Tichys Einblick
Die EZB lebt im Lala-Land

Über die Zeitlupenaufnahme einer Ketchupflasche

Markus Krall fragte seine Leser:„Immer mehr Branchen melden explodierende Rohstoffpreise, Verknappung von Material, extrem lange Lieferzeiten und Rationierungen beim Einkauf von Produktionsmitteln, Rohstoffen, etc. Wenn es Ihnen auch so geht, schreiben Sie mir hier! Welche Branche? Welche Güter werden knapp? Wird rationiert oder zugeteilt? Woher kommen diese Güter? Wie stark steigen die Preise? Wie lange sind die Lieferzeiten? Führt das bei Ihnen zu Kurzarbeit oder gar Schließung?“

IMAGO / Westend61

Inflation ist wie eine Ketchupflasche. Sie schütteln sie und nichts kommt raus. Dann schütteln Sie sie fester und nichts kommt raus. Dann schütteln Sie sie mit aller Kraft und alles kommt auf einmal raus. Die Sauerei ist perfekt.

Das wirtschaftliche Äquivalent zum Schütteln der Flasche ist das Drucken von Geld. Sie können es eine ganze Weile drucken und nichts passiert. Das verleitet Sie dann zu dem Irrglauben, dass Sie das straflos einfach immer weiter tun könnten. Um Ihren Kumpels im Zentralbankrat zu beweisen, dass sie gar keine Angst haben müssen, halten Sie sich die Flasche beim Schütteln vielleicht noch grinsend über den Kopf. Was soll schon passieren?

Liebe Zentralbanker, das können Sie alles machen. Sie können auch ein Selfie mit der Inflationsketchupflasche auf die sozialen Medien stellen und uns vorführen, wie sie die immer kräftiger schütteln. Aber wundern Sie sich dann bitte nicht, wenn Sie demnächst aussehen, als wären Sie dem 70er Jahre Trashmovie „Angriff der Killertomaten“ entstiegen.

Zeit zum Lesen
„Tichys Einblick“ – so kommt das gedruckte Magazin zu Ihnen
Denn die Zeitlupenaufnahme des Inflationsgeschehens zeigt: Sie haben es schon lange übertrieben. Die ganze Tomatensoße kommt gerade in Gang und sie folgt dabei dem Muster, welches – nicht nur von mir – in der öffentlichen Diskussion um die Frage: „wann kommt die Inflation und wie entfaltet sie sich?“ beschrieben wurde. Sie frisst sich von den Rändern der Vermögenswertinflation über die Rohstoffe und langlebigen Güter in die Realwirtschaft hinein. Dieser Prozess ist in vollem Gange. Das weiß seit ein paar Monaten jeder, der irgendetwas mit der Bauwirtschaft zu tun hat. Aber hier kommt jetzt etwas, das mehr ist als nur „Anekdotenevidenz“. Es ist noch keine richtige Inflationsstatistik, aber es befindet sich auf halbem Wege dorthin. Es ist eine Sammlung von „Anekdoten“ mit solcher Dichte, dass man schon von einer Stichprobe sprechen kann, die uns erlaubt, begründete Hypothesen über die Genese der entstehenden Inflation zu formulieren.

Auf Twitter und Facebook habe ich eine Frage an meine auf beiden Medien zusammen fast 45.000 Follower gerichtet mit der folgenden Formulierung: „Immer mehr Branchen melden explodierende Rohstoffpreise, Verknappung von Material, extrem lange Lieferzeiten und Rationierungen beim Einkauf von Produktionsmitteln, Rohstoffen, etc. Wenn es Ihnen auch so geht, schreiben Sie mir hier! Welche Branche? Welche Güter werden knapp? Wird rationiert oder zugeteilt? Woher kommen diese Güter? Wie stark steigen die Preise? Wie lange sind die Lieferzeiten? Führt das bei Ihnen zu Kurzarbeit oder gar Schließung?“

Die Reaktion war schnell und überwältigend. In nur drei Tagen erreichten mich über 650 Antworten von Unternehmern, Kunden, Managern, Handwerkern und Bauherren. Das Bild war nur insofern heterogen, als die mitgeteilten Preissteigerungsraten und Lieferzeiten eine gewisse Spreizung aufwiesen, jedoch war die Richtung eindeutig. Auf Basis der 230 Antworten auf Twitter habe ich eine erste quantitative Auswertung gemacht. Sie gibt ein Bild davon, was in den Sektoren Bau, Elektro, Elektronik, Fahrzeugbau, Kunststoffindustrie, Lebensmittel, Logistik, Verpackung, Maschinenbau und Pharma passiert.

Die Hauptstörung des Produktionsprozesses geht offenbar von der globalen und lokalen Logistik aus, wo von Preissteigerungen zwischen 100% und 1.500% berichtet wird. Das betrifft insbesondere Container und Frachtraten für den Import, aber auch LKW-Speditionspreise. Die Preissteigerung geht einher mit einer Verknappung der Verfügbarkeit, unbestimmten Lieferzeiten und Staueffekten bei der Lagerhaltung.

