Tichys Einblick
Zombifizierung

Paradigmenwechsel im Insolvenzrecht verhindert Pleite-Tsunami

Die neue Insolvenzgesetzgebung ist ein Alarmsignal, denn wir bewegen uns in einer Abwärtsspirale staatlichen Handelns. Die privatwirtschaftliche und rechtsstaatliche Basis der Wohlstandsentwicklung wird untergraben.

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Die schleichende Zombifizierung der Wirtschaft wird zunehmend als Grund für die Wohlstandserosion in den entwickelten Volkswirtschaften anerkannt. Nun hat auch der Generaldirektor der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ), Agustín Carstens gegenüber der F.A.Z. die Zombifizierung eingeräumt.

Ihre Ursache liege in der „Neigung einiger Geschäftsbanken“, eine angemessene Einstufung notleidender Kredite zu vermeiden. Diese in der EU lange akzeptierte Praxis bewirkt, dass sich Banken und deren Schuldner in der Hoffnung auf Besserung durchwursteln können. Beide Seiten können so die Realisierung schmerzhafter Verluste vermeiden. In Anbetracht der seit vielen Jahren aufgestauten Rentabilitätsprobleme der Unternehmen und vor allem der Banken, könnten in vielen Fällen risikogerechte Kreditbewertungen geradewegs in die Insolvenz führen. Das ist ein Szenario, das es aus wirtschaftlicher, sozialer und politischer Perspektive unbedingt zu vermeiden gilt, und zwar umso konsequenter, je höher sich diese Probleme auftürmen. Das Codewort für diese gesellschaftlich konsensuale Orientierung lautet: Stabilisierung.

Wirtschaftspolitisches Dilemma

Die Ursachenanalyse des BIZ-Generaldirektors zur Zombifizierung ist in Anbetracht der sich seit vielen Jahren vollziehenden staatlichen Stabilisierungsorgie dennoch überraschend. Er räumt ein, dass staatliche Institutionen durch Nutzung der Geldpolitik „eine solche Entwicklung zwar begünstigten“. Die Zombifizierung sei aber kein Problem, das „durch wirtschaftspolitische Maßnahmen versursacht“ werde. Seine Einschätzung hat mit der Realität allerdings wenig zu tun.

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Der Ausgangspunkt der Zombifizierung ist staatliches Handeln. Im Versuch, die Folgen des Endes der Nachkriegsexpansion mit damals erneut einsetzenden wirtschaftlichen Krisen und Massenarbeitslosigkeit ab Mitte der 1970er Jahre in den Griff zu bekommen, agieren die Staaten der entwickelten Volkswirtschaften seither mit Maßnahmen, die Unternehmen und das wirtschaftliche Wachstum stabilisierten. Um wirtschaftlichen, sozialen und politischen Schwierigkeiten auszuweichen, hat es sich als günstiger erwiesen, den Status Quo möglichst zu erhalten. Bis heute gilt es, lieber keine Veränderungen oder Umbrüche zu riskieren, die zusätzliche Probleme schaffen könnten. Gesellschaftlich ist eine konservierende Haltung entstanden, die staatliches Handeln prägt und die Protektion bestehender Unternehmen und deren Märkte – notfalls zu Lasten neuer Wettbewerber – beinhaltet.

Die so geschaffenen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen haben es vor allem unprofitablen und wettbewerbsschwachen Unternehmen erlaubt, sich über lange Zeiträume durchzuschleppen. Anstatt deren Untergang zu beschleunigen und dafür zu sorgen, dass wirtschaftliche Ressourcen produktiver eingesetzt werden, hat die Wirtschaftspolitik ein riesiges Sammelbecken an Zombieunternehmen geschaffen, die nun ein zunehmendes und nicht offen ausgesprochenes Dilemma erzeugt haben:
Die Fortsetzung dieser Stabilisierungspolitik erhält massenweise wenig profitable Unternehmen, die nicht die Finanzkraft aufweisen, um in neue Technologien und die damit verbunden Produktivitätssteigerungen zu investieren. Die gesamtgesellschaftliche Stagnation der Arbeitsproduktivität ist die Folge und dies limitiert die Reallohnentwicklung. So wird die Wohlstandstagnation immer weiter zementiert.

