Tichys Einblick
BDI: "Deutschland fällt zurück"

Immer mehr Unternehmen drohen mit Abwanderung

BDI-Chef: Deutschland ist im Vergleich mit anderen Wirtschaftsregionen weiter zurückgefallen. Im Ranking der Wettbewerbsfähigkeit fällt Deutschland um sieben Positionen zurück auf Rang 22 unter 64 Nationen.

IMAGO / dts Nachrichtenagentur

Im März 2023 hatte Kanzler Scholz noch ein  grünes Wirtschaftswunder angekündigt. Deutschland werde im Zuge der Energiewende und der grünen Transformation Wachstumsraten wie zu Zeiten des Wirtschaftswunders in den 50er-Jahren erleben. Die Reaktionen aus der Wirtschaft reichten von Zustimmung über Skepsis bis zu Fassungslosigkeit.

Drei Monate später, beim Tag der Industrie redet BDI-Chef Russwurm Klartext. Wegen der hohen Energiepreise drohen immer mehr Unternehmen mit Abwanderung. Deutschland sei im Vergleich mit anderen Wirtschaftsregionen weiter zurückgefallen, konstatierte Russwurm. „Der Blick auf die Realitäten gibt Anlass zu vielen Sorgen. Wir sehen das Land aktuell vor einem Berg wachsender Herausforderungen.“ – Dagegen „hört der Kanzler nur ein leichtes Knirschen“.

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Fakt ist, bereits seit geraumer Zeit, statt eines minimalen Anstiegs des Bruttoinlandsprodukts von 0,1 Prozent rechnet der World Economic Outlook für Deutschland im Jahr 2023 ein Minus von 0,1 Prozent aus. Derzeit befindet sich Deutschland in einer „technischen Rezession“.

Demgegenüber wird das weltweite Bruttoinlandsprodukt (BIP) laut der Prognose um 2,8 Prozent gegenüber dem Vorjahr wachsen. Für das Jahr 2024 wird das weltweite Wirtschaftswachstum auf rund 3 Prozent gegenüber dem Vorjahr prognostiziert. Mithin befindet sich Deutschland unter den Schlusslichtern der Top-Nationen in der Betrachtung der wichtigsten Volkswirtschaften weltweit.

Nun unterstrich der BDI-Chef auf dem Tag der Industrie in Gegenwart von Olaf Scholz, zwar habe der Bundeskanzler ein neues Wirtschaftswunder versprochen, doch in zwei der drei Regierungsparteien würde stattdessen über Steuer- und Abgabenerhöhungen diskutiert. Deutschland müsse schnell handeln, aber die Regierung rede bislang vor allem – und Russwurm listet auf: Statt der benötigten fünf neuen Windräder sei in den vergangenen Monaten durchschnittlich eben nur eines gebaut worden. „Das Delta zwischen Ambition und Umsetzungspraxis wird täglich größer“, kritisierte Russwurm. „Vieles von dem, was Sie sagen, findet sich nicht im Handeln der Bundesregierung wieder“, stellte Russwurm fest.

Wichtig sei, dass die Unternehmen zu wettbewerbsfähigen Preisen mit Energie versorgt werden. „Der Strom muss 24 Stunden am Tag fließen – auch bei Dunkelflaute“, mahnte der BDI-Chef. Dafür müssten schnell nicht nur Stromnetze ausgebaut werden, sondern auch neue Kraftwerke geplant und gebaut werden. Das gehe viel zu langsam voran. „Mit Luftschlössern und Powerpointfolien können wir die Energiewende nicht schultern“, so Russwurm.

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Scholz betont: „Wir müssen zur fiskalpolitischen Normalität zurückkehren … Manche Subvention und manches Förderprogramm wird auf dem Prüfstand stehen.“ Der Kanzler setzt auf drei Prioritäten: die Sicherheit des Landes, die Umstellung auf eine klimaneutrale Industrienation und den Erhalt des sozialen Zusammenhalts im Land. Die Probleme der vergangenen Zeit sind für Scholz nicht mehr als eine Randnotiz. „Dass das nach Jahren des Stillstands nicht ohne Knirschen abgeht, liegt auf der Hand“, meint der Kanzler. „Wir haben gerade noch rechtzeitig die Kurve gekriegt und jetzt quietscht es ab und zu, weil die Kurve so scharf ist.“

Doch es ist nicht „die Kurve, die so scharf ist“, wie Scholz das Desaster rhetorisch glätten möchte. In einem Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung geht Christian Kullmann, Vorstandschef des Chemiekonzerns Evonik, hart mit der Wirtschaftspolitik der „Ampel“ ins Gericht und warnt vor einem Wirtschaftskollaps. Wie kommt das Land aus der Wirtschaftskrise wieder heraus?, lautet die Frage. Kullmann: „Die einzige wirtschaftspolitische Diskussion, die noch geführt wird, geht darum, wie noch mehr Geld umverteilt wird. Woher dieses Geld aber kommen und wie der Wohlstand gesichert werden soll, darüber wird geschwiegen. Die Politik hat ein bizarres Verhältnis zur Wirtschaft entwickelt.“

Und zu Wirtschaftsminister Habeck sagt Kullmann: „Die lahme Bürokratie, die marode Infrastruktur und die hohen Kosten führen dazu, dass immer mehr Unternehmen ins Ausland gehen. In Asien, im Nahen Osten und in Amerika sind die Investitionsbedingungen aktuell besser als hier. Wenn Habeck hier nicht nachsteuert, ist Deutschland bald nicht nur ein ärmeres Land.“ Und weiter: „Die Chemie-Industrie hat es schwer, in Deutschland wettbewerbsfähig zu produzieren. Schuld daran trägt vor allem die Energiepolitik der vergangenen Jahre, die sich gegen die Interessen der deutschen Volkswirtschaft gerichtet hat. Wir brauchen also ein neues Wirtschaftsverständnis, das sich leidenschaftlich für dynamisches Wachstum einsetzt. Da sind Habeck und die Bundesregierung jetzt in der Pflicht.“

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Und es wird Tag für Tag offensichtlicher: „Deutschland hat ein Problem mit seiner Wettbewerbsfähigkeit, jedenfalls wenn man dem Management-Institut IMD in Lausanne glaubt, das seit 35 Jahren die Länder nach deren Attraktivität für Firmen ordnet. Deutschland fällt gemäss dem jüngsten Ranking um sieben Positionen zurück auf Rang 22 unter 64 Nationen“, schreibt die Neue Zürcher Zeitung.

Deutschland rangiert damit sogar noch eine Position hinter China. Österreich auf Position 24 muss sich ebenfalls mit einer ungewohnt schlechten Platzierung begnügen. Im „Konkurrenzprodukt“ des World Economic Forum war Deutschland zuletzt immerhin noch an neunter Stelle gewesen, aber dessen letzte Auswertung liegt schon zwei Jahre zurück.

Was steckt hinter dem Abstieg Deutschlands?, fragt die NZZ. Das Ranking des IMD bildet die Sicht des Privatsektors auf das Land ab. Das Lausanner Institut verwendet 164 harte Indikatoren sowie eine Umfrage unter 6400 Managerinnen und Managern, um auf die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes zu schließen. All diese Zahlen fließen in vier Pfeiler ein: in die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, Effizienz des Staates, Effizienz der Firmen sowie in die Güte der Infrastruktur. Deutschland steht bei allen vier Pfeilern schlechter da als vor einem Jahr.

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