Die Disruption der Lieferketten hat offenkundig das global fein und filigran austarierte System der „just-in-time“ Disposition gründlich erschüttert. Risikopuffer waren und sind nicht vorhanden, die Schockwelle der Coronapolitik pflanzt sich ungefiltert durch die Produktions- und Lieferketten hindurch fort.

Wie die EZB das Inflationsziel aufweicht – und damit den Euro
Die zweitstärksten Effekte werden aus der Branche berichtet, die wie keine andere von genau diesen globalen Lieferketten abhängig ist, nämlich der Elektronikindustrie. Hier wird von Preiserhöhungen zwischen 12% (Mikrochips) bis 1.000% (Mikrocontroller) berichtet, im Schnitt liegen die berichteten Preissteigerungen bei 200%. Schwerpunkte bei Endprodukten sind Grafikkarten (100%), Laptops mit Spezialanwendungen (50%) und Folientastaturen (50%). Auch die avisierten Lieferzeiten der Hersteller sind für diese Nachfrager stark angestiegen, gemeldet wird eine Bandbreite von acht Wochen (EC-Lesegeräte) bis 68 Wochen für Mikrocontroller und ein Jahr für Messgeräte in der Spezialchemie.

In der Bauwirtschaft werden die Effekte schon seit einigen Monaten beobachtet und führen dort zu Kurzarbeit, Lieferproblemen und einer nicht mehr gegebenen Kalkulierbarkeit von Bauprojekten. Gemeldet werden Preissteigerungen von bis zu 500% für Harze und Lösemittel, 70% bis 170% für Rigips, Türrahmen, Zement und Steine, 100% für Betonstahl, 65% für Stahlgitter, 100% für Silikonspritzguss, 100% für Kabel und Leitungen, Holznormteile und diverse Chemikalien, 200% für Parkett. Die Lieferzeiten sind auf bis zu einem Jahr (OSB Platten und Naturstein) gestiegen, viele Produkte sind gar nicht lieferbar. Berichtet wird von einem Hersteller von Fertighäusern, der seinen Kunden 20.000 Euro für die Stornierung des Kaufvertrages anbietet, weil er nicht mehr kostendeckend liefern kann.

Brancheninsider warnen
Plastik-Knappheit: “Gemengelage, die uns regelrecht um die Ohren fliegen wird”
Bei KFZ- und Fahrzeugbau betragen die Preissteigerungen von einzelnen Zulieferprodukten laut Umfrage zwischen 50% (Kunststoffe) und 100% (Reifen bestimmter Fabrikate und Größen). Problematischer scheinen jedoch nicht die Preissteigerungen zu sein, die dort noch nicht auf breiter Front eingetroffen sind, sondern die Lieferengpässe und -ausfälle. Lieferzeiten von sechs Monaten und Rationierung von Halbleitern hat schon zu erheblichen Produktionsausfällen geführt, was die Preise für Neu- und Gebrauchtwagen treibt. Bei Neuwagen wird dies mit Verzögerung sichtbar, weil die Preissteigerung zu Beginn nicht nominal erfolgt, sondern nur im Wegfall der Rabatte besteht.

Bei Lebensmitteln, also dem Bereich, der in der offiziellen Inflationsstatistik besonderes Gewicht hat, ist das Bild noch sehr heterogen und die Zahl der Antworten klein. Einzelne Ausreißer sind jedoch auch hier schon unverkennbar: Tee und Kaffee schlagen im Einkauf mit 20% zu Buche, argentinische Rindersteaks sind angeblich 100% bis 200% teurer als vor einem Jahr. Auffällig sind die Lieferzeiten, die für Lebensmittel mit acht Wochen sehr hoch sind. Die Effekte konzentrieren sich auf Importware. Bei Lebensmitteln werden wir wahrscheinlich Effekte in der Breite dann sehen, wenn die um 30% bis 200% gestiegenen Kosten für Verpackungsmaterialien auf die Preisgestaltung der Supermärkte durchschlagen.

Von außen nach innen. Das ist der Weg, den sich die Entwertung des Geldes von der Finanz- in die Realwirtschaft frisst. Die EZB hält derweil am „Inflationsziel über 2%“ fest, kündigt an, die Zinsen auf Jahre negativ zu halten und druckt Geld, als gäbe es kein Morgen. Noch sind diese Zahlen nicht ohne großen Research-Aufwand belastbar, aber die Reaktion auf die Umfrage zeigt: Wo Rauch ist, das ist auch Feuer!

Wenn sich die in dieser kleinen Umfrage kondensierte anekdotische Evidenz zu überall spürbarer Statistik mit voll belastbaren Signifikanzwerten verdichtet haben wird, ist es für Gegensteuern lange zu spät. Das ist es wahrscheinlich jetzt schon. Die EZB lebt im Lala-Land. Und Lala-Land ist demnächst abgebrannt. Sie finden die Antworten auf meine Twitterumfrage bei @markus_krall.