Tichys Einblick
Preisgabe der Neutralität

Wie sich der Staat der queeren Ideologie unterwirft

Familienministerin Lisa Paus fühlt sich offenbar einer "Pressure Group" verpflichtet: sie befördert den Transhype, torpediert Frauenrechte und hisst die "Progress-Pride-Flag" am Ministerium - ohne Genehmigung. Ein fatales Signal: der Staat schert sich nicht um die eigene Neutralität.

IMAGO / photothek

Das Bundesfamilienministerium zeigt Flagge: Zum CSD-Empfang im Rahmen des „Pride-Monats“, zu dem der Juni mittlerweile umgewidmet ist, hat Bundesfamilienministerin Lisa Paus höchstselbst nicht bloß die Regenbogenfahne, sondern gleich die „Progress Pride“-Flagge vor ihrem Ministerium gehisst. Diese „Weiterentwicklung“ des Regenbogens nimmt nicht nur die Farben der Transfahne auf, sondern will zusätzlich mit einem schwarzen und einem braunen Streifen schwarze und farbige („People of Color“) Queere gesondert repräsentieren, wie der Queer-Beauftragte der Bundesregierung, Sven Lehmann, erläutert.

Die Tendenz der queeren Bewegung, immer neue Kategorien zu erfinden, um Menschen feinsäuberlich in Schubladen einsortieren zu können, ist einigermaßen befremdlich. Die Prämisse „I am what I am“ scheint passé: Einst hatte man das Recht des Individuums proklamiert, sich den Normen der Gesellschaft nicht unterordnen zu müssen. Mittlerweile ist durch die Verquickung von sexueller Orientierung und Identitätspolitik an die Stelle der Gesellschaft eine Vielzahl eng definierter Kollektive getreten, denen sich das Individuum nun zuzuordnen hat: Man ist trans-, bi-, homo-, asexuell, nonbinär etc. Immer hermetischer werden die Identitätskonstruktionen, immer mehr Kürzel reihen sich an LGBT; immer mehr Farben tummeln sich auf der Pride-Fahne. Weite und Freiheit fühlen sich anders an. Dass nun auch noch Hautfarben geschlechtliche Kategorien begründen sollen, erscheint auf kuriose Weise anachronistisch.

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Die Zersplitterung in Interessengruppen zeigt sich nicht nur an der immer kleinteiligeren Regenbogenflagge, sondern auch in der Bewegung selbst, die sich auf Paraden geeint präsentiert, aber bereits in Fraktionen zerfällt. Die Transbewegung agiert auch gegenüber Verbündeten zunehmend intolerant: Insbesondere Homosexuelle, die darauf pochen, dass Männer- und Frauenkörper nicht frei austauschbar seien, und Feministinnen, die den Angriff auf Frauenrechte und Frauenräume nicht hinnehmen wollen, werden zuweilen scharf attackiert.

Das ficht die Bundesfamilienministerin nicht an: Sie unterstellt sich und ihr Ministerium der Progress-Pride-Flag, die ihrer Meinung nach „niemanden ausschließt.“ – außer eben jene, die der Transgenderlobby nicht das Wort reden. Für das Hissen der „traditionellen“ Regenbogenfahne vor Bundesgebäuden besteht eine Genehmigung – die nachträglich legitimiert, was durch ostentative Missachtung des Flaggenerlasses unerlaubter Usus war. Im entsprechenden Schreiben bemerkt Nancy Faeser: „Um die Akzeptanz staatlicher Symbole in der Bevölkerung zu erhalten, ist die Wahrung staatlicher Neutralität zwingend erforderlich. Deshalb wurde und wird bei Logo-Flaggen ohne gesamtstaatlichen bzw. bundesstaatlichen Bezug die Genehmigung zum Hissen an Dienstgebäuden des Bundes grundsätzlich nicht erteilt.“

Eine Zusicherung, die durch die darauf folgende Erlaubnis zunichte gemacht wird. Dass es offensichtlich genügt, Anordnungen konsequent zu ignorieren, um sie zu kippen, läuft Faesers Anspruch direkt zuwider. Es ist abzusehen, dass man auch in Sachen „Progress Pride“ Fakten schaffen wird: Paus wird ihr Ministerium so lange damit beflaggen lassen, bis die „Ausnahme“ nur noch festgestellt werden kann. Ein fatales Signal an die Bürger, denen vorgeführt wird, dass sich der Staat um die eigene Glaubwürdigkeit einen feuchten Kehricht schert.

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Abgesehen davon ist Pride, gleich ob „progressiv“ oder „klassisch“ als Identifikationssymbol für eine Ministerin für Familie, Frauen, Senioren und Jugend denkbar ungeeignet. Hier unterstützt eine Ministerin, die dem Wohl der Familien verpflichtet ist, eine Bewegung, die Leihmutterschaft propagieren muss, um die Illusion der Gleichheit gleichgeschlechtlicher Beziehungen gegenüber heterosexuellen Paaren zu perfektionieren. Eine Bewegung, die das Recht des Kindes auf leibliche Eltern hintanstellt. Lisa Paus macht sich gemein mit einer Ideologie, die die psychische und körperliche Integrität von Jugendlichen gefährdet, indem diese dazu angehalten werden, ihre geschlechtliche Identität nicht zu entdecken und annehmen zu lernen, sondern sie zu hinterfragen und „zu ändern“.

