Tichys Einblick
Risikogesellschaft

Sperrt das Land wieder auf. Wir können es riskieren.

Mittlerweile sind wir alle Virologen durch Heim-Studium. Wir kennen die Risiken. Wer bereit ist, sie zu tragen, soll sich auf einen abenteuerlichen Weg begeben: Auf den Weg zum Arbeitsplatz.

© Bettina Hagen

Sicherlich kennen Sie auch dieses Gefühl: Man trifft einen alten Bekannten, tritt ihm freudestrahlend entgegen – und beide ziehen die bereits halb ausgestreckte Hand wieder zurück. Die Begrüßung mit dem neuen Willkommensgruß auf zwei Meter Distanz wirkt etwas unterkühlt. Obwohl die Läden wieder geöffnet werden dürfen, bleiben die Innenstädte noch weitestgehend leer. Mit Mundschutz im Gesicht verlaufen Verkaufsgespräche mümmelnd, die Lust am Konsum flaut ab, wenn das Virus an der Theke lauert. Es ist wie auf den barocken Vanitas-Bildern – irgendwo grinst ein Totenschädel oder klappert ein Skelett: Mensch, gedenke des Sterbens! Wer braucht da schon einen neuen Panama-Hut oder Bikini?

Corona und seine Gefährlichkeit ist jedem bewusst. Gerade deshalb sollten jetzt die Beschränkungen gelockert werden. Gesundheitsschutz ist vor allem auch Eigenverantwortung; wem das Risiko Kinderspielplatz oder Büro zu hoch ist, soll zu Hause bleiben.

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Wer glaubt, es tragen zu können, sollte sich frei bewegen – hinter einer Maske, die andere schützt. Auch andere Einschränkungen sollten sein – kein Oktoberfest, keine überhitzte Disko, kein vorhersehbares Gedränge. Aber Altersbegrenzungen braucht es nicht – was ist ein Leben in einer Einzel-Zelle ohne Besuch noch wert? Noch einmal die Enkel zu sehen, mag vielen wichtiger sein, als in Einsamkeit dahin zu vegetieren. Auch Einsamkeit tötet. 

Das ist keine Verharmlosung von Corona. Es ist der Aufruf zum bewussten Umgang mit einem Risiko, dessen wir uns alle nach mindestens drei Monaten intensiver Auseinandersetzung gewahr sein sollten. Das Leben ist nicht ohne Gefahr und Risiko zu haben. Das gilt für den Einzelnen und das gilt für die Gesellschaft. Die Entwicklung des Ackerbaus war ein gigantischer Freilandversuch, Viehzucht genetische Manipulation ohne Risikofolgenabschätzung, Metallverhüttung begann ohne das Gutachten eines Öko-Instituts oder eine Arbeitsplatzschutzverordnung.

Der Soziologe Ulrich Beck hat die sozio-kulturelle Veränderung beim Übergang von der Mangelgesellschaft zur Wohlstandsgesellschaft als „Risikogesellschaft“ charakterisiert. In reichen Gesellschaften treten Gesundheits-, Umwelt- oder sonstige abstrakte Sicherheitsrisiken in den Vordergrund und sollen so weit wie möglich eliminiert werden. Das ist auch richtig so. Allerdings stehen wir gerade bei einem erneuten Übergang, und zwar zurück.

Wenn wir weiter ohne Wirtschaft leben wollen, ist schnell die Mangelsituation wieder da, in der man bereit sein wird, für ein Stück Brot ein Risiko einzugehen, das heute den Nanny-Staat zum Einsatz zwingt. Nur in verwöhnten Wohlstandsgesellschaften ist der Nervenkitzel zum Freizeitvergnügen verkommen: Bis Februar waren noch die Abenteuerreisen an die exotischsten Orte in jedem Off- oder Online-Reisebüro der Renner, wie wär’s mit der Sahara als Urlaubsort? Heute holt Heiko Maas gestrandete Urlauber aus dem südlichsten Zipfel Patagoniens zurück.

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Wir sind zur Vollkasko-Gesellschaft verkommen. Oder doch nicht? Die Fahrt auf einer Autobahn ist bekanntlich des Deutschen liebstes Abenteuer; hätte einer unserer Steinzeitvorfahren, der noch den Säbelzahntiger kannte, eine Stunde auf der A4 überlebt, er hätte den Rest seines Lebens am Lagerfeuer in der Höhle davon erzählt: Jagen, abdrängen, behindern und dabei den Stinkfinger hoch erhoben – wir nennen das sportlich fahren, ehe wir von der Brücke Bungee springen, den Fallschirm umschnallen, das Segel hissen.

