Tichys Einblick
Nachrichten aus Schilda:

Die Iden des Merz

Friedrich Merz hat es unterlassen, als CDU-Vorsitzender eine inhaltliche, personelle und mediale Strategie zu erarbeiten. Nun ist er ein Vorsitzender auf Abruf. Es ist bitter: Merz verliert nicht, weil er etwas gewagt hatte – das nennt man scheitern. Nein, er verliert, weil er nichts gewagt hat. Und das ist erbärmlich.

Friedrich Merz, CDU-Grundsatzkonvent im Konrad-Adenauer-Haus, Berlin 16. Juni 2023

IMAGO / dts Nachrichtenagentur

Vielleicht ist die schlechteste Nachricht für die CDU die, dass sich viele, auch nicht wenige (Noch-) CDU-Mitglieder nicht mehr für die CDU interessieren. Man hat zunehmend das Gefühl, dass die CDU ihre Treffen in Schilda abhält, in der Hoffnung, dass der Glanz der großen Geschichte des Ortes auf sie abfärben möchte. Dieses laue Gefühl, dieses Desinteresse macht längst nicht bei den einfachen Mitgliedern halt, sondern hat, wenn man in die Partei hört und schaut, den einen oder anderen Funktionär bereits erreicht.

Das neueste Stück, das der Parteiapparat der CDU aufführt und mit dem er das Publikum wohl noch eine Weile zu langweilen gedenkt, so eine Art recycelte Schwarzwaldklinik für die mit vierzig bereits in die Jahre gekommenen Funktionäre, trägt den Titel: die Iden des Merz. Da man im Gegensatz zu den Grünen bei der CDU noch auf eine gewisse Bildung, die sich in Berufs- und Studienabschlüssen dokumentiert, hoffen darf, weiß dort jeder, dass in den Iden des März Cäsar, der sich zum Alleinherrscher aufschwingen wollte, im Senat von den Republikanern ermordet wurde.

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Allerdings war Cäsar ein durchaus tatkräftiger und kühner Politiker mit einer klaren Agenda, seine Feinde nicht minder. Doch da alle historischen Ereignisse bekanntlich zweimal stattfinden, das erste Mal als Tragödie, das zweite Mal als Farce, wie Karl Marx stilistisch brillant Hegel paraphrasierte, bietet sich dem gelangweilten Publikum die Farce des Putsches des Hendrik Wüst gegen Friedrich Merz auf der größten Bühne, die man in Schilda finden konnte.

Eher grün-empfindende CDU-Abgeordnete aus der Wüst-Truppe, unter anderem der erfolgreiche Wahlkämpfer und Merkel-Bewunderer Armin Laschet, Serap Güler und Hermann Gröhe – der einst in Siegerlaune ein Deutschlandfähnchen schwenkte, das ihm die gestrenge Verächterin der Farben der deutschen Republik, Angela Merkel, aus der Hand riss und entsorgte, und der sich von dieser Missetat anscheinend nicht mehr erholt hat – hatten angekündigt, sich bei dem Gesetz zur Förderung der verstärkten Einwanderung in die deutschen Sozialsysteme, Chancengleichheitsgesetz genannt, der Stimme zu enthalten. Eigentlich hätten sie lieber zugestimmt, hätten sich lieber zu denen gesellt, denen sie auch sonst geistig nahe sind.

Merz, mehr in Raserei als in gerechtem Zorn, schritt mit ausgestrecktem Zeigefinger im Plenarsaal auf Serap Güler und schrie sie an: „Was glauben Sie, wer sie sind?“ Instinktiv mag er richtig gelegen haben, in Güler die Initiatorin der Stimmenthaltung vermutet zu haben, doch diese Auseinandersetzung auf offener Bühne zu führen, ist nicht Politik, sondern Kasperletheater. Merzens Wutausbruch stärkte seinen Konkurrenten Wüst, der sich fintenreich gegen Merz in Stellung bringt. Allerdings sind Wüsts Manöver durchschaubar, auch weil er es bei der Schwäche des Parteivorsitzenden gar nicht nötig hat, subtilere Mittel anzuwenden.

