Tichys Einblick
Leuna-Werke und andere

Die Deindustrialisierung in Deutschland und Europa nimmt weiter Fahrt auf

Es ist eine wachsende Liste von Industrieunternehmen, die die Akademie Bergstraße unter dem Stichwort Deindustrialisierung zusammengestellt hat. Es stellt sich die Frage, ob sich Europa aufgrund der explodierenden Gas- und Strompreise „auf dem Weg zum deindustrialisierten Kontinent“ befindet.

IMAGO

In der Dokumentation Ende August 2022 in Zusammenarbeit mit der Akademie Bergstraße berichteten wir über Produktionseinschränkungen, Standort-Verlagerungen und Unternehmensaufgaben in Deutschland und Europa wegen Energiemangels, stark steigender Energiepreise sowie CO2-Bepreisung und einer erdrückenden EU-Regulierung und ausufernder nationaler Bürokratie.

Inzwischen hat die Akademie Bergstraße ihre Dokumentation erweitert. Die folgende, zwangsläufig lückenhafte Zusammenstellung zeigt exemplarisch das Ausmaß der beginnenden Deindustrialisierung. Und das jüngste Beispiel, die Produktionsdrosselungen wie die des Chemie-Parks Leuna, ist noch gar nicht dabei.

Der Chemie-Park Leuna

Der 16. September 2022
Deutschlands schwarzer Freitag
Chemische Industrie in Sachsen-Anhalt vor dem Kollaps: Im Chemiepark Leuna haben viele Firmen angesichts der Energiekrise ihre Produktion zurückgefahren. Am Industriestandort Leuna kommen die Unternehmen wegen der hohen Gaspreise zunehmend in Bedrängnis. „Wir haben über den Schnitt der Betriebe am Standort aktuell Produktionseinschränkungen von ungefähr 50 Prozent“, sagte Christof Günther, Geschäftsführer der Infraleuna GmbH. Viele Firmen am Standort könnten nicht mehr wirtschaftlich arbeiten, so Günter, und brauchen dringend Unterstützung. „Denn es leuchtet jedem ein, dass ein defizitärer Anlagenbetrieb nur sehr begrenzte Zeit aufrecht erhalten werden kann.“

Angesichts der Probleme in Leuna fordert die IHK Halle-Dessau, schnell für ausreichend Energie im Markt zu sorgen. Auch über Fracking müsse man sprechen, berichtet der MDR Sachsen-Anhalt. Sollte keine Besserung in Aussicht stehen, könnte es dazu führen, „dass andere Anlagen, die aktuell noch wirtschaftlich betrieben werden können, auch außer Betrieb gehen müssen.“ Am Industriestandort Leuna arbeiten für rund 100 Firmen etwa 12.000 Menschen, darunter 600 in der Erdöl-Raffinerie.

Die chemisch-pharmazeutische Industrie in Deutschland

Glashütte und Papierindustrie betroffen
Energienot führt zu ersten Produktionsstillständen
Mit einem Anteil von 15 Prozent am Gesamtverbrauch ist die chemisch-pharmazeutische Industrie der größte Gasverbraucher in Deutschland. Wolfgang Große Entrup, Hauptgeschäftsführer beim Verband der Chemischen Industrie (VCI), warnt vor einer katastrophalen Entwicklung. „Die in die Höhe geschossenen Energiepreise treffen unsere Branche brutal. Die Lieferverträge vieler Mittelständler laufen bald aus. Die neuen Konditionen werden etliche Unternehmen vor unlösbare Probleme stellen“, so Große Entrup. Die Belastungen, die deutsche Unternehmen gerade stemmen müssten, gebe es in keinem anderen Industriesektor der Welt. Eine Verlagerung der Produktion ins Ausland fände daher bereits statt. Diese käme wahrscheinlich nicht wieder zurück. Wenn Unternehmen ihre Produktion herunterfahren oder ganz stilllegen, brechen im Dominoeffekt ganze Wertschöpfungsketten zusammen. Das wäre eine Katastrophe für den ganzen Wirtschaftsstandort Deutschland. „Wir sind nur noch einen kleinen Schritt davon entfernt, von einem der größten Industriestandorte der Welt zu einem Industriemuseum zu werden“, sagt Große Entrup. Einige Unternehmen würden jetzt versuchen, von Gas auf Öl umzustellen, doch die staatliche Bürokratie weiß das offenbar effektiv zu verhindern. „Die Umstellung auf Öl ist mit gewaltigen Anstrengungen und Investitionen verbunden. Einige Unternehmen sind längst so weit, bekommen aber zum Beispiel nicht die Genehmigung für einen Tank, in dem das Öl gelagert werden kann.“
Die Pfälzer Gießerei Heger ist insolvent