Eine Abkehr von der wohlstandsaushöhlenden Stabilisierungspolitik ist vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie, die viele wirtschaftliche Existenzen und Jobs bedroht, jedoch riskant. Dies könnte einen „Pleite-Tsunami“ auslösen, wie der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher für diesen Fall in Aussicht stellt. Daher ist das Motto der Politik: Lieber weiter wie bisher, denn noch gelingt es ja sehr erfolgreich, negative Wohlstandseffekte der Mittelschichten durch mehr staatlich gewährte Wohlfahrt auszugleichen und die sozial Schwachen mucken nicht auf.

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In ihrem Bestreben, die Destabilisierung dieser Zombiewirtschaft zu vermeiden, sind staatliche wie auch supranationale EU-Institutionen inzwischen sogar bereit, etablierte rechtsstaatliche und privatwirtschaftliche Grundprinzipien auszuhöhlen. Das zeigt sich bereits seit der Finanzkrise 2008 in der Insolvenzgesetzgebung, die kontinuierlich mit dem Ziel aufgeweicht wird, geschwächte Unternehmen auf Dauer zu erhalten. Schon vor dem Beginn der Pandemie litt jedes sechste Unternehmen in Deutschland an der Auszehrung seiner wirtschaftlichen Substanz und war auf dem Weg in die Überschuldung. Eine jetzt verabschiedete Insolvenzreform, die zum 1. Januar 2021 in Kraft trat, soll nun die nicht nur vom DIW sondern auch von der Bundesbank befürchtete Insolvenzwelle aufhalten.

Um Unternehmen auf dem Höhepunkt der Finanzkrise 2008 zu schützen, setzte man mit Hilfe des Finanzmarkstabilisierungsgesetzes den bis dahin in der Insolvenzordnung geregelten Überschuldungstatbestand aus. Seitdem können Unternehmen trotz Überschuldung der Insolvenzantragspflicht entgehen, wenn sie eine positive Fortführungsprognose nachweisen können. Diese wird angenommen, wenn das Unternehmen die Schieflage voraussichtlich überwinden kann, also die „Fortführung überwiegend wahrscheinlich“ ist. De facto führt das dazu, dass Unternehmen nicht bereits bei eintretender Überschuldung Insolvenz anmelden müssen, sondern erst wenn sogar Zahlungsunfähigkeit eintritt.

Bei der damaligen Aussetzung des Überschuldungsbegriffs war vorgesehen, wieder zu diesem zurückzukehren. Zunächst wurde die Übergangsbestimmung jedoch verlängert und die Rückkehr 2012 dann endgültig gekippt. Experten zufolge hätten die „volkswirtschaftlichen Vorteile … die Nachteile klar überwogen“ und bei der Rückkehr zum alten Überschuldungsbegriff sei zu befürchten, dass „lebensfähige“ Unternehmen in ein Insolvenzverfahren gedrängt würden.

Die Corona-Krise hätte sowohl Zombieunternehmen als auch viele Unternehmen mit profitablen Geschäftsmodellen eigentlich in die Insolvenz gezwungen. Denn bei in Schieflage geratenen Unternehmen waren Fortführungsprognosen wegen des unsicheren Pandemieverlaufs kaum möglich. Daher wurde die Insolvenzantragspflicht rückwirkend zum 1. März 2020 ausgesetzt. Die Regelung wurde nun mehrfach modifiziert und verlängert und gilt nun vorerst bis Ende Januar 2021. Abgrenzungsprobleme erlauben es auch vielen in Schieflage geratenen Zombieunternehmen unter diesen Schutzschirm zu schlüpfen. Diese speziell auf die Corona-Pandemie ausgerichteten Maßnahmen sind im Hinblick auf die Zombifizierung unproblematisch, denn sie retten vor allem Unternehmen, die unter Nicht-Pandemiebedingungen profitabel wären.

