Tichys Einblick
Gegen Wahlbeeinflussung mit Umfragen

Zu Risiken und Nebenwirkungen von Wahlprognosen …

ZDF und ARD wären gut beraten, die Ergebnisse aller sieben führenden Umfrage-Insti­tute wie Nachrichten zu behandeln, ohne sich Prognosen eines In­stituts zueigen zu machen. Keine gebührenfinanzierte Prognosen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen

© Sean Gallup/Getty Images

Viele Wähler geben bei Wahlumfragen unwahre Antworten. Dreimal hat das am vergangenen Freitag (15.9.) Matthias Fornoff im ZDF mit Blick auf die AfD eingeräumt. Weil AfD-Wähler bei Umfragen offenbar mehr lügen als andere – warum auch immer – seien Wahlprognosen über die AfD schwieriger als normal, so Fornoff sinngemäß. Der ZDF-Moderator unterdrückte aber, dass Prognosen immer schwierig sind, besonders wenn es um die Zukunft geht.

Fornoff wird blass und Schönenborn kratzt sich am Kopf

Bei der berühmte Sonntagsfrage: „Welche Partei würden sie wählen, wenn am nächsten Sonntag Bun­destagswahl wäre?“ räumt das ZDF-Politbarometer der AfD einen Anteil von 10 Prozent am gesamten Kuchendiagramm aller Befragten ein. „Hier stock ich schon und kann das Wort so hoch nicht schät­zen“, heißt es in Goethes „Faust I“. Denn so viel ist klar: Am Sonntag nach der ZDF-Umfrage vom Freitag, den 14.9. gab es gar keine Bundestagswahl. Und wie oft hat das ZDF-Politbarometer erst den Befragten, und dann den Zuschauern den groben Unfug einzuhämmern versucht: „Stell Dir vor, dass am nächsten Sonntag Wahlen sind …“ Es ging aber niemand hin, weil gar keine Wahlen waren? Außerdem fallen die Erstimmen bei der irrealen Sonntagsfrage nach der Parteienvorliebe unter den Tisch. Wenn die Wähler mit zwei Stimmen wählen, können die Umfragen die Erststimme nicht ignorieren. Da wird Fornoff blass und Schönenborn kratzt sich am Kopf.

„Welche Partei würden Sie wählen, wenn am Sonntag Bundestagswahl wäre?“

Zweitstimmen-Prozentanteile der Parteien, Stichproben von sieben Umfrage-Instituten,

in der Zeit von 6.9. bis 15.9. 2017

6 Parteien: Tiefster Messwert Häufigster Messwert Höchster Messwert
CDU/CSU 36 % 3 x 37 % 38 %
SPD 20 % 2 x 23 und 2 x 24 % 24 %
Grüne 6 % 3 x  8 % 9 %
FDP 8 % 3 x 10 % 10 %
Linke 8 % 4 x  9 % 10,5 %
AfD 8 % 2 x 9 % 12 %

 

Sonstige   3,5 % 3 x 5 %   5 %

Quelle: www.wahlrecht.de und eigene Berechnungen. Klassifikation aller Umfragen von Allensbach, Emnid, Forsa, For­schungsgruppe Wahlen, GMS, Infratest dimap, INSA – ohne Berücksichtigung der Erststimmen.

Umfragen sind Stichproben. Es werden etwas mehr als 1.000 zufällig ausgewählte Wahlberechtigte be­fragt und dann das Ergebnis der telefonisch geführten Umfragen auf die Gesamtheit aller Wahlberech­tigten hochgerechnet. Rechnen statt wählen? Eine riskanter Schluss vom Teil aufs Ganze, mit all seinen Tücken, Fallstricken und wahrscheinlichkeitstheoretisch möglichen Rechenfehlern, soviel ist klar. Bei einer Umfrage an einem CDU-Stammtisch bekommt man ein anderes Ergebnis als bei einer Umfrage an einem AfD-Stammtisch. Auf diese Probleme der Stichprobentheorie soll hier aber nicht näher eingegangen werden.

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Gewiss, die Wahrscheinlichkeitsrechnung spielt z.B. bei der Berechnung der Lebenserwartung in der Versicherungswirtschaft eine wichtige Rolle. Doch das ist etwas für Mathematiker wie Johann Carl Friedrich Gauß. Er war es, der die Gauß’sche Normalverteilungskurve erfand, also an der Wahrschein­lichkeitstheorie maßgebenden Anteil hat. Doch Sterbetabellen und Wahlumfragen sind zwei verschie­dene Dinge. Wie auch immer, antwortet bei allen Umfragen ein großer Teil. „Das weiß ich nicht.“ Oder: „Das weiß ich noch nicht.“ Was tun? Kann man darüber einfach hinweggehen? Oder soll man zu den Risiken und Nebenwirkungen von Wahlprognosen den Arzt oder Apotheker fragen?

