Tichys Einblick
SERIE: "WO KOMMST DU HER?"

Groß geworden unter der Generation „Lebst Du noch?“

„Wo kommst du her?“ zu fragen ist erlaubt. Es macht dich aus, aber es ist nicht alles. Erinnerungen an eine Zeit, in der viele eher fragten: "Wo liegt er?" Oder: "Wo hat es dich erwischt?"

Denkmal für Heimatvertriebene in Frankfurt am Main

IMAGO / Panthermedia
„Wo kommst Du her?“, wurde bei uns im Fabrikdorf nicht gefragt. Wozu auch? Da wohnten die Kaczmareks neben den Mazurs, und dazwischen die Eschelbergers und Hannichs. Manche hatten noch diese schweren slawischen Silben, und viele waren gebildeter und klüger als die langsameren Einheimischen und kamen aus großen Städten in den Sudeten. Das Rechtschreibprogramm macht übrigens „Sudeln“ draus, weil das Wort schon nicht mehr so geläufig ist. Es ist ein Wort von den deutschen Herkünften.

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Ja, es gab auch ein schwarzes Mädchen bei uns. Sie war von einem Ami, und der war weg, tuschelten die Leute. Ich hatte kaum Kontakt zu ihr, sie war aus einer anderen Kindergang, denn die waren nach den Wohnblocks sortiert oder nach denen, deren Eltern schon im klapprigen Eigenheim wohnten: Die Kinder vom Werkswirtshaus gegen die vom „Franzosenhaus“, da waren in den napoleonischen Zeiten mal Franzosen einquartiert und die Klos seither immer noch nicht vom Gang in die Wohnungen gerichtet. Im Übrigen gab es ja noch viele, bei denen die Väter weg waren oder bei den etwas Älteren nicht mehr wiedergekommen oder „draußen geblieben“ waren; Vaterlosigkeit hatte viele Gründe und überhaupt wurde Vaterland ja bald verboten.

Ich bin eben noch aus der Generation, in der man nicht gefragt hat „Wo kommst Du her?“, sondern „wo liegt er?“, der Bruder, der Onkel, der Vater, oder „wo hat es dich erwischt?“, wie unsere verkrüppelten Väter sich gegenseitig nach dem Ort ihrer prägenden Lokation fragten. Auf der allgegenwärtigen Landschaft des Todes war Kreta die größte Landfläche, weil die Hälfte der Männer dort geblieben waren, gefolgt von Russland und Narvik und Frankreich und Polen, die Geographie war Grauen und Verlust.

Später kamen dann einzelne Ungarn und Tschechen und viel später dann die Türken, die übernahmen die schlechten Wohnungen, und dann kamen die Rumänen und Russen. Die haben sich alle schwer getan, am Anfang. Und der war meist ein Leben lang. Ja, es gab schon auch die Alteingesessenen, aber deren Töchter mussten auch einen von den Neuen nehmen, weil die Hoferben und ihre Brüder irgendwo geblieben waren, und so waren die alten Trennungen überholt worden durch das irgendwie Leben-müssen. „Die große Völkermühle“ nennt Carl Zuckmayer den Rheingraben, weil sich da alle gefunden haben.

„Da war ein römischer Feldhauptmann, ein schwarzer Kerl,
braun wie ne reife Olive, der hat einem blonden Mädchen Latein beigebracht.

Und dann kam ein jüdischer Gewürzhändler in die Familie,
das war ein ernster Mensch,
der ist noch vor der Heirat Christ geworden und hat die katholische Haustradition begründet. Und dann kam ein griechischer Arzt dazu,
oder ein keltischer Legionär,
ein Graubündner Landsknecht,
ein schwedischer Reiter,
ein Soldat Napoleons,
ein desertierter Kosak,
ein Schwarzwälder Flözer,
ein wandernder Müllerbursch vom Elsaß, ein dicker Schiffer aus Holland,
ein Magyar, ein Pandur,
ein Offizier aus Wien, ein französischer Schauspieler,
ein böhmischer Musikant

– das hat alles am Rhein gelebt, gerauft, gesoffen und gesungen und Kinder gezeugt.“

Es war nicht nur am Rhein so und hat auch nicht aufgehört.

Zuwanderung beginnt nicht mit den Gastarbeitern, wie neuerdings immer so getan wird. Die Tabuisierung der eigenen Geschichte führt nur zu Blindheit. „Woher kommst Du?“ hat früher weniger interessiert. Weil es ums Überleben ging. Wenn bei uns die Fabriksirene heulte, nicht um 6 Uhr und nicht um 12 Uhr und nicht um 18 Uhr, sondern zwischendurch in der Nacht oder mitten am Tag, dann rannten die Frauen alle, gleich welcher Herkunft zum Werkstor, weil es ihrer hätte sein können, den es erwischt hat. Ich bin groß geworden unter der Generation „Lebst Du noch?“. Das war die Frage und nicht „Wo kommst Du her?“. Die große Angst ist der große Gleichmacher.

Diese Frage hat mir erstmals Alexander Mann gestellt. KGB-Aufpasser auf einer Reise durch die zerfallende Sowjet-Union. Wir hatten uns auf einem Schiff über den Baikal-See angefreundet. Mein Urgroßvater kam irgendwoher aus Russland zum Eisenbahnbau nach Oberbayern und blieb da hängen. Sein Urgroßvater wanderte aus Schlesien zum Bau der Eisenbahn nach Sibirien. „Dein Vorfahr war schlauer als meiner“, sagte Alexander in die rote, untergehende Sonne über dem weiten Wasser hinein. „Wo kommst Du her“ ist Glück oder Pech, je nachdem.

Neuerdings wird die Frage öfter gestellt. In den Abiturklassen werden die, die meinen Namen tragen, gefragt: „Kommst Du aus Russland?“ Die Frage ist neuerdings wichtig. Die Klassen sortieren sich nach Ethnien. Tonangebend sind die Macho-Türken. Sie werden in Schach gehalten von den Jungs aus Russland und Kroatien, Geschichte wiederholt sich in der Oberstufe. Türkische Mädchen sind schlau und still und viele verschwinden mit 16, kommen nach den Ferien nicht mehr zurück. Ein paar deutsche Bubis ducken sich weg. Ihnen hat man die Geschichte ausgetrieben, gründlich. Die ständig gepredigte Identitätspolitik zwingt Jugendliche in Identitäten, die sie vielleicht gar nicht wollen, in denen sie eingesperrt werden. Integration geht anders. Irgendwo kommst Du an und da bist du. Und „Wo kommst Du her?“ zu Fragen ist erlaubt, wenn Du dafür stehst, wo Du bist. Es macht dich aus, aber es ist nicht alles.

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