Paradigmenwechsel im Insolvenzrecht

Viel problematischer ist die nun im Eiltempo in deutsches Recht umgesetzte und bereits vor der Corona-Pandemie verabschiedete EU-Insolvenzrichtlinie. Das seit dem 1. Januar geltende Sanierungs- und Insolvenzrechtsfortentwicklungsgesetz (SanInsFoG) zielt darauf ab, die Sanierung von Krisenunternehmen durch die Einführung eines „präventiven Restrukturierungsrahmens“ zu erleichtern, also bevor sie in die Insolvenz rutschen. Schon heute sind Sanierungen zur Vermeidung einer Insolvenz möglich, sie können jedoch von einzelnen Gläubigern blockiert werden. Zukünftig sollen Sanierungen auch gegen einen Teil der Gläubiger durchsetzbar sein, also notfalls zu deren wirtschaftlichen Lasten. Deren „eigensinniges Verhalten“ hieß es im Referentenentwurf, soll zugunsten des sanierungswilligen Unternehmens unterbunden werden.

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Das neue Gesetz schafft einen Rechtsrahmen, der „zu einem Paradigmenwechsel im deutschen Sanierungs- und Insolvenzrecht – weg von einer Gläubigerbefriedigung (Gläubigerinteresse) hin zu einer Entschuldung (Schuldnerinteresse)“ – führen kann, wie Lucas F. Flöther, Fachanwalt für Insolvenzrecht, vermutet. Insolvenzgefährdete Unternehmen können mit Hilfe des, weitgehend unter ihrer eigenen Regie gestaltbaren, präventiven Restrukturierungsrahmens ihre Restrukturierung selbst angehen. Dabei können sie auf Mechanismen zurückgreifen, die Rechte von Gläubigeren zu ihren Gunsten begrenzen, was bisher nur dem Insolvenzverfahren vorbehalten war.

Besonders weitgehende Vorstellungen der Bundesregierung wurden nach heftiger Kritik gestrichen. Sonst wäre es dem restrukturierungswilligen Unternehmen zukünftig sogar möglich gewesen, auch außerhalb eines Insolvenzverfahrens einseitig zu eigenen Gunsten Verträge zu annullieren, sofern dies zur „Erreichung des Restrukturierungsziels erforderlich“, gewesen wäre, also dessen Rettung ermöglicht hätte. Dies hatte neben anderen Christoph Niering, Vorsitzender des Verbandes der Insolvenzverwalter (VID) kritisiert. Der Regierungsentwurf gehe so weit, dass es „das wechselseitige Vertrauen in die Vertragstreue“ … „nachträglich untergräbt“, obwohl sie bis dato einen „wesentlichen Pfeiler des deutschen Rechts“ dargestellt habe.

Auch wenn das Regierungsvorhaben an besonders gravierenden Stellen entschärft wurde, ist es auch in der jetzigen Fassung ein weiterer Baustein im stetigen Bemühen, Unternehmen vor dem endgültigen Aus zu bewahren, auch wenn dies profitable Gläubiger dieser Unternehmen schädigt und der gesamten Wirtschaft die Fähigkeit nimmt, wohlstandsstiftende Produktivitätsfortschritte zu erreichen.

Die neue Insolvenzgesetzgebung ist ein Alarmsignal, denn wir bewegen uns in einer Abwärtsspirale staatlichen Handelns. Dieses untergräbt allmählich die privatwirtschaftliche und rechtsstaatliche Basis der Wohlstandsentwicklung. Es wäre daher ein wichtiger erster Schritt, wenn in Betracht gezogen würde, dass die inzwischen von vielen Experten problematisierte Zombifizierung, anders als BIZ-Generaldirektor Carstens meint, doch „durch wirtschaftspolitische Maßnahmen versursacht“ sein könnte.


Mehr von Alexander Horn lesen Sie in seinem aktuellen Buch „Die Zombiewirtschaft – Warum die Politik Innovation behindert und die Unternehmen in Deutschland zu Wohlstandsbremsen geworden sind“ mit Beiträgen von Michael von Prollius und Phil Mullan.