Die Wahlforscher lösen das Problem auf verschiedenen Wegen: Die einen konstatieren einfach, dass es die „Unentschlossenen“ gibt und dass es eben so ist, wie es ist. Doch dass Umfragen umso frag­licher werden, je größer die Zahl der Unentschlossenen ist, das fällt unter den Tisch. Die anderen schla­gen die „Unentschlossenen“ den Parteien im Verhältnis  der Angaben zu, die sie von den Entschlosse­nen erhalten haben. Sie extrapolieren also, wie es in der Fachsprache heißt. Auf Deutsch: Keine Ant­wort ist auch eine Antwort. Lässt man die Fünf gerade sein, dann werden sich die Unentschlossenen am Ende so entscheiden wie sich die Entschlossenen schon entschieden haben. Doch das ist eine stati­stische Mogelpackung: Die Zahl der Aussagen zur ohnehin irrealen Sonntagsfrage übersteigt die Zahl der tatsächlich erhaltenen Antworten um ein Drittel, gesetzt den Fall, dass jeder Dritte zu den Unent­schlossenen zählt. Kurzum: Je größer die Zahl der „Unentschlossenen“, umso kleiner wird die Aussa­gekraft der gezogenen Stichprobe und umso wackeliger Wahlprognosen.

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Nicht nur bei der AfD, auch bei der Union hat Fornoff im ZDF vorsorglich noch einen zweiten Fall­rückzieher gemacht. Unter den mehr als 1.000 Befragten kam die Union im Politbarometer zuletzt auf 36 Prozent, ein sehr schlechter Wert. Weil offenbar nicht sein kann, was nicht sein darf, gab Fornoff quasi eine „Wählerwarnung“ heraus und orakelte, der Union könne es so ergehen wie 2009. Damals seien viele Wähler von CDU und CSU der Wahl ferngeblieben, weil sie zur Unzeit angenommen hat­ten, die Wahl sei schon gelaufen. Frage an Fornoff: „Warum diese Warnung?“ Und Nachfrage an Fornoff: „Wie viele Wähler werden der CDU und der CSU am 24.9.2017 davonlaufen?“ Noch genau­er gefragt: „Wie hoch wird die Wahlbeteiligung sein? Welche Wähler werden welcher Partei da­vonlaufen, zu welcher anderen wechseln oder gar nicht wählen?“ Der Philosoph Wittgenstein sagt: „Was man überhaupt sagen kann, kann man klar sagen“: Und soviel ist klar: Wählerwanderungs-Bi­lanzen schon vor der Wahl?  Da schwimmen Fornoff und Schönenborn einfach die Felle davon.

Zu allem Überfluss sprang Klaus Kleber in den ZDF-Nachrichten vom 15.9. dem Kollegen Matthias Fornoff zur Seite und betonte, wie gut die Prognosen des ZDF bei den Landtagswahlen im Frühjahr 2017 waren. Davon hätte Kleber die Finger lassen sollen: Schon 2012 hatte es bei der Landtagswahl in NRW 23 „Überhänge“ gegeben, übrigens alle bei der SPD! Sie wurden ausgeglichen, aber nicht durch 23 sondern durch 33 Ausgleichsmandate, warum auch immer. Und wie war es 2017? Zur Überraschung aller erzielte diesmal die CDU 72 Direktmandate, aber nur 66 Listenplätze. Es gab also 6 „Überhänge“, aber 18 Ausgleichsmandate. Und 6 davon fielen an die CDU. Die Überhänge wa­ren diesmal nicht rot, sondern schwarz, und die CDU als alleinige Verursacherpartei der 6 schwarzen Überhänge bekam selbst auch noch sechs schwarze angepinselte Ausgleichsmandate. Weil das ZDF-Politbarometer die Erstimmen mit hartnäckiger Konsequenz vollständig ignoriert, konnte die Anstalt die „Überhänge“ gar nicht auf dem Schirm haben. Warum die Ausgleichsmandate bei der letzten Landtagswahl in NRW dreimal so groß waren wie die Überhänge, das weiß nicht einmal der Papst.

Wie groß werden die Überhänge 2017 sein?

Bei der Bundestagswahl v. 19.9.2009 gab es 24 „Überhänge“. Das war der bisherige Rekord. Sie entstanden in 299 Wahlkreisen, das gibt genau 299 Abgeordnete, keinen weniger und vor allen Dingen keinen mehr. Allen 299 direkt gewählten Abgeordneten hat der Wahlleiter bestätigt, dass sie sich zur konstituierenden Sitzung des Bundestages begeben sollen, weil sie in ihrem Wahl­kreis gewonnen haben. Es gibt keinen direkt gewählten Abgeordneten, dem sein Mandat in Wahrheit gar nicht zusteht. Daher gibt es auch keinen Rechtsgrund für einen Ausgleich. Deshalb Frage an Forn­off: „Hat das ZDF-Politbarometer die 24 Überhänge vorausgesagt oder nicht? Und wie war es 2013?“ Gab es damals nicht 4 sog. Überhänge, viel weniger als man erwartet hatte? Hat der Herr Bundestags­präsident, Norbert Lammert, in seiner Antrittsrede am 22.10.2013 nicht ausdrücklich bestätigt, dass man mit viel mehr Überhängen gerechnet hatte? Gewiss, das hat er. Allerdings hat er dabei vermieden, für die fehlende Prognose des ZDF-Politbarometers zu den 4 ignorierten Überhängen und den 29 ebenfalls ignorierten Ausgleichsmandaten bei der Wahl 2013 Ross und Reiter zu benennen.

