieser, eher wortkarg, dem soliden Auto immer wieder irgendetwas spektakuläres abzugewinnen suchte. Vielleicht werden spätere Generationen von Auto-, oder wie man heute sagt, Mobilitätsexperten dies als den enigmatischen Moment beschreiben, als die deutsche Autobaukultur den Staffelstab an die aufstrebenden Elektro-Designer aus Amerika und Asien übergaben.

Zu den Fakten: Es trafen zusammen… Harald Diess, CEO eines 223-Milliarden-Euro-Unternehmens und Elon Musk, der auf ein Zehntel dieses Umsatzes kommt – allerdings mit extrem steigender Tendenz. 

Tesla verstößt gegen alle Prinzipien des Managements und Marketings: Zum Glück

Tesla ist ein faszinierendes Unternehmen, ein System, das allen Unkenrufen zum Trotz mit seinen soeben veröffentlichen Quartalszahlen Kritiker (wieder einmal) eines Besseren belehrt hat. Tesla wächst, wächst, wächst (und zwar nicht nur über den Verkauf der Umweltzertifikate). Hinsichtlich der Begehrlichkeit überholt diese Marke zunehmend Ikonen wie Mercedes oder BMW – selbst in Deutschland (vom Bauthema im Brandenburgischen ganz zu schweigen). Den immens hohen Aktienwert des Unternehmens als „Blase“ einzuordnen, ist nur dann richtig, wenn man ignoriert, dass Tesla viel mehr als ein Autobauer ist. Tesla ist High-Tech-Innovationslabor, Stromproduzent, Batteriebauer, Dateninhaber, Treiber des autonomen Fahrens. Tesla widerspricht in fast allen Bereichen den Gepflogenheiten und den Regeln des Managements und des klassischen Marketings. Assessment-Center bei der Auswahl der Mitarbeiter? Mitbestimmung? Absolute Perfektion in Ausführung und Service? Werbung? Eher nicht. Ein Universitätsdiplom ist im Tesla-Management ein Manko, Gewerkschaften finden nicht statt, „Always Beta-Versionen“ auf Strassen und Dächern (Solar) statt absoluter Akkuratesse – die Optimierung erfolgt im Markt, die Produkte selbst sind Marketing genug – Marktforschung? PR-Abteilung? Wird nicht gebraucht. Der beste Werbespot ist in Zeiten der umfassenden Austauschbarkeit von Werbespots immer noch das Auto im realen Straßenverkehr. 

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„Tichys Einblick“ – so kommt das gedruckte Magazin zu Ihnen
Wie wohltuend, wenn ein Unternehmen sich als Unternehmung und nicht als Behörde versteht und einen Großteil von Energien und Ressourcen nicht in die gewichtete Entscheidungsfindung, sondern in ein Projekt selbst zu investieren sucht. Wer unternimmt, kann irren … oder aber überdurchschnittliche Erfolge feiern. Wer Märkte nur abbildet, wird ein Spiegelbild des Marktes. Kurzum: Starke Marken nehmen nicht wahr, sondern sie geben wahr. Zahlen und Marktforschung sind ein wunderbares Instrument, um Verantwortlichkeiten zu umgehen und jegliche unternehmerische Phantasie und damit überdurchschnittliche Möglichkeiten systematisiert zu auszuschalten. Wer nur noch mit Zahlen arbeitet, hört auf zu denken. Gerade vor dem Hintergrund immer kürzer werdender Produktzyklen sind perfektionistische Lösungen für den Massenmarkt genau abzuwägen – sie haben sich bei ihren Marktintegration meist schon überlebt. 
Ein Kulturträger ohne Selbstvertrauen

Tesla kennzeichnet ein fundamental anderes Verständnis von Unternehmertum, Markt und Produkt als die europäische und vor allem deutsche Wirtschaft. Und eben hier liegen die Ursachen für die strategische Verzwergung, die sich an einer gemeinsamen herbstlichen Spritztour zweier Männer im Niedersächsischen oder aber einer „Umbenennung“ der Marke VW (als aufmerksamkeitsstarker Aprilscherz getarnt) manifestiert. Ein Unternehmen, das Generationen von Menschen weltweit mit Käfer, Golf und Bully beschenkte, wie kaum ein anderer Akteur „Made in Germany“ verkörperte und den noch nicht einmal Betrug an der Kundschaft zerstören konnte, minimalisiert sich durch die huldvolle Orientierung an neuen Akteuren, denen der Nimbus von grüner Innovation und Zukunftsgewandtheit anhängt. Ethik bestimmt Strategie und Ausrichtung. 