Man erinnere sich: Einst hatte Angela Merkel den Sturz ihres Ziehvaters Helmut Kohl mit einem Namensartikel in der FAZ eingeleitet. Dieser Artikel war ein perfekter Schachzug – und er besaß ein beachtliches Niveau. Nachdem Merkel Kohl und Schäuble gestürzt hatte, trat sie an die Spitze und machte in 16 Jahren geduldiger Arbeit aus einer großen Partei einen Bettvorleger der Grünen.

CDU in der Krise
Friedrich Merz ist nur noch ein Watschenaugust
Die CDU hat kein Profil, kein intellektuelles Niveau mehr. Demzufolge genügte für Wüsts Artikel die Aneinanderreihung von Plattitüden und Phrasen. Dass sich in diesem Namensartikel, in dem Wüst seinem Idol Angela Merkel nacheifert, der NRW-Ministerpräsident auf Kohl und Merkel beruft, obwohl im historischen Vorbild Merkels Artikel dazu diente, Kohl zu stürzen, zeigt, dass der Inhalt völlig egal ist. Nach der Tragödie des Sturzes von Kohl nun die Farce des Sturzes von Merz in Schilda. Dass der Artikel am Vorabend des Grundsatzkonvents erschien und Merz aus dem Kalten traf, gehörte anscheinend zur Intrige, ohne die nicht einmal eine Farce auskommt.

Mit dieser Aktion hatte Wüst dem Parteivorsitzenden auf dem Grundsatzkonvent die Show gestohlen. Aber wer will schon einen Parteivorsitzenden einer einstmals sozialen, liberalen und konservativen Partei verteidigen, der sich von einem grünen Strategen erklären lässt, wer die CDU ist und wie sie sich aufzustellen hat, damit die Grünen bereit sind, mit ihr in eine Regierung zu gehen, kurz: sich dabei helfen zu lassen, um sich auch der Restbestände von Liberalität, Sozialität und Konservatismus so schnell als möglich zu entledigen.

Hendrik Wüst ist auch hier Friedrich Merz schon um eine Armeslänge voraus, denn er hat in NRW in reiner Lust am Totalitären, die er in der Zeit der Pandemie schon einmal gezeigt hat, Meldestellen eingerichtet, wo Bürger anonym zu Denunzianten werden dürfen und ihre Mitbürger nach Herzenslust für alles anschwärzen können, was ihnen als politisch unkorrekt vorkommt – auch wenn es sich weit unterhalb der „Strafbarkeitsgrenze“ befindet. Wie schön, NRW als ein Land von 1001 Big Brothers, ein ganzes System von einzigartigen Big Brothers, Big Brother als Schwarmintelligenz.
Die neuesten Umfragen und die Persönlichkeitswerte von Hendrik Wüst zeigen allerdings, dass man diesen Mangel an Liberalität und wirtschaftlichem Verstand in NRW auch nicht schätzt.

Hendrik Wüst signalisiert, dass er der Kanzlerkandidat der Union werden möchte. Friedrich Merz ist ein Vorsitzender auf Abruf, und daran ist Angela Merkel, aber in nicht unbeträchtlichem Maße Friedrich Merz selbst schuld. Merkels Zeit ist auch dank Merzens in der Union immer noch nicht Geschichte. Es sind die Wüsts und Günthers, die Laschets und Gülers, die das zerstörerische Erbe von Merkel weitertragen und so ganz nebenbei für die AfD einen exzellenten Wahlkampf hinlegen.

Kleiner Parteitag der CDU
Friedrich Merz im Schatten der AfD
Viele, die eine große Hoffnung mit der Wahl von Friedrich Merz verbunden hatten, hat der Sauerländer enttäuscht. Als Parteivorsitzender wurde er von Tag zu Tag sowohl äußerlich als auch intellektuell immer unschärfer, immer konturloser. Die Grünen – und die mit ihnen verbündeten Medien, also die meisten – fuhren eine einfache Strategie, der Merz nichts entgegenzusetzen hatte. Hatte er eine griffige Formulierung für ein Problem gefunden, beispielsweise das Wort von „den kleinen Paschas“, wurde die Wortwahl skandalisiert, um das Problem vom Tisch zu nehmen und ihn durch das Mediengetöse so zu verschrecken, dass er kleinlaut alles wieder zurücknahm. Man zwang ihn, sich ständig erklären zu müssen. Das wäre nicht passiert, wenn er eine realistische Medienstrategie gehabt hätte.