Der Transhype ist, wie man in Großbritannien und den USA beobachten kann, keine harmlose Spielerei mit Geschlechterstereotypen. Über die Sozialen Medien prasseln irreführende Narrative auf Jugendliche ein, die ihnen einreden, die Amputation gesunder Körperteile und chemische Kastration seien erstrebenswerte, der Selbstverwirklichung dienliche Maßnahmen. Dass die Opfer dieser Propaganda niemals ein erfülltes Sexualleben haben werden, ist vielen Menschen nicht bewusst und wird durch die oftmals explizit sexualisierte Selbstdarstellung der Protagonisten verschleiert. An dieser Stelle hätte eine Ministerin, die für die Jugend zuständig ist, nur eine Aufgabe: Aufklärung über die Gefahren dieses Hypes. Hier zeigt sich, wie fatal die leichtfertige Preisgabe der Neutralität ist. Man kann noch so leidenschaftlich für Vielfalt und Toleranz eintreten: Einer Bewegung, die diese Ziele nur auf Kosten von Kindern und Jugendlichen erreichen zu können meint, darf sich ein Staat nicht unterordnen.

Und schließlich haben gerade die Diskussionen um das geplante Selbstbestimmungsgesetz gezeigt, dass die Forderungen der Transbewegung feministische Anliegen und Frauenrechte torpedieren. Das gilt nicht nur für die Quote, die obsolet ist, wenn ein Mann sich nur zur Frau deklarieren muss, um einen für Frauen vorgesehenen Listenplatz einzunehmen, oder für biologische Männer im Frauensport. Das Motto des CSD-Empfangs des Bundesfamilienministeriums mutet an dieser Stelle schlicht zynisch an: „Sicher und Selbstbestimmt.“ Frauen werden durch die Transbewegung ausgerechnet der Räume beraubt, die ihnen vorbehalten sind und ihre Sicherheit garantieren. Skandalös, dass sich gegen diese Bestrebungen kein breiter Widerstand formiert.

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Dies zeigt, dass Paus als Ministerin für Frauen offensichtlich an anderer Stelle zu tun hätte, nämlich im Kampf für eine Gesellschaft, in der Frauen nicht umstandslos geopfert werden, wenn eine Ideologie Anspruch auf ihre Willfährigkeit erhebt. Die „Sicherheit“ wird von Frauen nicht nur in Frauengefängnissen und Frauenhäusern, sondern auch im Alltag, etwa beim Gang auf die öffentliche Toilette, zur Disposition gestellt, um die Forderungen einer verschwindend kleinen Minderheit zu befriedigen, die der Illusion aufsitzt, Gleichberechtigung bedeute Sonderrechte. Wessen Pflicht, wenn nicht die der Familienministerin, wäre es, solche aus dem Ruder laufenden Ansprüche zu kritisieren?

Die Aufgabe staatlicher Neutralität ist hier also besonders unangemessen. Die Ministerin für Familie, Frauen, Senioren und Jugend fühlt sich ganz offensichtlich drei von vier Gruppen, deren Wohlergehen ihr anvertraut ist, weniger verpflichtet als einer Pressure-Group. Diese setzt ihre gesellschaftliche Akzeptanz indes selbst aufs Spiel: Überzogene Forderungen und immer groteskere pornographische Selbstinszenierung strafen die Behauptung, „sexuelle Vielfalt“ gehöre in die Mitte der Gesellschaft, Lügen. Sowohl angesichts der wachsenden muslimischen Bevölkerung, für die nicht garantiert werden kann, dass sie queere Lebensstile so gleichmütig respektiert wie die Gesamtgesellschaft, als auch angesichts eines möglichen gesamtgesellschaftlichen Backlashs würde die Ministerin auch jenen queeren Menschen, die einfach nur in Ruhe leben wollen, einen Gefallen erweisen, wenn sie ein Mindestmaß an Distanz zur queeren Lobby wahren würde.

Noch schwerwiegender aber ist, dass hier dem Totalitarismus ohne Not Tür und Tor geöffnet wird. Ein Anhänger der Pride-Bewegung mag heute jubeln, weil sich der Staat seinen Forderungen unterwirft. Aber wem gelobt der Staat morgen Gefolgschaft? Welche Zwecke und welche Bewegungen werden morgen als heilig genug gelten, um vom Staat forciert zu werden? Wer gewährleistet Toleranz gegenüber Andersdenkenden, wenn sich der Staat mit einer Ideologie gemein macht, die Andersdenkende verfolgt, diffamiert, mundtot macht? Der zuverlässigste Garant für Toleranz und Freiheit ist ein Staat, der sich Ideologien so weit wie möglich verweigert. Gerade eine vielfach gespaltene Gesellschaft wie die unsere braucht zudem einen Staat, der Ausgleich und Diskurs ermöglicht, indem er einen stabilen, weltanschaulich neutralen Rahmen bietet.

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