Der Genetische Code der Marke 

Der Kurzzeitname Voltswagen sollte verdeutlichen, dass VW seinen Weg in die Elektromobilität konsequent vorantreibt. Schall und Rauch! So wie Unternehmen heutzutage ernstlich meinen, dass Marken durch Werbung und nicht durch Leistung entstehen, so glaubt man in Wolfsburg, dass ein Unternehmen, dessen Geschäfts- und Entwicklungsmodell auf Verbrennung beruht, per Namen zu einem Elektrounternehmen werden kann. 232.000 Elektroautos hat VW 2020 produziert … von 9,3 Millionen. 3 Prozent. Man betrügt schon wieder. Und auch der Umbau der Mobilität von Verbrennung zu Elektro ist keine Frage von Jahren, sondern mindestens 4-5 Jahrzehnten (sagt Elon Musk, was verdeutlicht, dass die Wachstumskurve von Tesla erst am Beginn steht). Die gesamte Wertschöpfungskette von VW, die Zulieferer, Partnerunternehmen, die Forschung- und Entwicklung, nicht zuletzt die Erwartungshaltung der Kundschaft all dies basiert auf der Vorstellung eines hochqualitativen deutschen Autos … mit einem „richtigen“ Motor – ob gewollt oder nicht.

Alle starken Marken sind Profiteure und Opfer ihrer kollektiven Vorurteile. Eine Erklärung für die Tatsache, dass der Abgasskandal keine nennenswerten Verkaufseinbrüche bei VW auslöste, liegt darin begründet, dass VW in Bezug auf die Breitenwirkung nie mit „Ökologie“ und „Umweltschutz“ assoziiert wurde. Ein VW wird gekauft, weil es sich um ein hochzuverlässiges, solides Auto mit gutem Wiederverkaufswert handelt. Der Abgasskandal hatte für das Gros der Käufer keine Wichtigkeit in Hinblick auf die Kaufursachen. 

VW war nie ein disruptives Unternehmen. Im Gegenteil: Ein Volkswagen demokratisiert solide und durchgesetzte Technologien – macht(e) sie massenwirksam. Verbesserte, kaum merklich, bestimmte Leistungen, stets mit der Prämisse, dass es sich um resonanzstarke Optimierungen handelte. Das war und ist der besondere Genetische Code und das starke Erfolgsmuster der Marke VW.

Kommentar zum Autogipfel
Verbrennungsmotoren sind nicht das Problem, allenfalls der Brennstoff
Tesla dagegen ist ein wirklich disruptives Unternehmen, das seinen Erfolg über die lange Sicht noch beweisen muss. Der Genetische Code von Tesla beruht auf struktureller Innovation und Infragestellung. Beide Geschäftsmodelle sind wettbewerbsfähig und versprechen Potenziale. Sie bedingen jedoch höchst unterschiedliche Geschäfts- und Durchsetzungskonzepte. Die schier unbändige Angst VWs vor diesem unberechenbaren und reputationsstarken Wettbewerber führt dazu, sich panisch in die Rolle des InnovatiosMITführers zu begeben, obwohl sämtliche technischen Beobachter dem amerikanischen Unternehmen einen mindestens fünfjährigen Vorsprung in allen relevanten Feldern von der Batterietechnologie, den Produktionsstandards bis hin zum Datengold für das autonome Fahren einräumen. Dies ist eine Folge der Entscheidung von Elon Musk um 2010, vollständig auf Elektromobilität zu setzen, obwohl sämtliche Beobachter zu einer „Hybridtechnologie“ rieten. Die Entscheidung für ausschließliche Elektromobilität führte zu einer Fokussierung der Innovationsleistung. Zum Vergleich: VW beschäftigt sich zur Zeit mit drei Lösungen: Der Optimierung von Verbrennungs-, Hybrid- und Elektromobilität. Es ist vollkommen unrealistisch auf diese Weise, das identische Innovationsniveau von Tesla erreichen zu können. 
Grenzen ausfüllen, nicht sprengen

Die Antwort auf die Frage, ob es VW gelingt, die Umpolung des Geschäftsmodells erfolgreich zu vollziehen, beginnt gerade erst. Denn wer Geschäftsmodelle verändert, verändert Kundschaften. Das bedeutet nichts weniger, als kulturell verankerte Erwartungshaltungen selbstähnlich und glaubhaft zu transformieren. Das gelingt nie über Nacht und schon gar nicht mit austauschbarer (Image-)Werbung in Zeiten des Kommunikationsgewitters, sondern ist ein sozialer Prozess auf Basis individueller Erfahrungen, die sich zu Vorurteilen und im besten Fall Vertrauen vernetzen. Wenn VW also versucht, den ohne Zweifel wachsenden Markt der Elektromobilität zu bespielen, dann bitte als Anbieter solider, bewährter, leistbarer und hoch qualitativer Automobiltechnik „Made in Germany“. Das ist (noch) ein hoher Wert in der Welt. 

Zeit wieder den Fahrersitz einzunehmen, nicht nur auf Rollfeldern von Provinzflughäfen.


Prof. Dr. Oliver Errichiello hat unter dem Titel „Reality in Branding – 50 laws of European Brand Management“ ein englischsprachiges Buch zur selbstbewussten europäischen Markenführung veröffentlicht.