Dabei verlor er an Statur. Wofür Merz steht, weiß vermutlich nicht einmal mehr Friedrich Merz. Wozu die CDU existiert, welche Politik sie machen will, wessen Interessen – außer die der Grünen – sie verwirklichen will, vermag man auch nicht einmal ansatzweise nur zu ahnen. Merz hat es unterlassen, eine inhaltliche, personelle und mediale Strategie zu erarbeiten. Er hat es unterlassen, die wichtigen Posten in der Partei mit seinen Leuten zu besetzen bzw. vormalige Kontrahenten an sich zu binden, weil er selbst mit der Partei nichts anzufangen wusste und wohl auch nicht weiß.

Erfahrene Intellektuelle und Medienprofis hätten ihm zur Verfügung gestanden, wenn er nur gewollt, wenn er sich nur getraut hätte. Er hat sie alle düpiert. Möglichweise hätte er andere informelle Zentren bilden und andere Entscheidungswege ausprobieren müssen. Es ist bitter, Friedrich Merz verliert, nicht weil er etwas gewagt hatte – das nennt man scheitern. Aber was wäre das für ein Scheitern gewesen? Nein, Friedrich Merz verliert, weil er nichts gewagt hat. Und das ist erbärmlich. Sicher, noch ist die letzte Messe nicht gesungen, doch die Zeit arbeitet gegen Friedrich Merz, er ist jetzt der König Johann Ohneland der deutschen Politik.

Null Opposition
Die hilflose Merz-CDU traut sich nicht, der Ampel zu widersprechen
Karl Marx würde sagen, dass eine halbe Revolution eine ganze Konterrevolution hervorbringt. Man kann nicht einmal klagen, dass die Erneuerung der CDU nicht geglückt sei, denn sie ist nicht in Angriff genommen worden. So wird wohl auf das fahrige Interregnum von Friedrich Merz die Merkel-Restauration des Hendrik Wüst folgen. Statt konservativ modern zu werden, wird die CDU wohl altbacken grün. Wüst mag hoffen, mit der Bild-Zeitung im Fahrstuhl nach oben zu fahren. Das hoffte schon mal ein Herr Namens Christian Wulff. Nur besteht das Problem inzwischen darin, dass die Bild-Zeitung auch nicht mehr das ist, was sie einmal war – um im Bild zu bleiben: dass sie ihren Fahrstuhl selbst demoliert. Vielleicht hofft man dort, dass die Zeitung mit ein paar Abos aus der Staatskanzlei von NRW überleben wird, aber zwei schwächelnde Partner ergeben kein starkes Bündnis.

Viele im Parteiapparat dürften Hendrik Wüst unterstützen, weil sie sich mit ihm einen höheren Wahlsieg als mit Friedrich Merz erhoffen. Doch bis zur Wahl ist es noch sehr lang. Die Verhältnisse in NRW entwickeln sich nicht zu Wüsts Vorteil. Er hat es geschafft, dass in seinem Bundesland, einem westlichen Bundesland, die AfD bei 15 Prozent verortet wird, einen Zugewinn in der Umfrage von 6 Prozent erringen konnte.

Diejenigen in der CDU, denen die Partei am Herzen liegt, die es ernst damit meinen, den Wählerzuspruch der AfD zu halbieren, müssen erstens die Oppositionsrolle endlich annehmen, anstatt in der Hauptsache mit der Ampel zu stimmen. Zweitens haben sie sich wieder an ihre Wähler zu wenden, sich konservativer, statt grüner auszurichten. Eine CDU, die noch grüner wird, wird schneller zerfallen, als man es jetzt noch ahnt, denn die Mehrheit in Deutschland, die immer noch bürgerlich ist, verliert mit der CDU die Geduld.

Der Blick nach Europa lehrt: Die CDU wird liberal-konservativ sein oder sie wird nicht sein. Man hat es der CDU oft genug gesagt, doch handeln muss sie allein.