Corona-Krise und Zombifizierung
Das Politiker-Märchen vom „Wumms“ aus der Wirtschaftskrise
Alle vier Unternehmen der traditionsreichen Pfälzer Heger-Gruppe befinden sich im Insolvenzverfahren in Eigenverwaltung. Der Grund: Hohe Energie- und Materialkosten, Flaute bei Windenergie-Ausbau. Insbesondere die Preisexplosion beim Strom „trifft in Deutschland gerade eine ganze Branche mit traditionsreichen Gießereiunternehmen“, so Geschäftsführer Johannes Heger gegenüber der Rheinpfalz und moniert: „Andere Länder in Europa schützen ihren industriellen Mittelstand besser“. Dem Südwestrundfunk (SWR) sagte er: „Die Energiepreise bringen uns um.“ Die Stromkosten in der Gießerei seien von 100.000 Euro im Monat auf zuletzt 700.000 Euro angestiegen. Die Bundesregierung habe energieintensiven Unternehmen eine Liquiditätshilfe für die Zeit von Februar bis September 2022 angekündigt. Eine Auszahlung sei bisher aber nicht erfolgt. Ein günstiger „Industriestrompreis“ oder Finanzhilfen für den Mittelstand würden in der Bundesregierung zwar „diskutiert“, seien aber noch immer nicht auf den Weg gebracht worden. Zu dem familiengeführten Unternehmen gehören vier Fachbetriebe in denen ca. 270 Mitarbeiter beschäftigt sind.
Französischer Glaswarenhersteller Duralex geht in „Energie-Lockdown“

Skepsis als wertvolle Ressource in Krisen
Den Wohlstand spielerisch in die Tonne treten
Der traditionsreiche französische Glaswarenhersteller Duralex schließt im Departement Loiret für fünf Monate die Werkstore – wegen der hohen Energiepreise. Inzwischen entsprächen die Kosten für Energie 46 Prozent des Umsatzes, sagte Duralex-Chef José-Luis Llacuna dem Fernsehsender BFM Business. Unter den derzeitigen Bedingungen sei es unmöglich, die Produktion fortzusetzen. Daher begebe man sich in einen „Energie-Lockdown“. Laut dem Handelsblatt stellt sich in Frankreich die Frage, „was von der ohnehin schon dezimierten industriellen Basis der zweitgrößten Volkswirtschaft der EU in einigen Jahren noch übrig bleibt“. Laut Nachrichtenagentur AFP könnten etwa 300 französische Unternehmen wegen der hohen Energiepreise möglicherweise den Winter nicht überstehen.

Das Handelsblatt wirft die Frage auf, ob sich Europa aufgrund der explodierenden Gaspreise und Strompreise „auf dem Weg zum deindustrialisierten Kontinent“ befände. „Glashersteller in Frankreich, Stahlwerke in Spanien, Düngemittelfabriken in Polen: Überall in der EU wird die Produktion gedrosselt oder eingestellt.“

Automobilindustrie warnt wegen Energiekosten vor Deindustrialisierung

Wegen hoher Energiekosten befürchtet der Verband der Automobilindustrie (VDA) die Abwanderung zahlreicher Unternehmen. Der Grund: Unternehmen erhalten keine neuen Strom- und Gasverträge und wenn, dann zu horrenden Preisen. Insbesondere der massiv gestiegene Strompreis setze den Unternehmen der Automobilindustrie erheblich zu. Der Gaspreis stelle die zweitgrößte Herausforderung dar. „Für mehr als die Hälfte der Unternehmen sind die Energiekosten in diesem Jahr um mindestens 50 Prozent gestiegen, für 41 Prozent der Unternehmen haben sich die Energiekosten sogar mindestens verdoppelt“, schreibt der Branchenverband VDA in einer Pressemitteilung. Ein Drittel der Unternehmen bereitet sich auf mögliche Produktionseinschränkungen vor.

Über die europäische Industrie zieht ein „perfekter Sturm“

Der Verband der europäischen Metallindustrie (Eurometaux) erklärte laut Handelsblatt vom 22. September 2022, dass bereits die Hälfte der Zink- und Aluminiumproduktion in Europa stillstehe. Der Eurometaux spricht von einem „perfekten Sturm“ aus explodierenden Energiepreisen und unzureichenden Energieressourcen, der über die europäische Industrie hinwegzieht.

In Hannover Strom und Gas nur noch gegen 50 Prozent Vorkasse

Bei Handwerksbetrieben, die nur über wenig oder gar keine Rücklagen verfügen, könnte in Hannover bald das Licht ausgehen – bei einigen sogar für immer. Der kommunale Energieversorger „Enercity AG” verlangt von Handwerksbetrieben in Vorkasse zu gehen – die Unternehmen müssen bis zu 50 Prozent des Jahresverbrauchs vorstrecken, die Anzahlung ist sofort fällig. Für viele Unternehmen geht es um Beträge von weit über 100.000 Euro. Summen, die ihren finanziellen Ruin bedeuten könnten.

Windkraftanlagen-Bauer streicht 2900 Arbeitsplätze

Ausgerechnet ein Windkraftanlagen-Bauer: Die Siemens-Tochter Gamesa will 2900 Stellen bis 2025 streichen, 300 davon in Deutschland. Das kündigte das Unternehmen am 29.09.2022 an. Der Grund: explodierende Kosten bei der sehr energieintensiven Herstellung der Komponenten der Windkraftanlagen sowie Materialengpässe. Die fehlenden Fachkräfte zur Fertigung der Windräder wie überall bei den Windkraftbauern vor Ort dürften noch hinzukommen. Der Windkraftbauer Siemens Gamesa steckt tief in den roten Zahlen.

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