Die Zahl der Verkehrstoten nimmt ständig ab. Straßenbau, Sicherheitsvorkehrungen in jedem Auto, perfekte Rettungsdienste – wir senkendes Risiko ab und fahren noch schneller. Als AIDS auftrat, schien das Ende der zivilisierten Gesellschaft nahe; ernsthafte Autoren fürchteten, in Afrika könnte sich die Bevölkerung halbieren, Arbeitskräfte in den Minen knapp werden. AIDS ist nicht verschwunden, es gibt keine Impfung dagegen, und doch managen wir die Krankheit, auch weil wir uns der Gefahr bewusst sind.

Es gibt keine absolute Sicherheit; nur unsere Bereitschaft, Risiken einzugehen verändert sich der schieren Not und dem Wohlstand angepasst. Wir rauchen, achten zu wenig auf Bewegung und Ernährung, tolerieren angegessene Diabetes, Bluthochdruck und Alkoholismus. Das sind tödliche Risiken. Ja, sie sind individuell, Folge persönlicher Entscheidungen. Wir werden auch über das Corona-Risiko entscheiden müssen. Denn der Versuch, das Risiko Corona auszurotten muss scheitern. Wir müssen damit leben.

Kalkulierend das Risiko eingrenzen, ohne es auf Null stellen zu können. Den Virologen mag das nicht behagen. Aber Menschen und Gesellschaften leben ständig mit ungeheuren Risiken; wir haben gelernt, damit umzugehen – manche möglichst auszuschließen, andere einzuhegen, zu versichern, in jedem Fall zu kalkulieren und manchmal zu suchen wie Ötzi den Weg über einen Gletscher. Manchmal geht’s schief, früher sogar öfter. Aber ohne dürften wir keine Eisenbahn betreiben, kein Speiseeis lutschen, keinen Zahn ziehen, nicht fliegen. Kaum haben wir Risiko ausgeschlossen oder minimiert erfinden wir es neu.

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Der Freizeitforscher Horst Opaschowski hat den Freizeitkonsumenten wie folgt charakterisiert: „Der moderne Erlebniskonsument gleicht einer modernen Chimäre, einem Fisch-Vogel-Känguru-Wesen, das sich im Wasser, in der Luft und auf der Erde Sprünge erlauben kann, die eigentlich die menschlichen Fähigkeit überfordern: Schnorcheln und Tiefseetaucher, Drachenfliegen und Paragliding, Freeclimbing und Fallschschirmspringen. Die menschliche Phantasie wagt sich an immer kühnere Träume heran, begnügt sich jedoch mit den Träumen nicht, sondern macht sie wirklich wahr.“

Und jetzt reicht unser Bewegungsraum bloß noch bis zu Terrasse oder Balkon, wenn es nach den ganz strengen Forderungen der Viren-Talibans geht?

Ich möchte die Politiker nicht für ihre bisher getroffenen Entscheidungen kritisieren, das wäre billig. Wer aus der Kirche kommt, kennt die Predigt. Aber jetzt wissen wir, was Corona ist. Und es verliert seinen Schrecken, weil wir ihm jetzt acht Wochen in die Augen geschaut haben und sich andere Risiken aus den Ritzen heraus in unser Leben schleichen: Das Risiko zu verarmen – und zwar nicht nur einen kurzen Sommer, sondern richtig lang.

Dieses Risiko kann uns kein Kurzarbeitergeld mildern und keine Europäische Zentralbank. Mit Staatsverschuldung und Währungsmanipulation steigen wirtschaftliche Risiken, die wir derzeit am liebsten verdrängen und die doch unsere wirtschaftliche Zukunft gefährden. Das Risiko am Herzinfarkt zu sterben, weil Kliniken für Corona-Fälle reserviert sind, es wächst jeden Tag.

Wer arbeiten will, soll es tun. Wer lieber zu Hause bleibt, soll zu Hause bleiben – aber auch nicht von anderen den Ersatz des vermiedenen Einkommens verlangen: Wir müssen wieder lernen, die Auswirkung einer Entscheidung selbst tragen zu müssen. Dazu gehört auch die Abwägung zwischen wirtschaftlichem und gesundheitlichem Risiko. Wenn wir uns dessen bewusst sind, verliert vieles seinen Schrecken. Und wir treten wieder durch das Tor, das heute unsere Haustür ist: Ins Reich der Freiheit und der Möglichkeit, statt uns im Bett vor uns selbst zu verstecken oder von der Polizei angeraunzt zu werden, wenn wir mit mehr als einer Person sprechen.

Sperrt das Land wieder auf. 

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