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Medien-Aufmerksamkeit, Umfragen und Wahlen
Es gab aber noch eine zweite Überraschung: Wie schon gesagt, wurden 4 „Überhänge“ 2013 erst­mals ausgeglichen, aber nicht durch 4, sondern durch 29 Ausgleichsmandate. Der Ausgleich überstieg den Überhang um mehr als das Siebenfache. Wieso? Und warum? Und hat das ZDF-Politbarometer das auch nur im Ansatz vorausgesagt? Daher Nachfrage an Fornoff: „Erstens, wie groß werden die Überhänge 2017 sein? Und zweitens, wie groß wird der Mandatsausgleich 2017 sein?“ Fornoff und Schönenborn würden gut daran tun, ein strafminderndes Geständnis abzulegen und die fragwürdige „Sonntagsfrage“ einfach auf sich beruhen zu lassen, denn sie wissen es nicht. Sie können es nicht wis­sen. Niemand weiß es. Keine Wahlprognosen.

Die Abgeordneten, die lediglich ein nachgeschobenes Ausgleichsmandat bekleiden, werden nämlich nicht in allgemeiner, nicht in unmittelbarer, nicht in gleicher, nicht in geheimer und schon gar nicht in freier Wahl gewählt. Sie werden überhaupt nicht gewählt. Erst wenn die Wahllokale geschlossen und alle Stimmen ausgezählt sind, weiß man, ob es zu Überhängen kam, die dann durch nachgeschobene Ausgleichsmandate irgendwie „egalisiert“ werden. Ausgleichsmandate sind nachträgliche Eingriffe in das Wahlergebnis. Doch sollte es jemand im ZDF oder in der ARD wagen, einen nachträglichen Ein­griff in das Wahlergebnis vorherzusagen, dann würde jeder Beleuchter versuchen, größeren Unsinn abzuwenden und die Stecker zu ziehen, dann gingen in der „Anstalt“ natürlich alle Lichter aus.

Fornoff kündigte an, dass am kommenden Donnerstag (21.9.) das letzte Politbarometer ausgestrahlt werde. Wirklich? Hat man schon beschlossen, „den ganzen Laden dicht zu machen“?

Keine mit Zwangsgebühren finanzierte Wahlumfragen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen

Aus dem Gemischtwarenladen der sieben Umfrage-Institute kann sich jeder aussuchen, was ihm am besten in den Kram passt. Ob man will oder nicht, alle Umfragen beeinflussen die öffentliche Mei­nung. ZDF und ARD wären daher gut beraten, die Ergebnisse aller sieben führenden Umfrage-Insti­tute wie Nachrichten zu behandeln und vorzutragen, ohne sich die Prognosen eines bestimmten In­stituts zueigen zu machen. Kommentare ja, aber keine gebührenfinanzierte Prognosen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, mit denen sich die Anstalten ohne Rücksicht auf den Willen der Zuschauer identifizieren und die öffentliche Meinung beeinflussen. Mehr Nachrichten, auch mehr Kommentare zu allen Umfragen, die auf dem Markt sind. Aber keine Meinungsmache mit „hauseigenen“ Umfra­gen, so muss die Devise im öffentlich-rechtlichen Fernsehen gerade lauten. Keine Wahlprognosen.

Der Angeklagte hat das letzte Wort. Deshalb – mit der Bitte um ein ganz kurze Antwort – eine letzte Frage an die Wahlforscher aus allen sieben Instituten und an alle, die ihre Prognosen im Fernsehen und in den Zeitungen verbreiten, um damit die Politik zu beeinflussen: „Wie hoch wird 2017 das Stim­mensplitting sein? Und wie hoch war es 2013? Wie hoch war es denn 2009? Haben die damaligen Prognosen über das Stimmensplitting annähernd gestimmt? Oder hat es zum Stimmensplitting über­haupt keine Prognose gegeben?“ Last but not least: „Welche Folgen hat das Stimmensplitting für die Wahlprognosen?“ Denn es ist doch ein gewaltiger Unterschied, ob man mit der Erst- und der Zweit­stimme im Ergebnis zweimal für den gleichen Kandidaten stimmt, oder die Wähler beide Stimmen splitten, also von einander getrennt abgeben und im Ergebnis auch zweimal abstimmen, aber zwei verschiedene Bewerber auswählen. Ohne Splitting entsteht ein Mandat. Mit Splitting sind es zwei.


Der Autor lebt in München und hat als rechts- und wirtschaftswissenschaftlicher Publizist mehrere Bücher zum Wahlrecht veröffentlicht, (zuletzt: „BWahlG – Gegenkommentar“ www.wvberlin.de).  Vgl. zu seiner Person und zum Wahlrecht dessen Internetseite:  www.manfredhettlage.de .